Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.640/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_640/2014

Urteil vom 19. Dezember 2014

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichter Maillard,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
Dienststelle Wirtschaft und Arbeit (wira), Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern
, Bürgenstrasse 12, 6005 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Jörg Zurkirchen,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des
Kantonsgerichts Luzern vom 30. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
Der 1971 geborene und zuletzt als Lüftungsmonteur tätig gewesene A.________
meldete sich am 21. Oktober 2009 zur Arbeitsvermittlung an und erhob ab 1.
November 2009 Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Die Dienststelle
Wirtschaft und Arbeit (wira) des Kantons Luzern hielt am 17. Februar 2011
verfügungsweise fest, gestützt auf ein Arztzeugnis des Dr. med. B.________, FMH
für Psychiatrie und Psychotherapie, ärztlicher Leiter des Psychiatrieteams, vom
24. November 2010, gemäss welchem der Versicherte vom 1. Juni bis 30. September
2010 und ab 1. November 2010 in seiner angestammten Tätigkeit als
Lüftungsmonteur vollständig arbeitsunfähig sei, ihm aber die Ausübung einer
leichten, angepassten Arbeit in einem 100%igen Pensum möglich wäre, sei
A.________ in der angegebenen Zeitspanne in objektiver Hinsicht
vermittlungsfähig. Da es aber an der subjektiven Vermittlungsfähigkeit mangle,
bestehe ab 1. Juni 2010 kein Entschädigungsanspruch. In teilweiser Gutheissung
der hiegegen erhobenen Einsprache verneinte die wira die Vermittlungsfähigkeit
ab 1. Juni bis 23. November 2010 und bejahte diese ab 24. November 2010 bis zu
seiner Abmeldung am 30. April 2011, weil er ab diesem Zeitpunkt wieder in der
Lage und bereit gewesen sei, einer leichten Tätigkeit nachzugehen
(Einspracheentscheid vom 12. Mai 2011). Die dagegen eingereichte Beschwerde
wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (heute Kantonsgericht) mit
Entscheid vom 7. Dezember 2011 ab. Mit Urteil 8C_99/2012 vom 2. April 2012
bestätigte das Bundesgericht die Ablehnung des Anspruchs auf
Arbeitslosentaggelder ab 1. Juni bis 23. November 2010 aufgrund fehlender
Vermittlungsfähigkeit.
Die Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern forderte daraufhin zu viel bezogene
Arbeitslosentaggelder für den Monat Juni 2010 in der Höhe von Fr. 5'515.30
zurück, woran sie auf Einsprache hin festhielt (Einspracheentscheid vom 22.
November 2013).

B. 
Die dagegen geführte Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern gut und hob den
Einspracheentscheid vom 22. November 2013 auf (Entscheid vom 30. Juli 2014;).

C. 
Die Arbeitslosenkasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids
sei der Rückforderungsanspruch im Umfang von Fr. 5'515.30 zu bejahen.
Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, hat das
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.

2.1. Nach Art. 95 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 ATSG sind
unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Zu Unrecht bezogene
Geldleistungen, die auf einer formell rechtskräftigen Verfügung beruhen,
können, unabhängig davon, ob die zur Rückforderung Anlass gebenden Leistungen
förmlich oder formlos verfügt worden sind, nur zurückgefordert werden, wenn
entweder die für die Wiedererwägung (wegen zweifelloser Unrichtigkeit und
erheblicher Bedeutung der Berichtigung) oder die für die prozessuale Revision
(wegen vorbestandener neuer Tatsachen oder Beweismittel) bestehenden
Voraussetzungen erfüllt sind (BGE 130 V 318 E. 5.2 in fine S. 320; 129 V 110 E.
1.1).

2.2. Laut Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG verwirkt der Rückforderungsanspruch
mit dem Ablauf eines Jahres, "nachdem die Versicherungseinrichtung davon
Kenntnis erhalten hat". Unter dieser Wendung ist der Zeitpunkt zu verstehen, in
welchem die Verwaltung bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte
erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen (SVR
2011 BVG Nr. 25 S. 93, 9C_611/2010 E. 3; vgl. BGE 124 V 380 E. 1 S. 382; 122 V
270 E. 5a S. 274; je mit Hinweisen). Ist für die Leistungsfestsetzung (oder die
Rückforderung) das Zusammenwirken mehrerer mit der Durchführung der
Versicherung betrauter Behörden notwendig, genügt es für den Beginn des
Fristenlaufs, dass die nach der Rechtsprechung erforderliche Kenntnis bei einer
der zuständigen Verwaltungsstellen vorhanden ist (BGE 119 V 431 E. 3a S. 433;
112 V 180 E. 4c S. 182; ZAK 1989 S. 558, H 212/88 E. 4b in fine; Urteile 9C_534
/2009 vom 4. Februar 2010 E. 3.2.2 und 9C_1057/2008 vom 4. Mai 2009 E. 4.1.2).

3. 
Fest steht, dass der Beschwerdegegner Arbeitslosenentschädigung in der Höhe von
Fr. 5'515.30 zweifellos zu Unrecht bezogen hat und der Rückforderungsbetrag von
erheblicher Bedeutung ist (BGE 129 V 110 E. 1.1; ARV 2000 Nr. 40 S. 208 E. 3b;
Urteil 8C_214/2009 vom 1. Oktober 2009 E. 7). Gestützt auf Art. 95 Abs. 1 AVIG
in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 ATSG ist der Betrag daher grundsätzlich
zurückzuerstatten, sofern der Rückforderungsanspruch nicht verwirkt ist.

3.1. Das kantonale Gericht gelangte hinsichtlich des Beginns des einjährigen
Fristenlaufs zum Schluss, die Arbeitslosenkasse habe spätestens im Zeitpunkt
des Einspracheentscheids vom 12. Mai 2011 des Stabs Recht der wira, mit welchem
über die anspruchsrelevante Vermittlungsfähigkeit des Versicherten entschieden
worden sei, über sämtliche notwendigen Unterlagen zum Erkennen der
Unrechtmässigkeit der Leistungserbringung verfügt. Deshalb habe ab diesem
Zeitpunkt die relative einjährige Verwirkungsfrist zu laufen begonnen. Der erst
mit Verfügung vom 7. November 2012 geltend gemachte Anspruch auf Rückforderung
sei daher verwirkt.

3.2. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, massgebend sei nicht der
Erlasszeitpunkt des Einspracheentscheids über die Vermittlungsfähigkeit vom 12.
Mai 2011, sondern derjenige Zeitpunkt, in dem rechtskräftig über die Frage der
Vermittlungsfähigkeit entschieden worden sei, was erst mit dem
bundesgerichtlichen Urteil 8C_99/2012 vom 2. April 2012 erfolgt sei. Erst zu
diesem Zeitpunkt habe die Kasse definitiv Kenntnis vom
rückforderungsbegründenden Sachverhalt erhalten. Würde die Verwirkungsfrist im
Sinne der Vorinstanz zu laufen beginnen, müsste die Arbeitslosenkasse, obwohl
für den Entscheid über die Vermittlungsfähigkeit nicht die Arbeitslosenkasse,
sondern die kantonale Amtsstelle zuständig sei, vorfrageweise über die
Vermittlungsfähigkeit entscheiden, um daraus einen Rückforderungsanspruch
abzuleiten, obwohl zur Frage der Vermittlungsfähigkeit noch ein
Gerichtsverfahren hängig sei, was nicht angehe. Gerade vorliegend sei unklar
gewesen, ob das kantonale Gericht (und später das Bundesgericht) der Auffassung
über die subjektive Vermittlungsfähigkeit der kantonalen Amtsstelle folgen
würde. Müsste - trotz umstrittener Rechtsgrundlage für die Rückforderung - zur
Fristwahrung vorsorglich zurückgefordert werden, führte dies für die
Verfahrensbeteiligten zu einem unnötigen Mehraufwand.

3.3. Entscheidend für den Lauf der einjährigen Verwirkungsfrist sind stets die
jeweiligen Umstände im Einzelfall: Vorliegend ergibt sich aus dem
Einspracheentscheid des Stabs Recht der wira vom 12. Mai 2011 nicht hinreichend
klar, dass ein Arbeitslosenentschädigungsanspruch verneinender Umstand
vorliegt. Wie die Beschwerdeführerin zutreffend einwendet, war sie vor
Abschluss des rechtskräftigen Gerichtsverfahrens über den Anspruch auf
Taggelder der Arbeitslosenversicherung nicht in der Lage, die erforderliche
Kenntnis über den rückforderungsbegründenden Sachverhalt zu erlangen, da die in
Frage gestandene subjektive Vermittlungsfähigkeit des Versicherten noch einer
gerichtlichen Beurteilung unterlag. Vor Abschluss des letztinstanzlichen
Prozesses war nicht hinreichend klar, ob ein Rückforderungstatbestand vorliegt
oder nicht. Im vorinstanzlich erwähnten Urteil 8C_719/2009 vom 10. Februar 2010
ergab sich dementgegen der zur Unrechtmässigkeit der Leistungsausrichtung an
den Versicherten führende Sachverhalt ohne Weiteres aus dem Handelsregister,
weshalb die den Entschädigungsanspruch ausschliessende Eigenschaft des
Versicherten bereits durch den entsprechenden Handelsregistereintrag feststand
und für den Beginn der einjährigen Verwirkungsfrist nicht mehr entscheidend
sein konnte, ob über den rückwirkenden Leistungsanspruch gerichtlich gestritten
wurde. In jenem Fall begann die einjährige relative Verwirkungsfrist für die
Rückforderung aufgrund des als bekannt vorausgesetzten Handelsregistereintrags
zu laufen. Im Gegensatz dazu stand hier die fehlende Anspruchsvoraussetzung der
Vermittlungsfähigkeit nicht eindeutig fest. Hinreichend sichere Kenntnis über
die fehlende Vermittlungsbereitschaft und damit über den Rechtsgrund der
Rückerstattung erlangte die Arbeitslosenkasse erst, als die
anspruchsverneinende subjektive Vermittlungsunfähigkeit feststand. Bis zum
Abschluss des bundesgerichtlichen Verfahrens blieb der
Arbeitslosenentschädigungsanspruch grundsätzlich und auch in masslicher
Hinsicht in der Schwebe. Steht somit der Rückerstattungsanspruch der
Arbeitslosenkasse erst nach rechtskräftiger Beurteilung der Anspruchsfrage
hinreichend klar fest, kommt dem Urteil 8C_99/2012 vom 2. April 2012
fristauslösende Wirkung zu (Urteil C 54/06 vom 12. September 2006 E. 4.2; vgl.
auch BGE 139 V 106 E. 7.2.2 und Urteil 8C_316/2014 vom 26. August 2014 E. 2),
weshalb die Arbeitslosenkasse die Rückforderung rechtzeitig geltend machte. Die
Beschwerde ist begründet.

4. 
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom
30. Juli 2014 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Dienststelle
Wirtschaft und Arbeit (wira), Arbeitslosenkasse des Kantons Luzern, vom 22.
November 2013 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, dem
Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und der Dienststelle Wirtschaft und
Arbeit (wira) schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. Dezember 2014

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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