Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.649/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_649/2014

Urteil vom 18. März 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Ursprung, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Séverine Zimmermann,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung, Assistenzbeitrag),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 11. Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1953, meldete sich am 10. Dezember 2003 wegen einer seit
etwa 22 Jahren bestehenden psychischen Behinderung (paranoide Schizophrenie)
bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Zürich sprach ihr bei einem Invaliditätsgrad von 100 % mit Wirkung ab 1.
September 2003 eine ganze Invalidenrente zu (Verfügung vom 23. Juni 2005).

Gestützt auf das Gesuch vom 31. Januar 2006 bezog die Versicherte zudem seit 1.
Februar 2005 eine Hilflosenentschädigung leichten Grades mit insbesondere
lebenspraktischer Begleitung (Verfügung vom 23. März 2006). Basierend auf den
Ergebnissen einer revisionsweisen Bedarfsabklärung im Rahmen der Anmeldung zum
Bezug eines Assistenzbeitrages sowie nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens hob die IV-Stelle mit zwei separaten Verfügungen vom 28.
November 2013 die Hilflosenentschädigung auf und verneinte einen Anspruch auf
einen Assistenzbeitrag.

B. 
A.________ liess gegen beide Verfügungen separat Beschwerde erheben. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vereinigte beide Verfahren. Mit
Entscheid vom 11. Juni 2014 hob es die Verfügung betreffend
Hilflosenentschädigung auf mit der Feststellung, dass die Versicherte weiterhin
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades hat (Dispositiv-Ziffer
1 Abs. 1); die Verfügung betreffend Assistenzbeitrag hob das Gericht ebenfalls
auf und wies die Sache diesbezüglich zur weiteren Abklärung und Neuverfügung an
die IV-Stelle zurück (Dispositiv-Ziffer 1 Abs. 2).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides und die Bestätigung
der beiden Verfügungen vom 28. November 2013, eventualiter die Rückweisung der
Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle. Zudem sei der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung zu erteilen.

Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst sowie um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersucht, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

D. 
Mit Verfügung vom 3. November 2014 wies das Bundesgericht das Gesuch um
aufschiebende Wirkung ab.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung auf Rüge hin
oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht,
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Als "offensichtlich
unrichtig" gelten die vorinstanzlichen Feststellungen, wenn sie willkürlich
erhoben worden sind (Art. 9 BV; BGE 140 III 115 E. 2 S. 117; allgemein zur
Willkür in der Rechtsanwendung BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f.; 138 I 49 E. 7.1
S. 51; 138 III 378 E. 6.1 S. 379 f.; insbesondere zu jener in der
Beweiswürdigung BGE 137 I 58 E. 4.1.2 S. 62; 135 III 127 E. 1.5 S. 129 f.;
Urteil 2C_1143/2013 vom 28. Juli 2014 E. 1.3.4).

2. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 138 V 318 E. 6 Ingress S. 320 mit Hinweis).

3. 
In Bezug auf den von der IV-Stelle mit separater Verfügung vom 28. November
2013 verneinten Anspruch auf einen Assistenzbeitrag hat das kantonale Gericht
die separat hiegegen erhobene vorinstanzliche Beschwerde gemäss Abs. 2 der
Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheides in dem Sinne gutgeheissen,
als es diese Verfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit
sie, nach erfolgten Abklärungen im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.

3.1. Gemäss Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das
Verfahren abschliessen. Ebenfalls zulässig ist nach Art. 91 Abs. 1 BGG die
Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren. Gegen einen sog. anderen
selbstständig eröffneten Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG ist die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten demgegenüber nur zulässig,
wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a
BGG), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid
herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein
weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Ist die Beschwerde nicht
zulässig oder wurde von ihr kein Gebrauch gemacht, bleibt ein Zwischenentscheid
im Rahmen einer Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, sofern er sich
auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG). Rückweisungsentscheide, mit
denen eine Sache wie im vorliegenden Fall (Dispositiv-Ziffer 1 Abs. 2 des
angefochtenen Entscheids) zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen wird, sind grundsätzlich Zwischenentscheide, die nur unter den
genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden können (BGE 138
I 143 E. 1.2 S. 148; 133 V 477 E. 4.2 und 5.1 S. 481 ff.; Urteil 8C_217/2014
vom 12. Mai 2014 E. 2).

3.2. Soweit das kantonale Gericht die Sache hinsichtlich des Anspruchs auf
einen Assistenzbeitrag zur weiteren Abklärung und Neuverfügung an die IV-Stelle
zurückgewiesen hat (vgl. Urteil 9C_218/2014 vom 7. November 2014 Sachverhalt
lit. B und E. 2.1), legt Letztere - für den Fall der Bestätigung des
vorinstanzlich festgestellten fortgesetzten Anspruchs auf eine
Hilflosenentschädigung leichten Grades (siehe sogleich E. 4) - vor
Bundesgericht mit keinem Wort dar (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) und ist nicht
ersichtlich, inwiefern die gegen die Rückweisung gerichtete Beschwerde
ausnahmsweise nach Art. 93 BGG zulässig sein sollte, weshalb insoweit auf die
Beschwerde nicht einzutreten ist (SVR 2012 AHV Nr. 15 S. 55, 9C_171/2012 E. 3.3
mit Hinweisen).

4. 
Nachfolgend bleibt zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Recht die von der IV-Stelle
am 28. November 2013 revisionsweise verfügte Einstellung der
Hilflosenentschädigung aufgehoben und statt dessen gemäss Abs. 1 der
Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheides einen fortgesetzten Anspruch
auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades festgestellt hat.

4.1. Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Hilflosigkeit
(Art. 9 ATSG; BGE 133 V 450 E. 2.2.1 S. 454) sowie den Anspruch auf
Hilflosenentschädigung und die für deren Höhe wesentliche Unterscheidung dreier
Hilflosigkeitsgrade (Art. 42 Abs. 1-3 IVG; Art. 37 IVV), insbesondere die
leichte Hilflosigkeit (Art. 37 Abs. 3 IVV; BGE 121 V 88 E. 3b S. 90),
zutreffend dargelegt. Gleiches gilt in Bezug auf die Ausführungen zum Begriff
und Inhalt der lebenspraktischen Begleitung (BGE 133 V 450 E. 6.2 S. 461 und E.
8.2.3 und E. 9 S. 465 f.) sowie zum Beweiswert eines Abklärungsberichts an Ort
und Stelle (Art. 69 Abs. 2 IVV; BGE 133 V 450 E. 11.1.1 S. 468). Darauf wird
verwiesen.

4.2. Vorweg beanstandet die Beschwerdeführerin eine Verletzung der
Begründungspflicht durch die Vorinstanz. Soweit diesbezüglich überhaupt eine
rechtsgenügliche Rüge zu erkennen ist, hat das kantonale Gericht die als
wesentlich und erstellt erachteten Tatsachen und die daraus gezogenen
rechtlichen Schlüsse nachvollziehbar dargelegt. Darin kann keine Verletzung der
aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV sowie Art. 61
lit. h ATSG und Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG abgeleiteten Prüfungs- und
Begründungspflicht (Urteil 5A_368/2007 vom 18. September 2007 E. 2; vgl. auch
BGE 135 V 353 E. 5.3 S. 357 ff.) oder des Grundsatzes der Waffengleichheit
(Art. 6 Ziff. 1 EMRK) erblickt werden (Urteil 9C_215/2010 vom 20. April 2010 E.
3). Entscheidend ist, dass es den Parteien möglich ist, das vorinstanzliche
Erkenntnis - unter Berücksichtigung der Kognition des Bundesgerichts ( HANSJÖRG
SEILER und andere, Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N. 9 f. zu Art. 112 BGG) -
sachgerecht anzufechten (BGE 134 I 83 E. 4.1 S. 88; 133 III 439 E. 3.3 S. 445;
124 V 180 E. 1a S. 181; Urteil 9C_648/2013 vom 17. Oktober 2014 E. 3.1). Dies
trifft hier zu.

4.3. Nach pflichtgemässer Würdigung der Aktenlage hat das kantonale Gericht -
ohne den ihm dabei zustehenden erheblichen Ermessensspielraum (BGE 120 Ia 31 E.
4b S. 40; Urteil 8C_701/2014 vom 4. März 2015 E. 1.2) zu verlassen - mit
nachvollziehbarer Begründung in tatsächlicher Hinsicht erkannt, dass
insbesondere unter Berücksichtigung der zeitnah am nächsten bei Erlass der
strittigen Verfügung vom 28. November 2013 vonseiten des behandelnden
Psychiaters Dr. med. B.________, ausgestellten Verordnung von zweimal 90
Minuten Psychospitex pro Woche auch im Verfügungszeitpunkt unverändert ein
Bedarf an lebenspraktischer Begleitung ausgewiesen und folglich nicht mit dem
erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf eine
anspruchserhebliche Verbesserung des Gesundheitszustandes zu schliessen war,
welche gegebenenfalls eine revisionsweise Aufhebung der Hilflosenentschädigung
hätte rechtfertigen können. Dies um so mehr, als die Beschwerdegegnerin infolge
der seit ihrem 28. Lebensjahr anhaltenden paranoiden Schizophrenie ab 1.
September 2003 bei einem unveränderten Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze
Invalidenrente bezieht und nach Aktenlage hinlänglich dokumentiert ist, dass
die gesundheitsbedingten Beeinträchtigungen im Jahresverlauf unterschiedlich
stark in Erscheinung treten. Dass das kantonale Gericht bei dieser
Beweiswürdigung den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig
festgestellt oder gar das Willkürverbot verletzt hätte, ist nicht ersichtlich
und wird von der IV-Stelle nicht in einer der qualifizierten Rügepflicht (Art.
106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254; 133 IV 286 E. 1.4 S. 287)
genügenden Weise dargelegt. Denn offensichtlich unrichtig ist eine
Sachverhaltsfeststellung nicht schon dann, wenn sich Zweifel anmelden, sondern
erst, wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist (BGE 132 I 42 E. 3.1
S. 44). Es liegt noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine
andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die
plausiblere erschiene (vgl. BGE 129 I 8 E. 2.1 S. 9; Urteil 9C_967/2008 vom 5.
Januar 2009 E. 5.1). Diese Grundsätze gelten auch in Bezug auf die konkrete
Beweiswürdigung (Urteile 9C_999/2010 vom 14. Februar 2011 E. 1 und 9C_735/2010
vom 21. Oktober 2010 E. 3; SVR 2012 BVG Nr. 11 S. 44, 9C_779/2010 E. 1.1.1).
Die Beschwerdeführerin vermag nicht in der geforderten Weise aufzuzeigen,
inwiefern die Vorinstanz bei Verneinung einer anspruchsrelevanten Veränderung
der tatsächlichen Verhältnisse Bundesrecht verletzt haben sollte. Folglich ist
nicht zu beanstanden, dass das kantonale Gericht mangels einer
rechtserheblichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse die Verfügung der
IV-Stelle vom 28. November 2013 betreffend Hilflosenentschädigung aufgehoben
und einen fortbestehenden Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten
Grades bestätigt hat.

4.4. Soweit die IV-Stelle schliesslich die fehlende Stimmigkeit des
angefochtenen Entscheides beanstandet, ist der vorinstanzliche Entscheid nur so
zu verstehen, dass es der Beschwerdeführerin selbstverständlich jederzeit
unbenommen bleibt, im Rahmen einer zukünftigen Prüfung der
Revisionsvoraussetzungen erneut abzuklären, ob eine anspruchserhebliche
Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist.

4.5. Nach dem Gesagten hat es beim angefochtenen Entscheid sein Bewenden.

5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Dem
Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der anwaltlich
vertretenen Beschwerdegegnerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch der Versicherten um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdegegnerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. März 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Ursprung

Der Gerichtsschreiber: Hochuli

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