Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.864/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_864/2014

Urteil vom 16. Januar 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Rüedi, Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Andres.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch
Rechtsanwältin Dr. Christine Hehli Hidber,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Revision eines Strafbefehls,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, vom 3. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
Mit Strafbefehl vom 21. Juli 2011 büsste die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau
X.________ wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz mit Fr. 200.--.

 Auf das hiergegen erhobene Revisionsgesuch vom 25. Juni 2014 trat das
Obergericht des Kantons Aargau nicht ein.

B. 
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Beschluss des
Obergerichts sei aufzuheben und dieses anzuweisen, das Revisionsgesuch
materiell zu beurteilen.

 Die Oberstaatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Aargau verzichten
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz sei zu Unrecht nicht auf sein
Revisionsgesuch eingetreten. Dieses sei nicht rechtsmissbräuchlich, da er erst
nach Ablauf der Einsprachefrist erfahren habe, dass der verwendete
Drogenschnelltest unzuverlässig gewesen sei.

1.2. Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer könne im Revisionsverfahren
nicht nachholen, was er in einem auf Einsprache hin eingeleiteten ordentlichen
Verfahren hätte geltend machen können. Daran ändere nichts, dass er erst später
von der Fehlerhaftigkeit von Drogenschnelltests erfahren haben wolle (Beschluss
S. 3 f.). Damit stellt sie sich auf den Standpunkt, das Revisionsgesuch sei
rechtsmissbräuchlich.

1.3.

1.3.1. Wer durch ein Strafurteil oder einen Strafbefehl beschwert ist, kann
nach Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO die Revision verlangen, wenn neue, vor dem
Entscheid eingetretene Tatsachen oder neue Beweismittel vorliegen, die geeignet
sind, einen Freispruch oder eine wesentlich mildere Bestrafung der verurteilten
Person herbeizuführen. Unter Tatsachen sind Umstände zu verstehen, die im
Rahmen des dem Urteil zu Grunde liegenden Sachverhalts von Bedeutung sind. Mit
Beweismitteln wird der Nachweis von Tatsachen erbracht (BGE 137 IV 59 E. 5.1.1
S. 66). Tatsachen und Beweismittel sind neu, wenn das Gericht im Zeitpunkt der
Urteilsfällung keine Kenntnis von ihnen hatte, das heisst, wenn sie ihm nicht
in irgendeiner Form unterbreitet worden sind (BGE 137 IV 59 E. 5.1.2 S. 66 f.;
130 IV 72 E. 1 S. 73). Nach der Rechtsprechung kann ein neues Gutachten unter
anderem eine Revision rechtfertigen, wenn es geeignet ist, eine neue Tatsache
zu beweisen (BGE 137 IV 59 E. 5.1.2 S. 67; 101 IV 247 E. 2 S. 249; siehe auch
Urteil 6B_539/2008 vom 8. Oktober 2008 E. 1.3). Neue Tatsachen und Beweismittel
sind erheblich, wenn sie geeignet sind, die tatsächlichen Feststellungen, auf
die sich die Verurteilung stützt, zu erschüttern, und wenn die so veränderten
Tatsachen einen deutlich günstigeren Entscheid zugunsten des Verurteilten
ermöglichen (BGE 137 IV 59 E. 5.1.4 S. 68; 130 IV 72 E. 1 S. 73). Die Revision
ist zuzulassen, wenn die Abänderung des früheren Urteils wahrscheinlich ist.
Der Nachweis einer solchen Wahrscheinlichkeit darf nicht dadurch verunmöglicht
werden, dass für die neue Tatsache ein Beweis verlangt wird, der jeden
begründeten Zweifel ausschliesst (BGE 116 IV 353 E. 4e S. 360 f.).

1.3.2. Das Revisionsverfahren gemäss StPO gliedert sich grundsätzlich in zwei
Phasen, nämlich eine Vorprüfung (Art. 412 Abs. 1 und 2 StPO) sowie eine
materielle Prüfung der geltend gemachten Revisionsgründe (Art. 412 Abs. 3 und 4
sowie Art. 413 StPO). Es handelt sich dabei um ein zweistufiges Verfahren, für
welches das Berufungsgericht zuständig ist (Art. 412 Abs. 1 und 3 StPO).

 Gemäss Art. 412 Abs. 2 StPO tritt das Gericht auf das Revisionsgesuch nicht
ein, wenn es offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist oder es mit den
gleichen Vorbringen schon früher gestellt und abgelehnt wurde. Bei dieser
vorläufigen und summarischen Prüfung sind grundsätzlich die formellen
Voraussetzungen zu klären. Das Gericht kann jedoch auf ein Revisionsgesuch auch
nicht eintreten, wenn die geltend gemachten Revisionsgründe offensichtlich
unwahrscheinlich oder unbegründet sind (Urteile 6B_545/2014 vom 13. November
2014 E. 1.2; 6B_1163/2013 vom 7. April 2014 E. 1.2; 6B_415/2012 vom 14.
Dezember 2012 E. 1.1 mit Hinweisen).

1.3.3. Ein Gesuch um Revision eines Strafbefehls muss als missbräuchlich
qualifiziert werden, wenn es sich auf Tatsachen stützt, die dem Verurteilten
von Anfang an bekannt waren, die er ohne schützenswerten Grund verschwieg und
die er in einem ordentlichen Verfahren hätte geltend machen können, welches auf
Einsprache hin eingeleitet worden wäre. Demgegenüber kann die Revision eines
Strafbefehls in Betracht kommen wegen wichtiger Tatsachen oder Beweismitteln,
die der Verurteilte im Zeitpunkt, als der Strafbefehl erging, nicht kannte oder
die schon damals geltend zu machen für ihn unmöglich war oder keine
Veranlassung bestand (BGE 130 IV 72 E. 2.3 S. 75 f.). An dieser Rechtsprechung
ist grundsätzlich festzuhalten (siehe Urteile 6B_545/2014 vom 13. November 2014
E. 1.2 und 6B_310/2011 vom 20. Juni 2011 E. 1.3 und E. 1.5). Rechtsmissbrauch
ist nur mit Zurückhaltung anzunehmen. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob
unter den gegebenen Umständen das Revisionsgesuch dazu dient, den ordentlichen
Rechtsweg zu umgehen (vgl. BGE 130 IV 72 E. 2.2 S. 74 und E. 2.4 S. 76; Urteile
6B_1163/2013 vom 7. April 2014 E. 1.3 und 6S.61/2002 vom 16. Mai 2003 E. 3.4).

1.4. Der Beschwerdeführer wurde am 12. Januar 2011 mittels eines
Drogenschnelltests positiv auf Opiate getestet. Obwohl er bestritt, Opiate
konsumiert zu haben, wurde er mittels Strafbefehl verurteilt. Dagegen erhob er
keine Einsprache. In seinem Revisionsgesuch machte er geltend,
Drogenschnelltests würden eine nicht unerhebliche Fehlerquote aufweisen und
seien alleine, ohne zusätzliche Blut- oder Urintests, nicht geeignet, einen
Drogenkonsum zu beweisen. Er belegte sein Vorbringen mit verschiedenen
Dokumenten (Zeitungsberichten, einer Interpellation eines Grossrats und der
Antwort des Regierungsrats des Kantons Aargau) aus den Jahren 2012 bis 2014.
Insbesondere stützte er sich auf das über ihn erstellte verkehrspsychiatrische
Gutachten vom 7. Februar 2013. Daraus ergebe sich, dass ein
A.________-Betäubungsmittel-Schnelltest nicht aussagekräftig sei und nur einen
oberflächlichen, wissenschaftlich nicht abgesicherten Nachweis bezüglich Drogen
ergeben könne, und sehr zweifelhaft sei, ob der Beschwerdeführer je Heroin
konsumiert habe. Dieser argumentierte, die Beweismittel hätten der
Staatsanwaltschaft beim Erlass des Strafbefehls nicht vorgelegen. Auch habe sie
sich nicht mit der Erkenntnis auseinandergesetzt, dass Drogenschnelltests
unzuverlässig seien, weshalb diese revisionsrechtlich als neu gelte. Ferner
seien die neuen Tatsachen und Beweismittel erheblich, da sie das Resultat des
Drogenschnelltests zu erschüttern vermöchten. Schliesslich wies der
Beschwerdeführer darauf hin, dass ihm die Fehleranfälligkeit des bei ihm
durchgeführten Drogenschnelltests nicht bekannt gewesen sei, als er den
Strafbefehl erhalten habe. Er habe erst über diverse Medienberichte erfahren,
dass die Tests nicht zuverlässig seien. Zu diesem Zeitpunkt sei die
Einsprachefrist bereits abgelaufen gewesen.

1.5. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, indem sie auf das Revisionsgesuch
nicht eintritt. Aus ihrem Beschluss ergibt sich nicht, dass dem
Beschwerdeführer die mögliche Unzuverlässigkeit des Drogenschnelltests bereits
vor Ablauf der Einsprachefrist bekannt war. Folglich hätte er diesen Umstand
nicht in einem ordentlichen Verfahren einbringen können. Da er bestritt, Opiate
konsumiert zu haben, wäre zwar zu erwarten gewesen, dass er sich gegen die
Verurteilung wehrt und Einsprache erhebt. Dies führt jedoch nicht dazu, dass
sein Revisionsgesuch von vornherein unzulässig ist. Der vorliegende Fall
unterscheidet sich klar von jenen, die das Bundesgericht als
rechtsmissbräuchlich bezeichnete. Bei Letzteren waren den Beschwerdeführern die
angeblich neuen Tatsachen oder Beweismittel bereits vor Ablauf der
Einsprachefrist bekannt (beispielsweise BGE 130 IV 72 E. 2.4 S. 76; Urteile
6B_310/2011 vom 20. Juni 2011 E. 1.5; 6B_172/2014 vom 28. April 2014 E. 4;
6B_54/2014 vom 24. April 2014 E. 4). Das Revisionsgesuch des Beschwerdeführers
ist nicht rechtsmissbräuchlich. Die Vorinstanz hat darauf einzutreten und zu
prüfen, ob die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Tatsache (Unzuverlässigkeit
des Drogenschnelltests) und die eingereichten Beweismittel tatsächlich neu und
erheblich im Sinne von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO sind, da es sich dabei um
Tatfragen handelt (vgl. BGE 130 IV 72 E. 1 S. 73).

2. 
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Beschluss aufzuheben und die
Sache zur Prüfung der geltend gemachten Revisionsgründe (vgl. Art. 412 Abs. 3
und 4 sowie Art. 413 StPO) an die Vorinstanz zurückzuweisen.

 Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau
hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 3. Juli 2014 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an das
Obergericht zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr.
3'000.-- auszurichten.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Januar 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Andres

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