Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.641/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_641/2014        
{T 0/2}

Urteil vom 27. Januar 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Verfahrensbeteiligte
Amt für Wirtschaft und Arbeit,
Rechtsdienst, Hochstrasse 37, 4053 Basel,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________,
vertreten durch Advokatin Ama Mülthaler,

Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung (Insolvenzentschädigung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Basel-Stadt vom 13. Mai 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1953 geborene A.________ arbeitete seit dem Jahre 1982 für die B.________
AG ab 1. Juni 2011 als Gerantin in einem Teilzeitpensum zu einem Bruttolohn von
Fr. 5'000.--. Nachdem ab September 2011 der Lohn zunächst gar nicht und später
nur noch teilweise und in kleinen Raten ausbezahlt wurde, liess A.________ sich
den Betrag der ausstehenden Zahlungen von der Arbeitgeberin regelmässig
unterschriftlich bestätigen. Am 27. Mai 2013 teilte die Arbeitgeberin ihren
Angestellten mit, dass sie Insolvenz angemeldet habe und das Arbeitsverhältnis
aufgelöst werde. Der Konkurs über die B.________ AG wurde am 24. Juni 2013
eröffnet und am 25. Juli 2013 mangels Aktiven wieder eingestellt.
Am 25. Juni 2013 stellte A.________ Antrag auf Insolvenzentschädigung in der
Höhe von Fr. 43'649.-- für unbezahlt gebliebenen Lohn und Ferienentschädigung.
Mit Verfügung vom 24. Juli 2013 lehnte die öffentliche Arbeitslosenkasse des
Kantons Basel-Stadt eine Leistungspflicht mit der Begründung ab, die
Versicherte sei ihrer Schadenminderungspflicht nicht in genügendem Masse
nachgekommen. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Entscheid vom 10.
Oktober 2013).

B. 
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt hiess die dagegen
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 13. Mai 2014 teilweise gut. Es
verpflichtete die Arbeitslosenkasse, eine Entschädigung auszurichten, die der
Höhe von vier im Jahre 2012 durchschnittlich ausbezahlten Löhnen entspricht und
wies die Sache zur genauen Berechnung des Anspruchs an die Kasse zurück.

C. 
Das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Basel-Stadt (AWA) führt
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts vom 13. Mai 2014 aufzuheben und
festzustellen, die Versicherte habe keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Staatssekretariat
für Wirtschaft (SECO) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2. 
Im angefochtenen Gerichtsentscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze zum
Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 und Art. 58 AVIG; vgl. auch
BGE 134 V 88), zum Umfang des Anspruchs (Art. 52 Abs. 1 AVIG) sowie zu den
Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1
AVIG; BGE 114 V 56 E. 3d S. 59; ARV 2002 Nr. 8 S. 62, C 91/01, und Nr. 30 S.
190, C 367/01; ARV 1999 Nr. 24 S. 140, C 183/97) zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

3. 

3.1. In tatsächlicher Hinsicht stellte die Vorinstanz fest, in den Monaten
September bis Dezember 2011 sei - mit Ausnahme einer Teilzahlung von Fr. 830.--
am 30. Dezember 2011 - kein Lohn ausbezahlt worden. Auch in den Jahren 2012 und
2013 seien nur teilweise und unregelmässig Lohnzahlungen geflossen, sodass der
Ausstand am 27. Mai 2013 Fr. 33'711.75 (netto) betragen habe. Die Richtigkeit
der jeweiligen Guthaben habe sich die Versicherte jeweils unterschriftlich
bestätigen lassen. Eine Betreibung gegen die Arbeitgeberin habe sie am 11. Juni
2013, also nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses eingeleitet. Das kantonale
Gericht folgerte daraus, die Beschwerdeführerin sei ihrer
Schadenminderungspflicht während des Bestehens des Arbeitsverhältnisses nur
ungenügend nachgekommen. Während eines solchen seien indessen nicht allzu hohe
Anforderungen an die Schadenminderungspflicht zu stellen. Die Versicherte sei
insgesamt über 30 Jahre bei der B.________ AG beschäftigt gewesen und damit
habe ein gewisses Vertrauensverhältnis bestanden. Es erscheine deshalb
nachvollziehbar, dass sie den Zusicherungen auf künftige Lohnzahlungen Glauben
schenkte. Die Vorinstanz kam zum Schluss, die Verletzung der
Schadenminderungspflicht wiege nicht derart schwer, dass sie mit einer
gänzlichen Leistungsverweigerung zu sanktionieren sei. Die
Insolvenzentschädigung sei vielmehr lediglich um den Betrag zu reduzieren, auf
welchen die Versicherte im Jahre 2012 monatlich durchschnittlich verzichtet
habe. In diesem Sinne hiess sie die Beschwerde teilweise gut.

3.2. Beschwerdeweise bringt das AWA vor, die Versicherte habe ihre Forderungen
nicht mit dem erforderlichen, der Situation angepassten Nachdruck geltend
gemacht. Erst nach der Kündigung des Arbeitsverhältnisses sei sie aktiv
geworden. Das kantonale Gericht habe zudem nicht beachtet, dass die Versicherte
vor ihrer Anstellung als Gerantin vom 30. Mai 2006 bis zum 12. Januar 2011 als
Revisionsstelle der B.________ AG im Handelsregister eingetragen gewesen sei.
Es sei daher davon auszugehen, dass sie Einblick in den Geschäftsgang der Firma
gehabt habe. Es gehe nicht an, wegen eines besonderen persönlichen
Verhältnisses zur Arbeitgeberin diese zu schonen, um die vertraglichen
Ansprüche später bei der Arbeitslosenversicherung geltend zu machen.

4. 

4.1. Machen Arbeitnehmende gegenüber dem Arbeitgeber oder der Arbeitgeberin
während längerer Zeit keine Anstalten, ihrer Lohnforderung mit hinreichender
Deutlichkeit Ausdruck zu verleihen, signalisieren sie mangelndes Interesse.
Dadurch verlieren sie auch gegenüber der Arbeitslosenversicherung ihre
Schutzbedürftigkeit und Schutzwürdigkeit. Die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1
AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles
unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren,
bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und Pfändungsverfahren. Sie
bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht, welche auch
dann Platz greift, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung
aufgelöst wird (BGE 114 V 56 E. 4 S. 60; ARV 1999 Nr. 24 S. 140). Eine
ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung der
Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen
Rechtsprechung (E. 2 hiervor) setzt voraus, dass der versicherten Person ein
schweres Verschulden, also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder
Unterlassen vorgeworfen werden kann. Dem Erfordernis der Verhältnismässigkeit
ist mit dem Ausmass der von den Arbeitnehmenden zu erwartenden Vorkehrungen
Rechnung zu tragen (SVR 2014 AlV Nr. 4 S. 9 E. 4.1 [8C_66/2013]). Nach
ständiger Rechtsprechung wird eine konsequente und kontinuierliche
Weiterverfolgung der eingeleiteten Schritte gefordert, welche in einem der vom
Gesetz geforderten zwangsvollstreckungsrechtlichen Stadien münden müssen, damit
Anspruch auf Insolvenzentschädigung besteht. Arbeitnehmende sollen sich
gegenüber dem Arbeitgeber nämlich so verhalten, als ob es das Institut der
Insolvenzentschädigung gar nicht gäbe. Dieses Erfordernis lässt ein längeres
Untätigsein nicht zu (SVR 2014 AlV Nr. 4 S. 9 E. 4.2 [8C_66/2013]).

4.2. Die Versicherte argumentiert, das AWA sei seiner Begründungspflicht gemäss
Art. 95 BGG nicht in genügendem Masse nachgekommen, da in der Beschwerde keine
Verletzung von Bundesrecht gerügt werde.
Obwohl eine deutlichere Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Entscheid
angezeigt gewesen wäre, ist den beschwerdeführerischen Vorbringen insgesamt
doch eindeutig genug zu entnehmen, inwiefern das AWA das Recht als verletzt
erachtet. Die materiellen Vorbringen sind demnach zu prüfen.

4.3. Wie in der Beschwerde richtig vorgebracht wird, liegen überhaupt keine
Sachverhaltselemente vor, die darauf hindeuten würden, dass die Versicherte vor
Beendigung des Arbeitsverhältnisses etwas unternommen hätte, um zu ihrem Lohn
zu kommen. Nach konstanter Rechtsprechung - auf welche auch im angefochtenen
Entscheid verwiesen wird - genügt es für die Erfüllung der
Schadenminderungspflicht in der Regel nicht, wenn Lohnausstände lediglich
mündlich gemahnt werden. Die unterschriftliche Bestätigung der offenen
Lohnforderungen kann entgegen der Darstellung der Beschwerdegegnerin qualitativ
nicht mit einer schriftlichen Mahnung gleichgesetzt werden. Insbesondere
beinhaltet die blosse schriftliche Schuldanerkennung keine nachdrückliche
Aufforderung, die Ausstände zeitnah zu begleichen. Vielmehr wird mit der
Schuldanerkennung seitens der Gläubigerin Geduld signalisiert. Zu beachten gilt
auch die lange Dauer der ausgebliebenen oder nur sporadisch und in kleinen
Raten erfolgten Lohnzahlungen und die - auch gemessen am Betrag des monatlichen
Nettolohnes von Fr. 4'382.-- - hohen Schulden von Fr. 33'711.--. Bereits drei
Monate nach Beginn des Arbeitsverhältnisses als Gerantin wurde der Versicherten
vorerst überhaupt kein Lohn mehr ausbezahlt. Die Schulden häuften sich in der
Folge weiter an. Trotz Teilzahlungen im Verlaufe der nächsten eineinhalb Jahren
wuchs der Ausstand an. Trotzdem blieb die Versicherte untätig. Die Einschätzung
des nur ungenügenden Handelns seitens der Beschwerdegegnerin wird denn auch vom
kantonalen Gericht geteilt, hält dieses doch in tatsächlicher Hinsicht fest,
diese sei während des Bestehens des Arbeitsverhältnisses ihrer
Schadenminderungspflicht nur ungenügend nachgekommen. Indem die Vorinstanz
trotz dieser Feststellung folgerte, eine - reduzierte - Insolvenzentschädigung
sei auszurichten, hat sie Bundesrecht verletzt. Entgegen dem angefochtenen
Entscheid gibt es rechtlich keine Möglichkeit, eine "reduzierte
Insolvenzentschädigung" zuzusprechen, "weil die Verletzung der
Schadenminderungspflicht jedenfalls nicht so schwer wiegt, dass sie mit einer
gänzlichen Leistungsverweigerung zu sanktionieren wäre". Entweder wurde die
Schadenminderungspflicht in einem bestimmten Zeitraum in schwerem Masse
verletzt, womit eine versicherte Person keinen Leistungsanspruch hat, oder eine
eventuelle Pflichtverletzung ist als weniger schwer einzustufen, sodass von
einer Sanktion abzusehen ist. Ausser dem langandauernden Arbeitsverhältnis und
dem fortgeschrittenen Alter der Versicherten hat das kantonale Gericht keine
weiteren Umstände genannt, welche das Verhalten der Beschwerdegegnerin
einsichtig und nachvollziehbar erscheinen liessen, weshalb der angefochtene
Entscheid in Gutheissung der Beschwerde aufgehoben und der Anspruch der
Versicherten auf Insolvenzentschädigung wegen Verletzung der
Schadenminderungspflicht vor der Konkurseröffnung zu verneinen ist.

5. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die unterliegende Beschwerdegegnerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG)

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Basel-Stadt vom 13. Mai 2014 wird aufgehoben und der
Einspracheentscheid des Amtes für Wirtschaft und Arbeit vom 10. Oktober 2013
bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Basel-Stadt, dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und der Öffentlichen
Arbeitslosenkasse Basel-Stadt schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 27. Januar 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer

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