Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.467/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_467/2014

Urteil vom 29. Mai 2015

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Nabold.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Simon Kehl,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
23. April 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ war zuletzt als Produktionsmitarbeiter der B.________ AG
erwerbstätig gewesen, als er sich am 2. April 2007 unter Hinweis auf einen am
27. Juli 2006 erlittenen Unfall bei der IV-Stelle des Kantons Thurgau zum
Leistungsbezug anmeldete. Nach beruflichen und medizinischen Abklärungen und
Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung
vom 29. November 2011 einen Umschulungsanspruch des Versicherten. Mit Verfügung
vom 20. Januar 2012 sprach sie ihm für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis 30.
November 2007 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Rente und vom 1.
Dezember 2007 bis zum 31. Mai 2010 bei einem Invaliditätsgrad von 62 % eine
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung zu. Gleichzeitig verneinte sie bei
einem Invaliditätsgrad von 38 % einen Rentenanspruch des Versicherten für die
Zeit ab 1. Juni 2010. Eine gegen den diese Verfügung bestätigenden Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 12. Dezember 2012 erhobene
Beschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil 8C_39/2013 vom 30. Dezember 2013
teilweise gut und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz
zurück.

B. 
In Nachachtung des bundesgerichtlichen Urteils ordnete das Verwaltungsgericht
des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 23. April 2014 eine psychiatrische
Begutachtung des Versicherten durch Dr. med. C.________, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, an.

C. 
Mit Beschwerde beantragt A.________, das kantonale Gericht sei unter Aufhebung
seines Entscheides zu verpflichten, weitere Abklärungen zur Unabhängigkeit und
Unbefangenheit des Dr. med. C.________ zu treffen und anschliessend über seine
Einsetzung als Gerichtsgutachter neu zu befinden.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 135 III 212 E. 1 S. 216 mit Hinweisen).

2. 

2.1. Das BGG unterscheidet in Art. 90 bis 93 zwischen End-, Teil- sowie Vor-
und Zwischenentscheiden und schafft damit eine für alle Verfahren einheitliche
Terminologie. Ein Endentscheid ist ein Entscheid, der das Verfahren prozessual
abschliesst (Art. 90 BGG), sei dies mit einem materiellen Entscheid oder
Nichteintreten, z.B. mangels Zuständigkeit. Der Teilentscheid ist eine Variante
des Endentscheids. Mit ihm wird über eines oder einige von mehreren
Rechtsbegehren (objektive und subjektive Klagehäufung) abschliessend befunden.
Es handelt sich dabei nicht um verschiedene materiellrechtliche Teilfragen
eines Rechtsbegehrens, sondern um verschiedene Rechtsbegehren. Vor- und
Zwischenentscheide sind alle Entscheide, die das Verfahren nicht abschliessen
und daher weder End- noch Teilentscheid sind; sie können formell- und
materiellrechtlicher Natur sein.

2.2. Nach Art. 92 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde ans Bundesgericht gegen
selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und
über Ausstandsbegehren zulässig. Gegen andere selbständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide ist die Beschwerde zulässig, wenn sie einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können; oder wenn die Gutheissung der
Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden
Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde
(Art. 93 Abs. 1 BGG).

2.3. Rechtsprechungsgemäss begründen strukturelle Umstände, wie sie in BGE 137
V 210 in Bezug auf  von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG
eingeholte Gutachten behandelt worden sind, keine formelle Ablehnung eines
Sachverständigen (BGE 138 V 271 E. 2.2 S. 277). Entsprechend betrachtet das
Bundesgericht Zwischenentscheide über Ausstandsbegehren, die lediglich mit
solchen strukturellen Umständen begründet werden, nicht als Entscheide über
Ausstandsbegehren im Sinne von Art. 92 Abs. 1 BGG (vgl. BGE 138 V 271 E. 2.3 S.
277 f.).

2.4. Mit der Beschwerdeerhebung durch die versicherte Person wird die IV-Stelle
formell Partei des Gerichtsverfahrens (vgl. BGE 136 V 376 E. 4 S. 377 ff.).
Ablehnungsbegehren gegen  Gerichtsgutachter, welche mit der näheren Beziehung
des vorgesehenen Experten zu einer der Verfahrensparteien begründet werden,
qualifiziert das Bundesgericht als Ausstandsbegehren im Sinne von Art. 92 Abs.
1 BGG und tritt entsprechend auf Beschwerden gegen kantonale Zwischenentscheide
über solche Begehren ein (Urteile 1B_162/2008 vom 13. August 2008; 4A_256/2010
vom 26. Juli 2010 und 4A_142/2013 vom 27. August 2013; vgl. auch Urteil 1B_22/
2007 vom 29. Mai 2007 E. 2.2). Dies gilt auch in
invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren (Urteil 8C_509/2008 vom 4. Februar
2009; vgl. zum alten Recht auch Urteil I 742/04 vom 1. Juni 2006).

2.5. Mit dem angefochtenen Entscheid vom 23. April 2014 ordnete die Vorinstanz
eine psychiatrische Begutachtung des Versicherten durch Dr. med. C.________ an
und verneinte gleichzeitig die Stichhaltigkeit der vom Beschwerdeführer
vorgebrachten Zweifel an der Unabhängigkeit und Unbefangenheit des vorgesehenen
Gutachters. Damit liegt ein selbstständig eröffneter Zwischenentscheid im Sinne
von Art. 92 BGG vor; auf die Beschwerde ist einzutreten (vgl. auch Urteil
8C_214/2010 vom 7. Juli 2010 E. 1).

3. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, als sie
eine psychiatrische Begutachtung des Versicherten durch Dr. med. C.________
anordnete, ohne zunächst weitere Abklärungen zum Umfang der Gutachtenstätigkeit
des Experten für die Sozialversicherungsträger vorzunehmen.

4. 
Der von einem Gericht beigezogene Sachverständige gilt als dessen Hilfsperson (
BGE 100 Ia 28 E. 3 S. 1; Urteil 2P.78/2005 vom 21. Juli 2005 E. 2.1).
Befangenheit oder zumindest ein Anschein von Befangenheit eines
Gerichtsexperten kann sich aus dem Umstand ergeben, dass er zu einer
Prozesspartei in einer wirtschaftlichen Beziehung steht oder stand, wobei
dieselbe eine gewisse Intensität aufweisen muss (vgl. Urteil 4A_256/2010 vom
26. Juli 2010 E. 2.4). Unter diesem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen
Abhängigkeit führen nach gefestigter Rechtsprechung der regelmässige Beizug
eines Gutachters oder einer Begutachtungsinstitution durch den
Versicherungsträger, die Anzahl der beim selben Arzt in Auftrag gegebenen
Gutachten und Berichte sowie das daraus resultierende Honorarvolumen für sich
allein genommen nicht zum Ausstand (BGE 137 V 210 E. 1.3.3 S. 226 f.; SVR 2008
IV Nr. 22 S. 69, 9C_67/2007 E. 2). Dies gilt entgegen den Ausführungen des
Beschwerdeführers nicht bloss für Administrativgutachten, welche in Anwendung
von Art. 44 ATSG eingeholt werden, sondern auch für Gerichtsgutachten (SVR 2009
UV Nr. 32 S. 111, 8C_509/2008 E. 6.2; Urteil 8C_214/2010 vom 7. Juli 2010 E.
2.1). Angesichts der grossen Bedeutung, welche den im Verfahren nach Art. 44
ATSG eingeholten Gutachten in vielen Fällen zukommt, erscheint es nicht als
angängig, hinsichtlich der Unabhängigkeit und Unbefangenheit der eingesetzten
Experten zwischen solchen Gutachten und Gerichtsgutachten zu unterscheiden
(vgl. auch BGE 137 V 210 E. 2.1.3 S. 231 f.). Entsprechend orientierte sich das
Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung auch bei
Administrativgutachten an der Praxis, welche der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) für Gerichtsgutachten entwickelt hat (vgl. BGE 135 V 465
und dortige Hinweise auf die Praxis des EGMR). Im Übrigen kann eine
medizinische Fachperson nur dann eine ausgedehnte Gutachtertätigkeit für die
Sozialversicherungsträger entfalten, wenn sie unter Beachtung der verfassungs-
und konventionsrechtlich gebotenen Korrekturen gemäss BGE 137 V 210 E. 3 S. 242
ff. und 139 V 349 E. 5 S. 354 ff. beauftragt wird. Diese sind gerade dazu
bestimmt, den latenten Gefährdungen der Verfahrensgarantien, wie sie sich aus
dem Ertragspotential der Gutachtertätigkeit zuhanden der
Sozialversicherungsträger ergeben, entgegenzuwirken.

5. 
Stellt somit selbst eine ausgedehnte Gutachtertätigkeit für die
Sozialversicherungsträger auch bei einem gerichtlich bestellten Experten keinen
Befangenheitsgrund dar, so durfte das kantonale Gericht in zulässiger
antizipierter Beweiswürdigung (BGE 130 II 425 E. 2.1 S. 428 f.) auf weitere
Erhebungen zum Umfang der Gutachtertätigkeit des Dr. med. C.________
verzichten. Die Beschwerde des Versicherten ist dementsprechend abzuweisen.

6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Mai 2015

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Nabold

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