Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.512/2014
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2014
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2014


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_512/2014 {T 0/2}     

Urteil vom 12. Januar 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch den Rechtsdienst Integration Handicap,
Rechtsanwältin Sibylle Käser Fromm,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 14. Mai 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die 1975 geborene A.________ war ab Mai 2003 als Produktionsmitarbeiterin bei
der B.________ AG tätig. Am 25. Februar 2011 erlitt sie bei einem
Verkehrsunfall eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS). Der zuständige
obligatorische Unfallversicherer gewährte Heilbehandlung und richtete Taggeld
aus. Im Juni/Juli 2011 meldete sich A.________ unter Hinweis auf die
HWS-Distorsion und eine Depression bei der Invalidenversicherung (IV) zur
Früherfassung und zum Leistungsbezug an. Die B.________ AG kündigte das
Anstellungsverhältnis auf den 31. Dezember 2011. Mit Verfügung vom 1. Juni 2012
stellte der Unfallversicherer seine Leistungen mit der Begründung, es lägen
keine Unfallfolgen mehr vor, per 15. Juni 2012 ein. Die IV-Stelle des Kantons
Zürich holte nebst weiteren Abklärungen die Akten des Unfallversicherers ein
und liess die Versicherte durch ihren Regionalärztlichen Dienst (RAD)
orthopädisch und neurologisch-psychiatrisch untersuchen. Gestützt auf die
hierüber am 6. Juli 2012 erstatteten Berichte verneinte die IV-Stelle mit
Verfügung vom 22. Juli 2013 einen Anspruch auf Leistungen der IV. Sie
begründete dies damit, es liege keine Diagnose vor, welche eine länger dauernde
Arbeitsunfähigkeit auslöse; aus somatischer und psychiatrischer Sicht seien
jegliche Tätigkeiten im freien Arbeitsmarkt zumutbar.

B. 
Beschwerdeweise beantragte A.________, in Aufhebung der Verfügung vom 22. Juli
2013 seien vom 1. Juni bis 31. Dezember 2012 eine ganze und ab 1. Januar 2013
eine halbe Invalidenrente sowie berufliche Massnahmen zuzusprechen; eventuell
sei ein psychiatrisches Gerichtsgutachten einzuholen. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid
vom 14. Mai 2014 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Sache
zu weiteren Abklärungen, insbesondere zur Einholung eines psychiatrischen
Gutachtens, an die Verwaltung zurückzuweisen.

Die IV-Stelle beantragt unter Hinweis auf die vorinstanzlichen Erwägungen die
Abweisung der Beschwerde, ohne sich weiter zur Sache zu äussern. Das Bundesamt
für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E.
1.6       S. 280 mit Hinweisen).
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob Anspruch auf Leistungen der IV besteht. Die
massgeblichen Bestimmungen und die Rechtsprechung zu den Anforderungen an
beweiswertige ärztliche Berichte und Gutachten sind im angefochtenen Entscheid
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3. 
Das kantonale Gericht hat anspruchsrelevante körperliche Leiden verneint. Diese
Beurteilung wird nicht in Frage gestellt. Als Leistungs-grund steht nurmehr
eine psychisch bedingte Beeinträchtigung zur Diskussion.

3.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, zwar sei entgegen der Annahme im
Bericht des RAD-Psychiaters Dr. med. C.________ vom 6. Juli 2012 eine
Umstellung der Medikation erfolgt und habe sich die Versicherte bereits in
therapeutischer Behandlung befunden. Der RAD-Bericht vom 6. Juli 2012 sei aber
gesamthaft überzeugend und beweiswertig. Dr. med. C.________ habe festgestellt,
dass die geklagten subjektiven Beschwerden durch eine
Schmerzverarbeitungsstörung und eine Somatisierungsstörung zu erklären seien,
welche sich nicht auf die Arbeitsfähigkeit auswirkten. Die behandelnde
Psychiaterin Dr. med. D.________ diagnostiziere zwar abweichend davon eine
mittelgradige depressive Episode vor dem Hintergrund einer kombinierten
Persönlichkeitsstörung. Der RAD habe aber - gemeint ist damit offenbar die
Stellungnahme des RAD-Psychiaters Dr. med. E.________ vom 15. Mai 2013 - hiezu
dargelegt, eine Persönlichkeitsstörung hätte anlässlich der Untersuchung durch
Dr. med. C.________ festgestellt werden müssen. Soweit Dr. med. D.________ auf
eine massgebliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit schliesse, sei überdies
die Erfahrungstatsache zu berücksichtigen, dass behandelnde Ärzte im Hinblick
auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung mitunter eher zugunsten ihrer
Patienten aussagen dürften. Anzufügen sei, dass mittelgradige depressive
Episoden, wie von Dr. med. D.________ diagnostiziert, in der Regel keine von
depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare, andauernde Depression
im Sinne eines verselbstständigen Gesundheitsschadens darstellten, die es der
betroffenen Person verunmöglichte, die Folgen einer Schmerzstörung zu
überwinden. Leichte bis höchstens mittelschwere psychische Störungen aus dem
depressiven Formenkreis seien zudem grundsätzlich therapeutisch angehbar.
Gestützt auf den Bericht des Dr. med. C.________ sei daher ein
invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden zu verneinen.

3.2. Die Beschwerdeführerin wendet ein, die vorinstanzliche
Sachver-haltsfeststellung sei unter anderem bezüglich der Feststellung
offensichtlich falsch, Dr. med. D.________ habe eine mittelgradige depressive
Episode diagnostiziert. Die Psychiaterin habe die entsprechende Diagnose in
ihrem im kantonalen Verfahren eingereichten Bericht vom 28. August 2013 dahin
gehend präzisiert, dass eine mittelgradige depressive Störung, chronifiziert
(ICD-10: F32.1, F33.1), vorliege. Sie habe auch eingehend dargelegt, weshalb
und wie sich diese Diagnose auf die Arbeitsfähigkeit auswirke. Daher treffe
auch der Hinweis der Vorinstanz auf Grundsätze zu mittelgradigen depressiven
Episoden ins Leere.
Dr. med. D.________ hat im Bericht vom 28. August 2013 die von der Versicherten
angegebenen Aussagen zu Diagnose und Arbeitsfähigkeit gemacht. Das kantonale
Gericht hat, obschon ihm dieser Bericht vorlag, lediglich die in den
Vorberichten der Dr. med. D.________ gestellten Diagnosen beurteilt und der
Einschätzung des RAD-Psychiaters gegenübergestellt. Die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts ist demnach offensichtlich
unrichtig, weshalb das Bundesgericht nicht daran gebunden ist.

3.3.

3.3.1. Zur Beurteilung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche bedarf
es verlässlicher medizinischer Entscheidgrundlagen (BGE 134 V 231 E. 5.1 S.
232). Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob
dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen
beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten
(Anam-nese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet
und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1
S. 232 mit Hinweis auf 125 V 351 E. 3a   S. 352). Der Beweiswert von
RAD-Berichten nach Art. 49 Abs. 2 IVV ist mit jenem externer medizinischer
Sachverständigengutachten vergleichbar, sofern sie den praxisgemässen
Anforderungen an ein ärztliches Gutachten genügen (BGE 137 V 210 E. 1.2.1 S.
219). Auf das Ergebnis versicherungsinterner ärztlicher Abklärungen - zu denen
die RAD-Berichte gehören - kann allerdings nicht abgestellt werden, wenn auch
nur geringe Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit bestehen (BGE
139 V 225 E. 5.2 S. 229; 135 V 465       E. 4.4 S. 469 f. und E. 4.7 S. 471;
Urteil 8C_197/2014 vom 3. Oktober 2014 E. 4.2 mit weiterem Hinweis).

3.3.2. Es liegen gegensätzliche psychiatrische Einschätzungen zu
Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit vor. Dabei gestatten die medizinischen
Akten nicht, die Einwände der behandelnden Psychiaterin gegenüber der
Beurteilung des Dr. med. C.________ ohne weiteres zu verwerfen. Auch die
erwähnte Stellungnahme des RAD-Psychiaters Dr. med. E.________ vom 15. Mai 2013
lässt dies nicht zu, zumal sie ausgesprochen kurz gehalten ist, offenbar nicht
auf eigener fachärztlicher Exploration der Versicherten beruht und noch ohne
Kenntnis des Berichts der Dr. med. D.________ vom 28. August 2013 abgegeben
wurde. Anderseits genügen deren Stellungnahmen ebenfalls nicht als medizinische
Beurteilungsgrundlage. Bei dieser Sachlage ist die Einholung eines
psychiatrischen Gutachtens geboten. Dieses ist, entgegen dem Antrag der
Versicherten, nicht durch die Verwaltung, sondern durch das kantonale Gericht
einzuholen (BGE 137 V 210 E. 4.4.4 S. 263 ff.). Die Sache wird hiefür und zum
neuen Entscheid über die Beschwerde an dieses zurückgewiesen.

4. 
Die IV-Stelle als unterliegende Partei hat die Gerichtskosten zu tragen (Art.
66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Letztere wird nach bundesgerichtlichem Ermessen
festgesetzt. Eine Kostennote ist entgegen dem Begehren in der Beschwerde nicht
einzuholen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 14. Mai 2014 aufgehoben. Die
Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'500.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. Januar 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Lanz

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben