Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.939/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_939/2014

Urteil vom 11. Juni 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiber M. Widmer.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic,
Beschwerdeführer,

gegen

1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
2. Y.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Renate Senn,
Beschwerdegegnerinnen.

Gegenstand
Sexuelle Handlungen mit einem Kind; willkürliche Beweiswürdigung; rechtliches
Gehör,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht,
2. Kammer, vom 12. August 2014.

Sachverhalt:

A. 
X.________ (geb. 1993) wird u.a. vorgeworfen, zwischen dem 21. Juli und dem 9.
August 2012 mehrfach mit der kurz zuvor 14 Jahre alt gewordenen Y.________
sexuell verkehrt zu haben.

B. 
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom
8. Juli 2013 wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und Führens
eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand zu einer bedingten Geldstrafe von
90 Tagessätzen zu Fr. 30.-- sowie zu einer Busse von Fr. 900.--.
X.________ erhob Einsprache gegen den Strafbefehl. Mit Urteil vom 9. Oktober
2013 sprach ihn das Bezirksgericht Zurzach vom Vorwurf der mehrfachen sexuellen
Handlungen mit einem Kind frei und verurteilte ihn wegen der nicht bestrittenen
Verkehrsregelverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr.
30.-- sowie zu einer Busse von Fr. 800.--.
Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte X.________ auf Berufung der
Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach und von Y.________ am 12. August 2014 wegen
mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind und Führens eines Motorfahrzeugs
in angetrunkenem Zustand zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu
Fr. 30.-- sowie zu einer Busse von Fr. 1'350.--.

C. 
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen sinngemäss, das
obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an
das Obergericht zurückzuweisen mit der Auflage, eine mündliche
Berufungsverhandlung durchzuführen. Allenfalls sei von einer Bestrafung
abzusehen.

D. 
Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichten
auf eine Vernehmlassung. Y.________ liess sich nicht vernehmen.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer macht eine "Verletzung von Art. 389 Abs. 3 i.V.m.
Art. 379 i.V.m. Art. 343 Abs. 3 sowie Art. 405 und 406 Abs. 2 lit. a StPO" und
damit einhergehend seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Obwohl eine
"Aussage gegen Aussage"-Situation vorliege und der rechtserhebliche Sachverhalt
strittig sei, habe die Vorinstanz auf die Durchführung einer mündlichen
Berufungsverhandlung verzichtet. Zwar habe sie auf sein Gesuch hin zunächst
eine mündliche Verhandlung und die Befragung von ihm und der Beschwerdegegnerin
2 angeordnet. Sein Gesuch um Verschiebung der Berufungsverhandlung habe sie
indessen in der Folge als mutwillig abgewiesen und ihn darauf aufmerksam
gemacht, dass es ihm frei stehe, die Durchführung des schriftlichen Verfahrens
zu beantragen. Um die Vorinstanz nicht zu verärgern, habe er dem schriftlichen
Verfahren widerwillig zugestimmt.

1.2.

1.2.1. Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich (vgl. Art. 405 Abs. 1
StPO). Schriftliche Berufungsverfahren sollen nach der Intention des
Gesetzgebers die Ausnahme bleiben (Urteil 6B_622/2014 vom 20. Januar 2015 E.
4.1 mit Hinweisen; vgl. auch Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur
Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1316 Ziff. 2.9.3.2). Art.
406 StPO regelt abschliessend, wann Ausnahmen zulässig sind (BGE 139 IV 290 E.
1.1 S. 291 f. mit Hinweisen). Die Berufung kann u.a. im schriftlichen Verfahren
behandelt werden, wenn ausschliesslich Rechtsfragen zu entscheiden sind (Art.
406 Abs. 1 lit. a StPO). Gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO kann die Verfahrensleitung
das schriftliche Verfahren mit dem Einverständnis der Parteien zudem anordnen,
wenn die Anwesenheit der beschuldigten Person nicht erforderlich ist (lit. a)
oder Urteile eines Einzelgerichts Gegenstand der Berufung sind (lit. b).

1.2.2. Das Rechtsmittelverfahren beruht in der Regel auf den bereits erhobenen
Beweisen (vgl. Art. 389 Abs. 1 StPO). Beweisabnahmen sind aber gegebenenfalls
von Amtes wegen zu ergänzen bzw. zu wiederholen (Art. 389 Abs. 2 und 3 StPO).
Dies kann insbesondere erforderlich sein, wenn die unmittelbare Kenntnis des
Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint (vgl. Art. 343 Abs. 3
i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO; Urteil 6B_98/2014 vom 30. September 2014 E. 3.8).
Notwendig ist eine unmittelbare Abnahme eines Beweismittels namentlich, wenn
dessen Kraft in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner
Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den
Eindruck einer Zeugenaussage ankommt, so wenn die Aussage das einzige direkte
Beweismittel darstellt ("Aussage gegen Aussage"-Situation; vgl. BGE 140 IV 196
E. 4.4.2 S. 199 f.; Urteile 6B_622/2014 vom 20. Januar 2015 E. 4.1; 6B_98/2014
vom 30. September 2014 E. 3.8; 6B_139/2013 vom 20. Juni 2013 E. 1.3.2; je mit
Hinweisen). Eine unmittelbare Beweisabnahme durch das Berufungsgericht kann
sodann erforderlich sein, wenn dieses von den erstinstanzlichen
Sachverhaltsfeststellungen abweichen will (vgl. BGE 140 IV 196 E. 4.4.1 S. 199
mit Hinweisen).
Ob eine erneute Beweisabnahme erforderlich ist, hat das Gericht unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der materiellen Wahrheit von Amtes wegen nach
Ermessen zu entscheiden (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2 S. 200; Urteile 6B_970/2013
vom 24. Juni 2014 E. 2.1; 6B_139/2013 vom 20. Juni 2013 E. 1.3.2; je mit
Hinweisen).

1.3.

1.3.1. Die Vorinstanz ersuchte die Parteien mit Verfügung vom 8. Januar 2014
unter Hinweis auf Art. 406 Abs. 2 lit. a StPO innert 10 Tagen mitzuteilen, ob
sie mit der Durchführung des schriftlichen Verfahrens anstelle einer mündlichen
Berufungsverhandlung einverstanden seien. Sie wies darauf hin, dass das
Ausbleiben einer Mitteilung innert Frist als Zustimmung zum schriftlichen
Verfahren gelte und eine mündliche Berufungsverhandlung nur auf Verlangen einer
Partei durchgeführt werde. Mit Blick auf das in der Regel mündliche
Berufungsverfahren erscheint dies grundsätzlich problematisch. Ob ein solches
Vorgehen zulässig ist, kann jedoch offen gelassen werden. Wie der
Beschwerdeführer zu Recht vorbringt, hätte die Vorinstanz jedenfalls im
vorliegenden Fall nicht auf eine mündliche Berufungsverhandlung verzichten
dürfen.

1.3.2. Mit Verfügung vom 24. Januar 2014 ordnete die Vorinstanz die
Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung an, nachdem der
Beschwerdeführer eine solche verlangt hatte, damit sich das Gericht ein eigenes
Bild vom Aussageverhalten der Parteien machen könne. Am 19. Februar 2014 lud
die Vorinstanz die Parteien zu der auf den 29. April 2014 angesetzten
Berufungsverhandlung vor. Gleichzeitig gab sie bekannt, dass die
Beschwerdegegnerin 2 und der Beschwerdeführer erneut zur Sache befragt würden.
Damit brachte die Vorinstanz zum Ausdruck, dass sie die unmittelbare Kenntnis
jener Aussagen für die Urteilsfällung als notwendig erachtet.
Erschien der Vorinstanz die Anwesenheit der Parteien zwecks erneuter
Einvernahme erforderlich, hätte sie indessen nicht von einer mündlichen
Berufungsverhandlung absehen dürfen (vgl. Art. 406 Abs. 2 lit. a StPO e
contrario). Ihr Verhalten ist widersprüchlich.
Nicht nachvollziehbar ist der Verzicht auf eine mündliche Berufungsverhandlung
auch mit Blick darauf, dass der Sachverhalt strittig ist, es sich um eine
klassische "Aussage gegen Aussage"-Situation handelt und die Vorinstanz zu
Ungunsten des Beschwerdeführers vom erstinstanzlich festgestellten Sachverhalt
abweicht (vgl. BGE 140 IV 196 E. 4.4.1 S. 199 mit Hinweisen; 139 IV 290 E. 1.3
S. 293). Die Befragung der Parteien hätte es ihr insbesondere ermöglicht, einen
persönlichen Eindruck von deren Aussageverhalten und Glaubwürdigkeit zu
gewinnen und allenfalls die vom erstinstanzlichen Gericht und dem
Beschwerdeführer angeführten Widersprüche und Unklarheiten hinsichtlich der
Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 zu beseitigen. Es ist nicht ersichtlich, wie
die Vorinstanz ohne persönlichen Eindruck der Parteien beurteilen will, ob die
Anschuldigungen der Beschwerdegegnerin 2 glaubhaft sind.
Bei diesem Ergebnis kann dahingestellt bleiben, ob das schriftliche Verfahren
generell ausgeschlossen ist, wenn die Berufungsinstanz Beweisergänzungen im
Sinne von Art. 389 StPO anordnet (in diesem Sinne: NIKLAUS SCHMID,
Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 3 zu
Art. 406 StPO; DERS., Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl.
2013, N. 1567).

1.3.3. Dem Beschwerdeführer ist sodann zuzustimmen, dass sein Gesuch um
Verschiebung der zunächst angesetzten mündlichen Berufungsverhandlung von der
Vorinstanz zu Unrecht als mutwillig abgewiesen wurde. Die Lehrabschlussprüfung
in zwei Fächern am Tag nach der Berufungsverhandlung stellt einen hinreichenden
Verschiebungsgrund im Sinne von Art. 92 StPO dar. Ein Strafverfahren stellt für
die beschuldigte Person regelmässig eine erhebliche Belastung dar (vgl. BGE 120
IV 17 E. 2a/aa S. 19 mit Hinweis). Die Teilnahme an der Berufungsverhandlung
kurz vor Beginn der Prüfungen ist geeignet, die Vorbereitungen darauf zu
beeinträchtigen. Der Beschwerdeführer stand zudem unter besonderem Druck,
nachdem er die Lehrabschlussprüfung beim ersten Versuch nicht bestanden hatte.
Sachliche Gründe, die gegen eine Verschiebung der Berufungsverhandlung
sprechen, sind nicht ersichtlich und wurden von der Vorinstanz auch nicht
angeführt.

1.4. Das Vorgehen der Vorinstanz erweist sich als bundesrechtswidrig. Die
Beschwerde ist gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Sache
ist zur Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung mit Befragung der
Parteien sowie zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Damit
erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen.

2. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben, da die
Beschwerdegegnerin 2 im bundesgerichtlichen Verfahren keine Anträge gestellt
hat (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine
angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 12. August 2014 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Juni 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Der Gerichtsschreiber: M. Widmer

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