Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.509/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_509/2014

Urteil vom 16. März 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Jürg Grämiger,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Prozessvoraussetzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 19. Mai 2014.

Sachverhalt:

A. 
Mit Zwischenverfügung vom 20. Februar 2013 eröffnete die IV-Stelle des Kantons
St. Gallen A.________ (geb. 1966), dass sie an einer bidisziplinären
medizinischen Begutachtung in der Gemeinschaftspraxis B.________ festhalte.

B. 
Auf die von A.________ dagegen eingereichte Beschwerde trat das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 19. Mai 2014
nicht ein.

C. 
A.________ führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem sinngemässen Antrag, der
Nichteintretensentscheid sei aufzuheben, und das kantonale Gericht sei zu
verpflichten, auf die vorinstanzliche Beschwerde einzutreten. Eventualiter sei
ein polydisziplinäres Gutachten nach dem Zufallsprinzip einzuholen;
subeventuell sei der bisherige Invaliditätsgrad von 75 Prozent zu bestätigen.
Gleichzeitig wird um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ersucht.

IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 138 V 318 E. 6 S. 320; 135 III 1 E. 1.1 S. 3;
134 III 115 E. 1 S. 117).

2. 
Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens bildete die Anordnung einer
medizinischen Begutachtung durch die IV-Stelle. Der dadurch umrissene
Streitgegenstand kann sich auch letztinstanzlich nicht auf Fragen des
materiellen Leistungsrechts erstrecken (vgl. BGE 125 V 413 E. 1 S. 414; Urteil
9C_207/2012 vom 3. Juli 2013 E. 1.1, nicht publ. in: BGE 139 V 349). Auf das
betreffende Rechtsbegehren ist daher nicht einzutreten.

3.

3.1. Angefochten ist ein Zwischenentscheid im Sinne von Art. 92 f. BGG, folgt
doch die Qualifikation des angefochtenen Gerichtsentscheids der Rechtsnatur des
Anfechtungsobjekts im kantonalen Prozess (BGE 139 V 339 E. 3.2 S. 341; 138 V
271 E. 2.1 S. 277).

3.2. Im vorinstanzlichen Verfahren machte die Beschwerdeführerin im
Wesentlichen geltend, mit der medizinischen Begutachtung sei eine nach dem
Zufallsprinzip generierte Medas-Gutachterstelle mit einer interdisziplinären
Expertise zu beauftragen. Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf BGE 132 V 93 E.
7.2 f. S. 110 f. erwogen, auf eine Beschwerde gegen die im
Administrativverfahren erfolgte Anordnung, eine medizinische Expertise
einzuholen, sei nur einzutreten, wenn glaubhaft gemacht werde, dass die
Möglichkeit eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils bestehe. Gutzuheissen
sei die Beschwerde, wenn plausibel sei, dass bei einer Bestätigung der
Zwischenverfügung ein nicht wieder gutzumachender Nachteil eintreten würde.

3.3. Die Beschwerdeführerin rügt unter Hinweis auf BGE 137 V 210 eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV), weil die Vorinstanz auf
ihre formellen Einwendungen gegen das angeordnete Gutachten nicht eingetreten
sei. Sie macht sinngemäss geltend, durch die Zwischenverfügung vom 20. Februar
2013 einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil zu erleiden.

3.4.

3.4.1. In seiner jüngsten Rechtsprechung hat das Bundesgericht erwogen, für die
Beurteilung, ob ein nicht wieder gutzumachender Nachteil gegeben sei, müsse im
Kontext des IV-rechtlichen Abklärungsverfahrens mit seinen spezifischen
Gegebenheiten (dazu eingehend BGE 137 V 210) berücksichtigt werden, dass ein
Sachverständigengutachten im Rechtsmittelverfahren mit Blick auf die fachfremde
Materie faktisch nur beschränkt überprüfbar sei: Der Rechtsanwender sieht sich
mangels ausreichender Fachkenntnisse kaum in der Lage, in formal korrekt
abgefassten Gutachten objektiv- fachliche Mängel zu erkennen. Zugleich steht
die faktisch vorentscheidende Bedeutung der medizinischen Gutachten für den
Leistungsentscheid in einem Spannungsverhältnis zur grossen Streubreite der
Möglichkeiten, einen Fall medizinisch zu beurteilen, und zur entsprechend
geringen Vorbestimmtheit der Ergebnisse (BGE 139 V 339 E. 4.2 S. 342; 138 V 271
E. 1.2.1 S. 275; 137 V 210 E. 2.5 S. 241).

3.4.2. Diesen Umständen ist mit verfahrensrechtlichen Garantien zu begegnen (
BGE 137 V 210 E. 2.5 S. 241 und E. 3.4.2.3 in fine S. 253). Die
Mitwirkungsrechte müssen im Beschwerdeverfahren durchsetzbar sein. Ist dies
durch Anfechtung des Endentscheids nicht mehr möglich, kann ein nicht wieder
gutzumachender Nachteil entstehen, der den Rechtsweg an eine Beschwerdeinstanz
eröffnet. Da systemimmanent kein Anspruch auf Einholung eines
Gerichtsgutachtens besteht (vgl. BGE 136 V 376), ist das Administrativgutachten
häufig zugleich die wichtigste medizinische Entscheidungsgrundlage im
Beschwerdeverfahren. In solchen Fällen kommen die bei der Beweiseinholung
+durch ein Gericht vorgesehenen Garantien zugunsten der privaten Partei im
gesamten Verfahren nicht zum Tragen. Um dieses Manko wirksam auszugleichen,
müssen die gewährleisteten Mitwirkungsrechte durchsetzbar sein, bevor
präjudizierende Effekte eintreten (BGE 137 V 210 E. 3.4.2.4 S. 254). Mit Blick
auf das naturgemäss begrenzte Überprüfungsvermögen der rechtsanwendenden
Behörden genügt es daher nicht, die Mitwirkungsrechte erst nachträglich, bei
der Beweiswürdigung im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren, einzuräumen. Für
die Annahme eines drohenden unumkehrbaren Nachteils spricht schliesslich auch,
dass die mit medizinischen Untersuchungen einhergehenden Belastungen zuweilen
einen erheblichen Eingriff in die physische oder psychische Integrität bedeuten
(BGE 139 V 339 E. 4.3 S. 342; 138 V 271 E. 1.2.2 S. 276; 137 V 210 E. 3.4.2.7
S. 257).

3.4.3. Aus diesen Gründen hat das Bundesgericht die
Anfechtbarkeitsvoraussetzungen des nicht wieder gutzumachenden Nachteils für
das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren in IV-Angelegenheiten bejaht, zumal
die - etwa hinsichtlich der gutachterlichen Fachkompetenz - nicht sachgerechte
Begutachtung in der Regel einen rechtlichen und nicht einen tatsächlichen
Nachteil bewirkt (BGE 139 V 339 E. 4.4 S. 343; 138 V 271 E. 1.2.3 S. 276; 137 V
210 E. 3.4.2.7 S. 257). Entgegen der mit BGE 132 V 93 E. 6.5 S. 108 begründeten
Rechtsprechung kann die Zwischenverfügung der Gutachtensanordnung somit unter
Erhebung aller gesetzlich vorgesehenen Rügen rechtlicher und tatsächlicher
Natur angefochten werden (BGE 138 V 271 E. 1.1 S. 274; 137 V 210 E. 3.4.2.7 S.
256).

3.5. Nach der dargelegten Rechtsprechung haben die Versicherungsgerichte auf
Beschwerden, mit denen die Fachkompetenz der von der Verwaltung bestimmten
Gutachter beanstandet wird, einzutreten.

4.

4.1. In BGE 138 V 271 E. 3 ff. S. 278 ff. hat das Bundesgericht zudem
präzisiert, dass eine Gutachtensanordnung in der Regel lediglich im
erstinstanzlichen Verfahren anfechtbar ist (BGE 139 V 339 E. 4.5 S. 343).
Entscheide kantonaler Versicherungsgerichte bzw. des Bundesverwaltungsgerichts,
welche die organisatorischen und verfahrensmässigen Rahmenbedingungen der
Anordnung von medizinischen Begutachtungen in der Invaliden- oder der
Unfallversicherung betreffen, können, auch mit Blick auf die
Verfahrensgrundrechte nach BV und EMRK (BGE 138 V 271 E. 3.1 S. 278 mit
Hinweisen) vor Bundesgericht grundsätzlich nicht selbstständig angefochten
werden, sofern nicht formelle Ausstandsgründe einer sachverständigen Person zur
Diskussion stehen (Art. 92 Abs. 1 BGG; BGE 138 V 318; 271). Das Bundesgericht
prüft die Bundesrechtskonformität von Gutachtensanordnungen gegebenenfalls im
Rahmen eines Endentscheids (vgl. Art. 93 Abs. 3 BGG; BGE 138 V 271 E. 3.2 f. S.
279).

4.2. Wird anstelle eines polydisziplinären (MEDAS-) Gutachtens eine mono- oder
bidisziplinäre Expertise eingeholt, so sind dieselben Partizipationsrechte
beachtlich. Bei Uneinigkeit ist eine Begutachtung demnach mit anfechtbarer
Zwischenverfügung anzuordnen. Die auf Verbesserung und Vereinheitlichung der
Qualitätsanforderungen und -kontrolle zielenden Vorkehren (BGE 137 V 210 E. 3.3
S. 245) sind - soweit nicht spezifisch auf die MEDAS angelegt - sinngemäss auf
die mono- oder bidisziplinären Expertisen zu übertragen (BGE 139 V 349 E. 5.1
S. 354 und E. 5.4 S. 357). Zudem ist die dargestellte Eintretenspraxis auf die
Vereinbarkeit der verfügten Anordnung einer bidisziplinären Expertise mit dem
Bundesrecht sinngemäss anwendbar (SVR 2013 IV Nr. 31 S. 91, 9C_207/2012 E.
1.2.2, nicht publ. in: BGE 139 V 349).

5.

5.1. Die Beschwerdeführerin macht keine formellen Ausstandsgründe geltend. Sie
erhebt vielmehr Einwendungen gegen die angeordnete bidisziplinäre Begutachtung.

5.2. Obwohl sie auf die Beschwerde nicht eingetreten ist, hat die Vorinstanz
die hauptsächliche Rüge der Beschwerdeführerin, es sei ein poly- statt ein
bidisziplinäres Gutachten einzuholen, im angefochtenen Entscheid geprüft. Die
behandelte Frage kann in einem allfälligen Beschwerdeverfahren gegen den
Endentscheid vor Bundesgericht thematisiert werden, was eine Überprüfung im
jetzigen Verfahrensstadium ausschliesst (E. 4 hievor). Auf die Beschwerde ist
daher nicht einzutreten.

6. 
Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass ihrem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im kantonalen Verfahren nicht stattgegeben worden sei. Die
Vorinstanz hat über dieses Gesuch nicht explizit entschieden. Die Frage stellt
sich nur unter dem Aspekt der unentgeltlichen Verbeiständung, nachdem die
Vorinstanz keine Verfahrenskosten erhoben hat. Dem Gesuch um unentgeltliche
Verbeiständung hätte die Vorinstanz indessen ohnehin nicht stattgeben können,
da die Beschwerdeführerin sich nicht durch einen Anwalt vertreten liess. Da in
keiner Weise ersichtlich ist, inwiefern ein Rechtsvertreter für die von der
Beschwerdeführerin selbst verfasste Eingabe tätig geworden ist, blieb für die
Bestellung eines unentgeltlichen Beistandes kein Raum.

7. 
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ist zu
entsprechen. Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist dagegen
abzuweisen, da sich die Eingabe des Rechtsvertreters auf die Einreichung der
Anwaltsvollmacht beschränkt und nicht geltend gemacht wird, diesem sei im
bundesgerichtlichen Verfahren ein nennenswerter Aufwand entstanden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege teilweise gewährt.
Sie ist vorläufig von den Gerichtskosten befreit. Im Übrigen wird das Gesuch
abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. März 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Hofer

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