Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.857/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_857/2014

Urteil vom 5. Februar 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Schär.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Fürsprecher Dr. Stefan Werlen,
Beschwerdeführer,

gegen

1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 20,
Wielandhaus, 5001 Aarau,
2. A.________,
Beschwerdegegnerinnen.

Gegenstand
Mehrfaches Ausnützen einer Notlage (Art. 193 Abs. 1 StGB); Willkür,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht,
1. Kammer, vom 10. Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau wirft X.________ in der
Anklageschrift vom 31. Oktober 2012 vor, er habe die bei ihm und seiner Familie
im Haushalt wohnhafte A.________ während mehreren Monaten regelmässig dazu
gebracht, mit ihm geschlechtlich zu verkehren, indem er sie im Wissen um ihre
eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten und ihre psychische Abhängigkeit unter
Druck gesetzt habe. Damit habe sich X.________ der mehrfachen Vergewaltigung,
eventuell der mehrfachen Ausnützung einer Notlage schuldig gemacht.

B. 
Am 6. März 2013 sprach das Bezirksgericht Aarau X.________ der mehrfachen
Ausnützung einer Notlage schuldig. Vom Vorwurf der mehrfachen Vergewaltigung
sprach es ihn frei. Es verurteilte X.________ zu einer bedingten
Freiheitsstrafe von 15 Monaten und einer Busse von Fr. 1'500.--. Ferner wurde
er zur Zahlung einer Genugtuung im Umfang von Fr. 10'000.-- und Schadenersatz
von Fr. 13'936.-- zuzüglich Zins an A.________ verpflichtet.

Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 10. Juli 2014 die Berufung von
X.________ ab.

C. 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene
Urteil sei aufzuheben und er sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
In prozessualer Hinsicht beantragt X.________, der Beschwerde sei die
aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Schliesslich ersucht er für das
bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

D. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wurde mit
Verfügung vom 10. November 2014 abgewiesen, da X.________ seine Mittellosigkeit
nicht ausreichend belegt hatte.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer bestreitet die Tatvorwürfe, während er nicht in Abrede
stellt, dass es zwischen ihm und der Beschwerdegegnerin 2 zu sexuellen
Kontakten kam. Die Initiative zum Geschlechtsverkehr sei beim ersten Mal von
ihm, später jedoch von beiden Seiten ausgegangen. Der Beschwerdeführer
bemängelt die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung in mehrfacher Hinsicht.

1.1. Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann vor Bundesgericht nur
gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie
willkürlich ist (BGE 139 II 404 E. 10.1 S. 445 mit Hinweisen; vgl. zum
Willkürbegriff: BGE 138 I 305 E. 4.3 S. 319 mit Hinweis). Die Willkürrüge muss
in der Beschwerde explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden (Art.
106 Abs. 2 BGG). Auf eine rein appellatorische Kritik am angefochtenen Urteil
tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 5 mit Hinweis).

1.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz stelle einseitig auf
die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 ab, obschon Zweifel an deren
Glaubhaftigkeit bestünden. Beispielsweise habe sie bezüglich der Frage, wer
nach ihrem Auszug wen angerufen habe, nicht die Wahrheit gesagt. Die Würdigung
seiner eigenen Aussagen sei ebenfalls unzutreffend. Im Nachgang zur
erstinstanzlichen Verhandlung seien bei ihm bisher unbekannte gesundheitliche
Einschränkungen auf geistiger Ebene zum Vorschein gekommen. Aufgrund einer
Intelligenzminderung sei er nicht in der Lage gewesen, zu verstehen, dass es
sich beim sexuellen Kontakt zwischen ihm und der Beschwerdegegnerin 2 um etwas
anderes als um einen einvernehmlichen Akt zwischen Erwachsenen gehandelt haben
könnte. Diese Tatsache sei der Vorinstanz unter Beilage des Arztberichts von
Dr. med. B.________, Fachärztin FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, Aarau,
am 21. November 2013 zur Kenntnis gebracht worden. Gleichzeitig habe er
beantragt, es sei ein ergänzender Arztbericht oder ein psychiatrisches
Gutachten über ihn einzuholen. Die Vorinstanz habe den Beweisantrag abgelehnt.
Sie setze ihre eigene Einschätzung über diejenige einer fachärztlichen
Abklärung und Begutachtung. Ein Gutachten wäre sowohl zur Frage, ob er
überhaupt fähig war, das Abhängigkeitsverhältnis zu erkennen, als auch zu
seiner Schuldfähigkeit angezeigt gewesen.

1.3. Das Prüfen der Glaubhaftigkeit von Aussagen ist primär Sache der Gerichte
(BGE 129 I 49 E. 4 S. 57). Ein Anspruch der Parteien, mit ihren Beweisanträgen
und Vorbringen gehört zu werden, besteht nur, soweit diese erhebliche Tatsachen
betreffen und nicht offensichtlich beweisuntauglich sind. Ein Verzicht auf die
Abnahme von Beweisen ist zulässig, wenn sich das Gericht aufgrund der bereits
erhobenen Beweise seine Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in
vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen kann, dass die abgelehnten
Beweisanträge nichts an seiner Überzeugung zu ändern vermögen (BGE 134 I 140 E.
5.3 S. 148 mit Hinweis).

Besteht ernsthafter Anlass, an der Schuldfähigkeit des Täters zu zweifeln, so
ordnet die Untersuchungsbehörde oder das Gericht die Begutachtung durch einen
Sachverständigen an (Art. 20 StGB). Ein Gutachten ist anzuordnen, wenn das
Gericht ernsthafte Zweifel an der Schuldfähigkeit hat oder nach den Umständen
des Falls haben sollte. Bei der Prüfung dieser Zweifel ist zu berücksichtigen,
dass nicht jede geringfügige Herabsetzung der Fähigkeit, sich zu beherrschen,
genügt, um verminderte Schuldfähigkeit anzunehmen. Der Betroffene muss vielmehr
in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen. Seine Geistesverfassung muss
nach Art und Grad stark vom Durchschnitt nicht bloss der Rechts-, sondern auch
der Verbrechensgenossen abweichen. Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen
zuzuziehen, ist erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind,
Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein
Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder ein völlig unübliches
Verhalten. Zeigt das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat, dass
ein Realitätsbezug erhalten war, dass er sich an wechselnde Erfordernisse der
Situation anpassen, auf eine Gelegenheit zur Tat warten oder diese gar
konstellieren konnte, so hat eine schwere Beeinträchtigung nicht vorgelegen (
BGE 133 IV 145 E. 3.3 S. 147 f. mit Hinweisen).

1.4. Die Vorinstanz hält fest, gemäss Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 habe
der Beschwerdeführer sie unter Druck gesetzt und zum Geschlechtsverkehr
überredet. Er habe ihr gesagt, der Sex sei eine Art Gegenleistung, damit sie
bei ihm und seiner Familie wohnen dürfe. Zudem habe er ihr gedroht, dass ihr
das Kind weggenommen werde, falls sie seine Familie verlassen und unbetreut
wohnen würde. Wenn sie sich ihm verweigert habe, habe er herumgeschrien. Der
Beschwerdeführer seinerseits habe bestätigt, der Beschwerdegegnerin 2 gesagt zu
haben, wenn sie ausziehen und allein wohnen würde, riskiere sie den Verlust des
Obhutsrechts. Weiter habe er gewusst, dass die Beschwerdegegnerin 2 bereits
seit längerem eine "krankhafte Angst" davor hatte, die Obhut über ihr Kind zu
verlieren. Der Beschwerdeführer habe der Beschwerdegegnerin 2 schliesslich
erzählt, seine Ex-Freundin einmal mit einer Waffe bedroht zu haben.

Die Vorinstanz erwägt, die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 enthielten eine
Vielzahl von Realkriterien. Sie habe auch ausgefallene und nebensächliche
Einzelheiten geschildert. Zudem habe sie auf Mehrbelastungen verzichtet.
Beispielsweise habe sie zugegeben, dass der Wunsch nach sexuellen Kontakten
teilweise von ihr ausgegangen sei. Insgesamt seien die Aussagen der
Beschwerdegegnerin 2 konstant, schlüssig und nachvollziehbar. Im Gegensatz dazu
stuft die Vorinstanz die Aussagen des Beschwerdeführers als wenig glaubhaft
ein. Seine Antworten seien ausweichend und er habe versucht, die Aussagen der
Beschwerdegegnerin 2 abzuschwächen. Schliesslich habe er sich gar in der
Opferrolle gesehen. Er habe behauptet, die Beschwerdegegnerin 2 habe teilweise
Sex von ihm verlangt, obwohl er müde gewesen sei.

Die Vorinstanz erachtet es als erstellt, dass der Beschwerdeführer die
vorbestehenden Ängste der Beschwerdegegnerin 2 bezüglich eines Obhutsverlusts
im Hinblick auf die Erlangung des Geschlechtsverkehrs bewusst vergrössert hat.
Durch subtilen Druck habe er dazu beigetragen, dass sie sich in einer
ausweglosen Lage wähnte. In diesem Zusammenhang sei unbedeutend, ob effektiv
Hilfsangebote oder Handlungsalternativen vorhanden gewesen seien. Entscheidend
sei einzig, ob nach der Vorstellung des Opfers eine Notsituation bestehe und ob
dies vom Täter erkannt und ausgenützt werde. Aufgrund ihrer eingeschränkten
kognitiven Fähigkeiten und des damit einhergehenden Unvermögens in
administrativen Angelegenheiten sei der Beschwerdegegnerin 2 nicht bewusst
gewesen, dass sie in Tat und Wahrheit gar nicht auf die Hilfe des
Beschwerdeführers angewiesen war. Nebst der Angst, das Obhutsrecht über die
Tochter zu verlieren, habe die Beschwerdegegnerin 2 auch den Verlust
finanzieller Vorteile befürchtet. Wegen des erheblichen psychischen sowie
finanziellen Drucks sei die Beschwerdegegnerin 2 in ihrer Steuerungsfähigkeit
in Bezug auf das Eingehen sexueller Handlungen eingeschränkt gewesen. Dies sei
für den Beschwerdeführer trotz seines behaupteten tiefen Intelligenzquotienten
erkennbar gewesen. Er habe die Situation bewusst ausgenutzt.

1.5. Die Vorinstanz setzt sich eingehend mit den Aussagen der beiden
Beteiligten auseinander und begründet in nachvollziehbarer Weise, weshalb sie
die Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 in Bezug auf das Kerngeschehen der Tat,
im Gegensatz zu denjenigen des Beschwerdeführers, als glaubhaft erachtet. Dass
die Beschwerdegegnerin 2 bezüglich der Frage, wer nach ihrem Auszug wen
kontaktierte, angeblich falsche Angaben gemacht hat, lässt die Beweiswürdigung
insgesamt nicht als offensichtlich unrichtig erscheinen. Gestützt auf die
Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 sowie diejenigen des Beschwerdeführers geht
die Vorinstanz davon aus, der Beschwerdeführer habe die Ängste der
Beschwerdegegnerin 2 gekannt und Andeutungen bezüglich eines Obhutsverlusts
gemacht. Sie durfte daraus willkürfrei schliessen, dass der Beschwerdeführer,
ungeachtet seines angeblich reduzierten Intelligenzquotienten, in der Lage war,
die Gefühlslage und Gedankengänge der Beschwerdegegnerin 2 zu erkennen und sie
zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Weder musste die Vorinstanz an der
Erkennbarkeit des Abhängigkeitsverhältnisses noch an der Schuldfähigkeit des
Beschwerdeführers zweifeln. Sie durfte in vorweggenommener Beweiswürdigung auf
die Einholung eines Gutachtens verzichten. Daran ändert das Schreiben von Dr.
med. B.________ nichts, welches der Beschwerdeführer neu ins Recht legt. Im
Übrigen handelt es sich dabei um ein unbeachtliches Novum (Art. 99 Abs. 1 BGG).

1.6. Der Beschwerdeführer bemängelt weiter, die "Glaubwürdigkeit in der Sache
selbst" sei nicht geprüft worden. Bestimmte Aussagen ("bis zu sechsmal täglich
erzwungener Sex" und "man habe die Beschwerdegegnerin 2 vergiften wollen")
würden kritiklos übernommen. Es ist unklar, auf welche Erwägungen des
vorinstanzlichen Urteils sich seine Kritik bezieht, weshalb darauf nicht näher
einzugehen ist.

2. 
Unter dem Titel "Verletzung von Bundesrecht" rügt der Beschwerdeführer
verschiedene Elemente des objektiven und subjektiven Tatbestands von Art. 193
StGB. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, es habe kein
Abhängigkeitsverhältnis bestanden, die Beschwerdegegnerin 2 habe
Wohnalternativen gehabt und er habe die Situation aufgrund seines niedrigen
Intelligenzquotienten falsch eingeschätzt. Damit weicht der Beschwerdeführer
vom verbindlichen Sachverhalt der Vorinstanz ab, ohne Willkür darzutun. Darauf
ist nicht einzutreten. Dass die Vorinstanz von einem falschen Begriff der
Notlage oder des Abhängigkeitsverhältnisses ausgeht, wird nicht geltend
gemacht.

3. 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei
diesem Ausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art.
66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegnerin 2 ist keine Entschädigung zuzusprechen,
da ihr im bundesgerichtlichen Verfahren keine Umtriebe entstanden sind. Mit dem
Entscheid in der Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos
geworden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 5. Februar 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Schär

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