Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.605/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_605/2014        
{T 0/2}

Urteil vom 6. Februar 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichter Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Hochuli.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Max B. Berger,
Beschwerdeführer,

gegen

Visana Versicherungen AG,
Weltpoststrasse 19, 3015 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Leistungsverweigerung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 30. Juni 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1980, arbeitete seit Mai 2005 als Polizist mit 100%-Pensum
bei der Kantonspolizei X.________ (Arbeitgeberin) und war in dieser Eigenschaft
bei der Visana Versicherungen AG (nachfolgend: Visana oder Beschwerdegegnerin)
gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Nachdem der
Versicherte letztmals am 15. April 2011 im Arbeitseinsatz stand, meldete die
Arbeitgeberin der Visana mit Unfallmeldung UVG vom 20. Juli 2011, A.________
sei am 1. Juli 2011 in Balochistan (Pakistan) entführt worden. Mit Verfügung
vom 27. August 2012, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 16. November 2012,
verneinte die Visana im Zusammenhang mit dem Ereignis vom 1. Juli 2011 einen
Anspruch auf Geldleistungen nach UVG (Taggeld, Invalidenrente,
Integritätsentschädigung, Hilflosenentschädigung) für die geltend gemachten
psychischen Beschwerden (posttraumatische Störung und Erkrankung), weil das
Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) seit 2008 von
touristischen und anderen nicht notwendigen Reisen nach Pakistan infolge eines
erhöhten Entführungsrisikos und der Gefahr von bewaffneten Überfällen abgeraten
habe und die Entführung daher Folge eines absoluten Wagnisses im Sinne eines
besonders schweren Falles sei.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde des A.________ wies das Versicherungsgericht
des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 30. Juni 2014 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ unter
Aufhebung des angefochtenen Gerichts- und des Einspracheentscheides die
Zusprechung der ungekürzten - eventualiter angemessen gekürzten -
Geldleistungen nach UVG, namentlich die Zahlung von Taggeldern ab Beginn seiner
Arbeitsunfähigkeit beantragen.

Während die Visana auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Im Beschwerdeverfahren
um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder der
Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und
Art. 105 Abs. 3 BGG). Es wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG) und ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden
Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen). Unter
Berücksichtigung der für Beschwerden bestehenden allgemeinen Begründungspflicht
(Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) prüft es indessen grundsätzlich nur die geltend
gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle
sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese letztinstanzlich
nicht mehr aufgegriffen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

2. 

2.1. Gestützt auf Art. 39 UVG kann der Bundesrat aussergewöhnliche Gefahren und
Wagnisse bezeichnen, die in der Versicherung der Nichtberufsunfälle zur
Verweigerung sämtlicher Leistungen oder zur Kürzung der Geldleistungen führen.
Die Verweigerung oder Kürzung kann er in Abweichung von Artikel 21 Absätze 1-3
ATSG ordnen. Von dieser Kompetenzdelegation hat der Bundesrat in Art. 49
(betreffend aussergewöhnliche Gefahren) und 50 UVV (betreffend Wagnisse)
Gebrauch gemacht. Bei Nichtberufsunfällen, die auf ein Wagnis zurückgehen,
werden die Geldleistungen um die Hälfte gekürzt und in besonders schweren
Fällen verweigert (Art. 50 Abs. 1 UVV). Wagnisse sind Handlungen, mit denen
sich der Versicherte einer besonders grossen Gefahr aussetzt, ohne die
Vorkehren zu treffen oder treffen zu können, die das Risiko auf ein
vernünftiges Mass beschränken, Rettungshandlungen zugunsten von Personen sind
indessen auch dann versichert, wenn sie an sich als Wagnis zu betrachten sind
(Art. 50 Abs. 2 UVV).

2.2. Lehre und Rechtsprechung unterscheiden zwischen absoluten und relativen
Wagnissen. Ein absolutes Wagnis liegt vor, wenn eine gefährliche Handlung nicht
schützenswert ist oder wenn die Handlung mit so grossen Gefahren für Leib und
Leben verbunden ist, dass sich diese auch unter günstigsten Umständen nicht auf
ein vernünftiges Mass reduzieren lassen. Ein relatives Wagnis ist gegeben, wenn
es die versicherte Person unterlassen hat, die objektiv vorhandenen Risiken und
Gefahren auf ein vertretbares Mass herabzusetzen, obwohl dies möglich gewesen
wäre (BGE 138 V 522 E. 3.1 S. 524 f.; 97 V 72 ff.; Urteil [des Bundesgerichts]
U 122/06 vom 19. September 2006 in: SVR 2007 UV Nr. 4 S. 10 E. 2.1; ALEXANDRA
RUMO-JUNGO, Die Leistungskürzung oder -verweigerung gemäss Art. 37-39 UVG,
Diss. Freiburg 1993, S. 291 ff.; ALFRED MAURER, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, 2. Auflage, Bern 1989, S. 508 f.; URS CH. NEF, Das
Wagnis in der sozialen Unfallversicherung, SZS 1985 S. 103. ff., 104 f.).

3. 
Streitig ist, ob die Visana zu Recht einen Anspruch auf Geldleistungen nach UVG
im Zusammenhang mit dem Ereignis vom 1. Juli 2011 verneint hat, weil die vom
Versicherten im Rahmen seiner privaten Indienreise konkret gewählte Route durch
Pakistan, auf welcher er und seine Lebenspartnerin - ebenfalls Polizistin - am
1. Juli 2011 überfallen und entführt wurden, angesichts der bekannten Risiken
auf Grund der grossen Gefahrenlage als Wagnis von besonderer Schwere zu
qualifizieren war.

4. 

4.1. Verwaltung und Vorinstanz stuften die Ferienreise des Beschwerdeführers
mit seiner Lebenspartnerin auf dem Landweg von der Schweiz nach Indien im
privaten VW-Bus in Bezug auf die zweimalige Durchquerung von Pakistan auf dem
Hin- und Rückweg als absolutes Wagnis im Sinne von Art. 50 Abs. 2 UVV ein. Als
besonders schweren Fall eines absoluten Wagnisses qualifizierten sie die
Tatsache, dass der Versicherte - im Gegensatz zur Hinreise auf der Südroute -
auf dem Rückweg nach der zufälligen Bekanntschaft und dem Austausch von
Erfahrungen mit französischen Touristen die Rückreiseroute änderte, für den
Heimweg die kürzere Nordroute wählte und in Loralai (Pakistan) die Reise
kurzfristig ohne bewaffnete Eskorte fortsetzte, wobei er und seine Partnerin in
Geiselhaft der Taliban gerieten.

4.2. Demgegenüber rügt der Beschwerdeführer, das kantonale Gericht habe
Bundesrecht verletzt, indem es die fragliche Durchquerung von Pakistan mit der
Beschwerdegegnerin als Wagnis qualifiziert habe. Erst recht liege entgegen dem
angefochtenen Entscheid kein absolutes Wagnis vor. Alternativ zur
Leistungseinstellung oder -kürzung wegen eines Wagnisses im Sinne von Art. 50
UVV komme auch keine Leistungskürzung gemäss Art. 37 Abs. 2 UVG in Frage. Denn
das Krisenmanagement-Zentrum (KMZ) des EDA habe in der unangefochten in
Rechtskraft erwachsenen Kostenverfügung vom 11. Juni 2012, mit welcher es dem
Versicherten für die Aufwände und Auslagen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft im Zusammenhang mit seiner Entführung und Geiselhaft in
Pakistan in den Jahren 2011 und 2012 eine Pauschalgebühr von Fr. 10'000.-
auferlegte, ausgeführt, dass nicht von einem groben Verschulden des
Beschwerdeführers auszugehen sei.

5. 

5.1. Für den vom Versicherten erhobenen Vorwurf der willkürlichen
Beweiswürdigung wegen fehlender Unbefangenheit der Vorinstanz infolge
Vorbefassung mit dem Gesuch um vorsorgliche Massnahmen finden sich keine
Anhaltspunkte (vgl. BGE 131 I 113 E. 3.7 S. 120 ff. mit Hinweisen). Im Rahmen
der diesbezüglich vorzunehmenden Interessenabwägung waren vom kantonalen
Gericht praxisgemäss auch die Erfolgsaussichten hinsichtlich des Ausganges des
Verfahrens in der Hauptsache mitzuberücksichtigen (vgl. BGE 124 V 82 E. 6a S.
88 f. mit Hinweisen). Trotz Kenntnis der vorinstanzlichen Zwischenverfügung
betreffend Abweisung des Gesuchs um Wiederherstellung der aufschiebenden
Wirkung vom 21. Februar 2013 stellte der Beschwerdeführer gegen die beteiligte
Gerichtspräsidentin kein Ausstandsgesuch. Die Rüge der willkürlichen
Beweiswürdigung zufolge fehlender Unbefangenheit ist unbegründet.

5.2. Das kantonale Gericht hat nach eingehender bundesrechtskonformer
Beweiswürdigung mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit darauf geschlossen, dass in den hinlänglich
bekannten und im Internet publizierten "Reisehinweisen des EDA für Pakistan"
seit 2008 unmissverständlich klar ausdrücklich "von touristischen oder anderen
nicht dringenden Reisen nach Pakistan abgeraten" wird, weil für ausländische
Staatsangehörige ein erhöhtes Entführungsrisiko besteht, im ganzen Land
Terroranschläge drohen sowie von einer erhöhten Gefahr bewaffneter Überfälle
und politisch-religiös motivierter Gewalttaten auszugehen ist. Auch wenn den
EDA-Reisehinweisen keine rechtsverbindliche Wirkung zukommt, so entschloss sich
der Versicherte 2011 doch im unbestrittenen Wissen um diese besonders grosse
Gefahrenlage gemäss den Warnungen des EDA dazu, alleine mit seiner
Lebenspartnerin im eigenen VW Bus Pakistan zweimal auf dem Landweg zu
durchqueren. Mit Verwaltung und Vorinstanz ist festzuhalten, dass weder die
Reisevorbereitung noch die besonderen Fähigkeiten des Beschwerdeführers und
seiner Lebenspartnerin als Polizisten an der Unkontrollierbarkeit der
bekannten, besonders grossen Gefahren für Leib und Leben auf dem Landweg durch
Pakistan etwas zu ändern vermochten und diesbezüglich keine Vorkehren das
Risiko der Verwirklichung einer der zahlreichen grossen Gefahren auf ein
sozialversicherungsrechtlich "vernünftiges Mass" (vgl. E. 2.2 hievor)
reduzieren liessen. Dies beweist allein die Tatsache, dass der Versicherte und
seine Lebenspartnerin planten, ihre Reiseroute nicht ohne bewaffnete Eskorte
durch paramilitärische Verbände zu befahren. Dementsprechend bejahte der
Beschwerdeführer selber denn auch die Frage, ob er mit der Durchquerung von
Pakistan ein Risiko eingegangen sei.

5.3. Der Versicherte vermag aus der unangefochten in Rechtskraft erwachsenen
KMZ-Kostenverfügung des EDA betreffend Entschädigungsforderung für den
konsularischen Schutz während der gut achtmonatigen Geiselhaft nichts zu seinen
Gunsten abzuleiten. Entgegen seiner Argumentation ist in der rein privat
motivierten Ferienreise auf dem Landweg durch Pakistan nach Indien unter den
gegebenen Umständen des Jahres 2011 kein schützenswertes Motiv dieser Handlung
erkennbar. Wer in Kenntnis der ausdrücklichen Warnungen vor zahlreichen grossen
Gefahren für Leib und Leben gemäss den in zeitlicher Hinsicht massgebenden
EDA-Reisehinweisen für Pakistan dieses Land im Rahmen einer freiwilligen
Ferienreise zu zweit durchquert und sich dabei nach eigenem Plan durch eine
bewaffnete Eskorte von paramilitärischen Verbänden schützen lassen will, nimmt
offensichtlich die entsprechenden Gefahren bewusst in Kauf. Weder ist die
zweimalige Durchquerung von Pakistan auf dem Landweg mit bewaffneter Eskorte zu
Ferienzwecken im Jahre 2011 als schützenswerte Handlung zu bezeichnen, noch
liessen sich auf Grund der herrschenden Verhältnisse die zahlreichen grossen
Gefahren für Leib und Leben auch unter günstigsten Umständen auf ein
vernünftiges Mass reduzieren. Auf jeden Fall haben die Beschwerdegegnerin und
das kantonale Gericht nach dem Gesagten die Fortsetzung der
Pakistandurchquerung in Loralai trotz fehlender Ablösung der bewaffneten
Eskorte unter den gegebenen Umständen bundesrechtskonform als absolutes Wagnis
in einem besonders schweren Fall qualifiziert, welcher in Anwendung von Art. 50
Abs. 1 UVV die Verweigerung der Geldleistungen rechtfertigt.

5.4. Demnach hat es bei der mit angefochtenem Entscheid bestätigten
Leistungsverweigerung gemäss Einspracheentscheid der Visana vom 16. November
2012 sein Bewenden.

5.5. Die Frage, ob sich überhaupt ein Unfall im Sinne von Art. 6 Abs. 1 UVG in
Verbindung mit Art. 4 ATSG ereignet hat, bildet nicht Streitgegenstand dieses
Verfahrens und kann deshalb offengelassen werden. Weshalb anstelle der
verfügten und vorinstanzlich bestätigten Verweigerung sämtlicher Geldleistungen
nur - aber immerhin - eine Kürzung um 50% angezeigt sein soll, wird nicht in
rechtsgenüglicher Weise gerügt.

6. 
Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1,
Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. Februar 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Hochuli

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