Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.608/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_608/2014

Urteil vom 14. Januar 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Federspiel,
Beschwerdeführer,

gegen

Basler Versicherung AG,
Aeschengraben 21, 4051 Basel,
vertreten durch Rechtsanwalt Oskar Müller,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 30. Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 
Der 1978 geborene A.________ war seit September 2006 Chauffeur bei der
B.________ AG und damit bei der Basler Versicherung AG (nachfolgend Basler)
obligatorisch unfallversichert. Am 12. April 2010 wurde er bei einer tätlichen
Auseinandersetzung durch einen Pistolenschuss am Hals verletzt. Im Spital
C.________ wurde eine Schussverletzung am Hals rechts mit Weichteilemphysem
rechts diagnostiziert, wobei ein Steckschuss dorsalseitig in Höhe der Akromions
bestand. Am 14. April 2010 wurde der Versicherte in diesem Spital operiert
(Entfernung des Projektils, Débridement Schusskanal, Primärverschluss). Die
Basler kam für die Heilbehandlung und das Taggeld auf. Vom 21. September 2010
bis 30. November 2010 wurde der Versicherte in ihrem Auftrag observiert. Weiter
holte die Basler eine Aktenstellungnahme des Dr. med. D.________, Facharzt
Innere Medizin, vom 28. November 2011 ein. Mit Verfügung vom 4. April 2012
stellte die Basler die Heilbehandlung für die somatischen Beschwerden ab 1.
Oktober 2010 und für die psychischen Beschwerden ab 1. Januar 2011 ein; ab 1.
Januar 2011 verneinte sie den Taggeldanspruch. Die Einsprache des Versicherten
wies sie mit Entscheid vom 5. März 2013 ab.

B. 
Die dagegen geführte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 30. Juni 2014 ab.

C. 
Mit Beschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des kantonalen
Entscheides sei die Basler zu verpflichten, ihm aufgrund des Ereignisses vom
12. April 2010 weiterhin Versicherungsleistungen auszurichten, nämlich für die
(andauernden) psychischen Beschwerden, insbesondere auch ab 1. Januar 2011;
eventuell seien weitere Beweise zu erheben; für das bundesgerichtliche
Verfahren sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Die Basler schliesst auf Beschwerdeabweisung. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E.
2.2.1 S. 389).
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Der Versicherte legt ein das Ereignis vom 12. April 2010 betreffendes
Strafurteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 13. August 2014 auf; die
Basler reicht einen dieses Ereignis betreffenden Zeitungsbericht vom 14.
Oktober 2014 ein. Hierbei handelt es sich angesichts des angefochtenen
Entscheides vom 30. Juni 2014 um unzulässige und damit nicht zu
berücksichtigende echte Noven (BGE 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123).

3. 
Die Vorinstanz hat die Grundlagen über den für die Leistungspflicht des
obligatorischen Unfallversicherers (Art. 6 Abs. 1 UVG) erforderlichen
natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem Gesundheitsschaden (
BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 111, 115 V 133), den Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218 E. 6 S. 221) und den Beweiswert von
Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232, BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; zum
Beweiswert von Berichten versicherungsinterner Arztpersonen vgl. BGE 139 V 225
E. 5.2 S. 229) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4. 
Streitig und zu prüfen ist einzig die psychische Problematik. Die Vorinstanz
erwog diesbezüglich im Wesentlichen, der behandelnde Psychiater Dr. med.
E.________ habe beim Versicherten in den Fragebögen vom 7. September 2010 und
Ende März 2011 Angst und depressive Reaktion (ICD-10 F43.22) diagnostiziert.
Eine solche Diagnose stehe der Ausübung einer Erwerbstätigkeit kaum je - und
gemäss Dr. med. E.________ auch vorliegend - nicht massgeblich entgegen.
Schliesslich habe er am 7. September 2010 erklärt, dass er mit dem
Behandlungsabschluss ca. Ende 2010 rechne. Dr. med. D.________ habe in der
Aktenstellungnahme vom 28. November 2011 ausgeführt, im Vordergrund stehe eine
Anpassungsstörung, deren Dauer nach Einschätzung des Dr. med. E.________
limitiert sei; dieser habe keine Arbeitsunfähigkeit bestätigt, sondern betont,
dass der Versicherte möglichst rasch zu integrieren sei; weiter sei darauf
hinzuweisen, dass die familiären Auseinandersetzungen sowie die unsichere
berufliche Situation bei Migrationshintergrund ohne Lehrabschluss für den
Versicherten eine erhebliche psychosoziale Belastung darstellten.

5.

5.1. Dr. med. D.________ erstattete seine Aktenbeurteilung vom 28. November
2011 unter Mitberücksichtigung des Ergebnisses der vom 21. September 2010 bis
30. November 2010 durchgeführten Observation des Versicherten. Hierzu ist
festzuhalten, dass das Ergebnis einer zulässigen Observation zusammen mit einer
ärztlichen Aktenbeurteilung grundsätzlich geeignet sein kann, eine genügende
Basis für Sachverhaltsfeststellungen betreffend den Gesundheitszustand und die
Arbeitsfähigkeit der versicherten Person zu bilden (BGE 140 V 70 E. 6.2.2 S.
76). Da indessen eine psychische Problematik des Beschwerdeführers in Frage
steht, drängt sich eine psychiatrische Beurteilung auf. Dr. med. D.________
fehlt diesbezüglich die Fachkompetenz.

5.2. Auf die Berichte des behandelnden Psychiaters Dr. med. E.________ vom 7.
September 2010 und März 2011 kann ebenfalls nicht ohne Weiteres abgestellt
werden. Obwohl er im erstgenannten Bericht noch ausführte, ca. Ende 2010 könne
mit einem Abschluss gerechnet werden, war der Versicherte gemäss dem
zweitgenannten Bericht bis 24. März 2011 - mithin im Zeitpunkt des
Fallabschlusses ab 1. Januar 2011 - weiterhin in seiner Behandlung. In diesem
Bericht vom März 2011 legte Dr. med. E.________ zwar dar, er habe den
Versicherten nie krank geschrieben; indessen erachtete er gleichzeitig eine
multidisziplinäre - mithin auch psychiatrische - Begutachtung als
empfehlenswert. Hinzu kommt, dass Dr. med. E.________ die
Observationsunterlagen nicht zur Verfügung standen.

5.3. Der Versicherte legt neu ein für die IV-Stelle des Kantons Zürich
erstelltes Gutachten des psychiatrischen Facharztes FMH F.________ vom 22.
April 2013 auf, der eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1;
Status nach Schussverletzung Hals rechts am 12. April 2010) diagnostizierte und
eine Arbeitsfähigkeit unter Bedingungen der freien Wirtschaft verneinte, wobei
das Krankheitsgeschehen grundsätzlich behandelbar und vollständig besserbar
sei. Ob dieses neue Beweismittel im Lichte von Art. 99 Abs. 1 BGG zulässig ist,
kann offen bleiben. Denn dieses Gutachten wurde nicht in Kenntnis der
Observationsunterlagen erstellt, weshalb ohnehin eine erneute psychiatrische
Begutachtung erforderlich ist.

6. 
Ob und bejahendenfalls in welchem Ausmass der Versicherte bei Fallabschluss ab
1. Januar 2011 tatsächlich an auf das Ereignis vom 12. April 2010 natürlich
kausal zurückzuführenden psychischen Beschwerden litt, hat die Basler nach dem
Gesagten durch eine versicherungsexterne psychiatrische Begutachtung klären zu
lassen. Danach hat sie über seinen Leistungsanspruch neu zu verfügen.

7.
Soweit der Versicherte die Frage der adäquaten Unfallkausalität der psychischen
Beschwerden aufwirft, ist dies verfrüht, da noch gar nicht feststeht, ob er an
solchen Beschwerden leidet. Im Übrigen hat die Vorinstanz zur Adäquanz nicht
Stellung genommen.

8.
Die Basler macht geltend, aufgrund des aggressiven und bedrohenden Verhaltens
des Versicherten liesse sich auch eine Leistungsverweigerung begründen. Sie
beruft sich damit sinngemäss auf Art. 49 Abs. 2 lit. a oder b UVV, bei welchen
Tatbeständen die Geldleistungen für Nichtberufsunfälle mindestens um die Hälfte
gekürzt werden. Über diesen Punkt hat die Basler indessen bisher nicht verfügt,
weshalb darüber nicht zu befinden ist (vgl. BGE 131 V 164 E. 2.1).

9. 
Die unterliegende Basler trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68
Abs. 2 BGG; BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Das Gesuch des Versicherten um
unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Juni 2014 und der
Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin vom 5. März 2013 werden aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Januar 2015
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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