Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.642/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_642/2014

Urteil vom 23. März 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
M.________,
vertreten durch Fürsprecher Michele Naef,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Rückerstattung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 2. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
Der 1965 geborene, zuletzt als Tiefbauarbeiter tätig gewesene M.________ bezog
gestützt auf die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 6. Juni 2001 ab 1. August
1997 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Invalidenrente (nebst
Zusatzrente für die Ehefrau und Kinderrenten) der Invalidenversicherung. Nach
Durchführung einer Observation stellte die IV-Stelle dem Versicherten mit
Vorbescheid vom 19. Januar 2012 in Aussicht, die Rente rückwirkend per 1.
September 2010 aufzuheben. Am 15. März 2012 verfügte die Verwaltung, die Rente
werde auf das Ende des der Verfügungszustellung folgenden Monats aufgehoben.
Der Versicherte erhob dagegen Beschwerde. In der Folge verfügte die IV-Stelle
am 2. Juli 2012 lite pendente, in Aufhebung der Verfügung vom 15. März 2012
werde die Rente per 1. September 2010 aufgehoben. Mit Entscheid vom 6. März
2013 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde ab. Es änderte
dabei die Verwaltungsverfügung vom 15. März 2012 dahin gehend ab, dass die
Rente per 31. August 2010 aufgehoben werde. Das wurde letztinstanzlich mit
Entscheid des Bundesgerichts 8C_309/2013 vom 19. August 2013 bestätigt.

Mit zwei Verfügungen vom 24. September 2013 verlangte die IV-Stelle von
M.________ die Rückerstattung demnach zu viel ausbezahlter Rentenleistungen von
Fr. 62'090.- für den Zeitraum von September 2010 bis Februar 2012 und von Fr.
6542.- für den Zeitraum von März bis April 2012.

B. 
Beschwerdeweise beantragte M.________, die Rückerstattungsverfügungen seien
aufzuheben und es sei festzustellen, dass kein Rückforderungsanspruch bestehe.
Das Verwaltungsgericht gewährte ihm die unentgeltliche Rechtspflege, trat auf
das Feststellungsbegehren nicht ein und wies die Beschwerde im Übrigen ab
(Entscheid vom 2. Juli 2014).

C. 
M.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, die Rückerstattungsverfügungen und der kantonale Entscheid vom
2. Juli 2014 seien infolge Verwirkung des Rückforderungsanspruchs aufzuheben.
Weiter ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das
letztinstanzliche Verfahren.
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wird nicht
durchgeführt.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280 mit Hinweisen).

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer die von der
Beschwerdegegnerin zurückverlangten Rentenleistungen zu Unrecht bezogen und
daher im Sinne von Art. 25 Abs. 1 ATSG - vorbehältlich eines Erlasses -
grundsätzlich zurückzuerstatten hat. Streitig und zu prüfen ist, ob die
Rückerstattungsforderung nach Art. 25 Abs. 2 ATSG verwirkt ist.

3. 
Gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG erlischt der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf
eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat,
spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der
einzelnen Leistung. Wird der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren
Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist
vorsieht, so ist diese Frist massgebend.

Bei den genannten Fristen handelt es sich um Verwirkungsfristen (BGE 138 V 74
E. 4.1 S. 77 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 139 V 6 E. 2 S. 7 mit Hinweis und
Urteil des Bundesgerichts 9C_369/2013 vom 2. September 2014 E. 2.1, zur
Publikation vorgesehen). Für ihre Wahrung ist der Erlass der
Rückerstattungsverfügung (und deren Zustellung an die rückerstattungspflichtige
Person) massgebend (BGE 138 V 74 E. 5.2 S. 80 mit Hinweisen).

3.1. Zur Diskussion steht hier die einjährige, relative Verwirkungsfrist und
hiebei die Frage, wann die IV-Stelle Kenntnis vom Rückforderungsanspruch
erhalten hat. Das kantonale Gericht ist zum Ergebnis gelangt, das sei mit dem
bundesgerichtlichen Urteil 8C_309/2013 vom 19. August 2013 erfolgt. Die
einjährige Frist sei demnach in diesem Zeitpunkt ausgelöst und mit den
Rückerstattungsverfügungen vom 24. September 2013 gewahrt worden. Damit
erübrigten sich Weiterungen bezüglich einer allfälligen längeren
strafrechtlichen Frist gemäss Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG. Der Beschwerdeführer
macht geltend, die IV-Stelle habe bereits bei Erlass des Vorbescheides vom 19.
Januar 2012, spätestens aber bei Erlass der rentenaufhebenden Verfügung vom 2.
Juli 2012 Kenntnis vom Rückforderungsanspruch gehabt. Letzterer sei daher im
Zeitpunkt der Rückerstattungsverfügungen vom 24. September 2013 verwirkt
gewesen.

3.2. Nach der Rechtsprechung ist unter der Wendung "nachdem die
Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat" (Art. 25 Abs. 2 ATSG) der
Zeitpunkt zu verstehen, in dem die Verwaltung bei Beachtung der ihr zumutbaren
Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine
Rückerstattung bestehen, oder mit andern Worten, in welchem sich der
Versicherungsträger hätte Rechenschaft geben müssen über Grundsatz, Ausmass und
Adressat des Rückforderungsanspruchs (BGE 139 V 6 E. 4.1 S. 8 mit Hinweisen,
erwähntes Urteil 9C_369/2013 E. 2.1; vgl. auch BGE 139 V 570 E. 3.1 S. 572).
Die Voraussetzungen für eine Rückforderung müssen demnach gegeben sein (vgl.
auch BGE 112 V 180 E. 4a S. 181; 111 V 14 S. E. 3 S. 17; SVR 2011 EL Nr. 7 S.
21, 9C_999/2009 E. 3.2.1; Urteil 9C_877/2010 vom 28. März 2011 E. 4.2.1). Der
Rückforderungsanspruch muss feststehen (BGE 139 V 570 E. 3.1 S. 572 in fine mit
Hinweisen). Das setzt u.a. voraus, dass über die Unrechtmässigkeit des
Leistungsbezugs rechtmässig verfügt resp. - im Beschwerdefall - gerichtlich
entschieden ist. Das Bundesgericht hat denn auch wiederholt entschieden, es sei
nicht bundesrechtswidrig, zuverlässige Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des
Leistungsbezugs erst nach Eintritt der Rechtskraft der Rentenaufhebung
anzunehmen (SVR 2014 IV Nr. 4 S. 8, 8C_316/2014 E. 2.2; Urteil 9C_68/2011 vom
16. Mai 2011 E. 4.2; vgl. auch SVR 2014 BVG Nr. 22 S. 79, 9C_399/2013 E. 3.1.1
- 3.1.3).

3.3. Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung genügte mithin der
Erlass von Vorbescheid und Verfügung über die rückwirkende Renteneinstellung
nicht zur Auslösung der einjährigen, relativen Verwirkungsfrist gemäss Art. 25
Abs. 2 ATSG. Was der Versicherte hiezu vorbringt, rechtfertigt keine andere
Betrachtungsweise. Das gilt namentlich auch für den Einwand, der
Rückerstattungsbetrag sei im Sinne des Urteils 8C_527/2010 vom 1. November 2010
einfach zu ermitteln gewesen. Erst recht kann die vorinstanzliche Beurteilung
nicht als willkürlich betrachtet werden. Der vorliegende Fall zeigt vielmehr
exemplarisch, dass die Rechtskraft der rentenaufhebenden Verfügung abzuwarten
ist, wurde doch die erste Verfügung auf Beschwerde hin zu Ungunsten des
Versicherten geändert. Es ist sodann nicht ersichtlich, weshalb sich das
kantonale Gericht eingehender mit dem Urteil 8C_527/2010 hätte
auseinandersetzen müssen. Die diesbezüglich erhobene Rüge einer Verletzung des
Anspruchs auf rechtliches Gehör ist daher ebenfalls unbegründet.

3.4. Erst mit dem bundesgerichtlichen Urteil 8C_309/2013 vom 19. August 2013
ist rechtskräftig entschieden worden, dass die fraglichen Rentenleistungen zu
Unrecht erfolgten. Die einjährige Frist gemäss Art. 25 Abs. 1 ATSG begann daher
erst in dem Zeitpunkt zu laufen, in welchem die IV-Stelle von diesem Urteil
Kenntnis erhielt oder bei der gebotenen Aufmerksamkeit hätte erhalten können.
Die Frist wurde mit den Rückforderungsverfügungen vom 24. September 2013
zweifelsfrei eingehalten. Der Einwand, der Rückerstattungsanspruch sei
verwirkt, ist daher unbegründet. Das führt diesbezüglich zur Abweisung der
Beschwerde.

4. 
Der Beschwerdeführer beanstandet sodann in eigenem Namen die Höhe der
Entschädigung, welche das kantonale Gericht seinem Rechtsvertreter im Rahmen
der unentgeltlichen Verbeiständung zugesprochen hat. Hiegegen kann indessen
rechtsprechungsgemäss nur der Rechtsvertreter selber Beschwerde führen. Die
rechtsvertretene Person ist dazu nicht legitimiert (SVR 2009 IV Nr. 48 S. 144,
9C_991/2008 E. 2.2.1 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil 9C_520/2013 vom 23.
Oktober 2013 E. 2 in fine, nicht publ. in: BGE 139 V 492, aber in: SVR 2014 EL
Nr. 3 S. 5). Auf die Beschwerde ist daher in diesem Punkt nicht einzutreten.

5. 
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der
vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist,
die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch
einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte
Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im
Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Fürsprecher Michele Naef wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. März 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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