Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.385/2014
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2014
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2014


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_385/2014

Urteil vom 23. April 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.

Verfahrensbeteiligte
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Thomas Schütt,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Anrechnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft, Überhaft, Genugtuung

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, vom 10. Februar 2014.

Sachverhalt:

A. 
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führte gegen X.________ ein
Strafverfahren wegen verschiedener Delikte, unter anderem wegen
Körperverletzungsdelikten. X.________ befand sich vom 24. Juni 2012 bis zum 17.
April 2013, mithin während 298 Tagen, in Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft.
Während der Haftdauer wurde kein vorzeitiger Massnahmenvollzug angeordnet. Die
Haft diente der Verhinderung weiterer Straftaten.

B. 
Das Bezirksgericht Winterthur erkannte mit Urteil vom 17. April 2013, dass
X.________ die Straftatbestände der versuchten schweren Körperverletzung, der
qualifizierten einfachen Körperverletzung, der Tätlichkeiten und der
Sachbeschädigung erfüllt hatte. Es sprach ihn von diesen Anklagevorwürfen wegen
Schuldunfähigkeit jedoch frei. Hingegen erklärte es ihn des mehrfachen
Hausfriedensbruchs schuldig. Es bestrafte X.________ mit einer unbedingten
Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 30.--. Gleichzeitig ordnete es eine
stationäre therapeutische Massnahme an. Das Bezirksgericht stellte fest, dass
sich X.________ im vorliegenden Verfahren während 208 Tagen in Überhaft
befunden hatte. Es sprach ihm hierfür (nach Abzug von 11 Tagen, die an
Ersatzfreiheitsstrafen gemäss diversen Strafbefehlen angerechnet werden
konnten) im Umfang von 197 Tagen eine Genugtuung von Fr. 12'000.-- zu.
Auf Berufung der Staatsanwaltschaft und Anschlussberufung von X.________ hin
bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 10. Februar 2014 das
bezirksgerichtliche Urteil, soweit dieses nicht in Rechtskraft erwachsen war.

C. 
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich erhebt Beschwerde in Strafsachen.
Sie beantragt, das obergerichtliche Urteil vom 10. Februar 2014 sei wegen
Verletzung von Art. 431 Abs. 2 und 3 StPO aufzuheben und die Strafsache zu
neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

D. 
Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Vernehmlassung.
X.________ beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerdeführerin erhielt den angefochtenen Entscheid gemäss
Empfangsschein der Vorinstanz am 26. März 2014. Die Beschwerde wurde der
Schweizerischen Post am 24. April 2014 übergeben und ist damit offensichtlich
rechtzeitig.

2.

2.1. Der Beschwerdegegner befand sich vom 24. Juni 2012 bis zum 17. April 2013
in Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. Die Haft diente der Verhinderung
weiterer Straftaten. Sie war im Zeitpunkt ihrer Anordnung rechtmässig;
Haftgrund und Haftvoraussetzungen lagen vor. Nach Ausfällung des Urteils
stellte sich heraus, dass die ausgestandene Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft
von insgesamt 298 Tagen die bedingt ausgesprochene Geldstrafe von 90
Tagessätzen im Umfang von 208 Tagen überstieg und insofern übermässig war. Nach
Abzug von 11 Tagen, die an Ersatzfreiheitsstrafen gemäss diversen Strafbefehlen
angerechnet werden konnten, verblieb eine Überhaft von 197 Tagen.

2.2. Die Vorinstanz entschädigt den Beschwerdegegner hierfür auf der Grundlage
von Art. 431 Abs. 2 StPO mit einer Genugtuung von Fr. 12'000.--. Sie erwägt,
die verbüsste Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft im Umfang von 197 Tagen könne
nicht an die angeordnete stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art.
59 StGB angerechnet werden, weil der Behandlungszweck der Massnahme und nicht
der Freiheitsentzug im Vordergrund stehe. Mit Hilfe der Massnahme bestehe die
intakte Aussicht, die Rückfallgefahr signifikant zu senken. Da sich die
Massnahmendauer danach bemesse, in welcher Zeit das Massnahmenziel zu erreichen
sei, mache eine Anrechnung der Haft auf die Dauer der Massnahme logisch
betrachtet keinen Sinn (Entscheid, S. 32 ff.).

2.3. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die dem Beschwerdegegner
zugesprochene Genugtuung. Sie rügt eine Verletzung von Art. 431 Abs. 2 und 3
StPO. Die Vorinstanz gelange zu Unrecht zum Schluss, dass Untersuchungs- bzw.
Sicherheitshaft nicht auch an freiheitsentziehende Massnahmen im Sinne von Art.
56 ff. StGB anzurechnen sei. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf den Willen
des Gesetzgebers, den Wortlaut von Art. 431 Abs. 2 StPO sowie auf Sinn und
Zweck von freiheitsentziehenden Massnahmen.

2.4. Damit ist vorliegend die Frage zu klären, ob Untersuchungs- bzw.
Sicherheitshaft an freiheitsentziehende Massnahmen gemäss Art. 56 ff. StGB,
konkret an stationäre therapeutische Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB,
angerechnet werden kann. Ist die Frage zu bejahen, d.h. kann angerechnet
werden, hat dies zur Folge, dass ein Entschädigungsanspruch grundsätzlich
entfällt. Soweit ersichtlich, hat sich das Bundesgericht hierzu noch nie
geäussert (vgl. Urteil 6B_297/2013 vom 27. Mai 2013 E. 3, worin die Frage
offengelassen wurde).

3.

3.1. Sind gegenüber der beschuldigten Person rechtswidrig Zwangsmassnahmen
angewandt worden, so spricht ihr die Strafbehörde eine angemessene
Entschädigung und Genugtuung zu (Art. 431 Abs. 1 StPO). Im Fall von
Untersuchungs- und Sicherheitshaft besteht der Anspruch, wenn die zulässige
Haftdauer überschritten ist und der übermässige Freiheitsentzug nicht an die
wegen anderer Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann
(Art. 431 Abs. 2 StPO). Der Anspruch nach Abs. 2 entfällt, wenn die
beschuldigte Person zu einer Geldstrafe, zu gemeinnütziger Arbeit oder zu einer
Busse verurteilt wird, die umgewandelt eine Freiheitsstrafe ergäbe, die nicht
wesentlich kürzer wäre als die ausgestandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft
(Art. 431 Abs. 3 lit. a StPO), oder wenn sie zu einer bedingten Freiheitsstrafe
verurteilt wird, deren Dauer die ausgestandene Untersuchungs- und
Sicherheitshaft überschreitet (Art. 431 Abs. 3 lit. b StPO).

3.2. Art. 431 StPO gewährleistet mithin Anspruch auf Entschädigung und
Genugtuung bei rechtswidrigen Zwangsmassnahmen (Abs. 1) oder bei Überhaft (Abs.
2). Sogenannte Überhaft liegt vor, wenn die Untersuchungs- und/oder
Sicherheitshaft unter Einhaltung der formellen und materiellen Voraussetzungen
rechtmässig angeordnet wurde, diese Haft den im Entscheid ausgesprochenen
Freiheitsentzug aber nicht erreicht, sondern länger dauert als die tatsächlich
ausgefällte Sanktion. Bei Überhaft nach Art. 431 Abs. 2 StPO ist also nicht die
Haft per se, sondern nur die Haftlänge ungerechtfertigt. Sie wird erst im
Nachhinein, d.h. nach Fällung des Urteils, übermässig ( WEHRENBERG/ FRANK, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Rz. 3 und
21 zu Art. 431 StPO; YVONA GRIESSER, Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Rz. 2 zu Art. 431 StPO mit Hinweis; NIKLAUS
SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, Rz.
2 zu Art. 431 StPO, welcher die Einreihung der Überhaft unter die Marginale
rechtswidrig angewandter Zwangsmassnahmen insoweit kritisiert).

3.3. Art. 431 Abs. 2 StPO stellt die Grundregel auf, dass Überhaft nur zu
entschädigen ist, wenn sie nicht an die wegen anderer Straftaten
ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann. Das steht im Einklang mit
der im Kern kongruenten Regel von Art. 51 StGB. Gestützt auf diese Bestimmung
rechnet das Gericht die Untersuchungshaft, die der Täter während dieses oder
eines anderen Verfahrens ausgestanden hat, auf die Strafe an (vgl. BGE 135 IV
126 E. 1.3.5). Als Untersuchungshaft gilt jede in einem Strafverfahren
verhängte Haft; Untersuchungs-, Sicherheits- und Auslieferungshaft (Art. 110
Abs. 7 StGB). Nach dem Wortlaut von Art. 51 StGB ist für die Anrechnung der
Haft weder Tat- noch Verfahrensidentität erforderlich (vgl. auch BGE 133 IV 150
E. 5.1 S. 154 ff.; Urteil 1B_179/2011 vom 17. Juni 2011 E. 4.2; je mit
Hinweisen). Anzurechnen ist sowohl auf unbedingte als auch auf bedingte Strafen
(vgl. BGE 135 IV 126 E. 1.3.6; Urteil 6B_75/2009 vom 2. Juni 2009 E. 4.3-4.4).
Art. 51 StGB liegt der Grundsatz der umfassenden Haftanrechnung zugrunde (so
schon Urteil 6S.421/2005 vom 23. März 2006 zu aArt. 69 StGB). Erst wenn eine
Anrechnung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft an eine andere Sanktion
nicht mehr erfolgen kann, stellt sich die Frage der finanziellen Entschädigung
(vgl. Urteil 6B_558/2013 vom 13. Dezember 2013 E. 1.5 mit Hinweisen). Der
Ausgleich von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft soll demnach in erster Linie
als Realersatz erfolgen. Es ist dabei primär auf Freiheitsstrafen anzurechnen,
sekundär auf allfällige Nebensanktionen wie Geldstrafen, Arbeitsstrafen oder
Bussen (vgl. BGE 135 IV 126 E. 1.3.6; 133 IV 150 E. 5.1 S. 155 mit Hinweisen).
Der Ausgleich in Form einer Entschädigung ist subsidiär. Der Betroffene hat
diesbezüglich kein Wahlrecht ( SCHMID, a.a.O., Praxiskommentar, Rz. 4, 5 und 8
zu Art. 431 StPO; DERSELBE, Schweizerische Strafprozessordnung, Handbuch des
Schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2013, Rz. 1826 ff. S. 816;
WEHRENBERG/ FRANK, a.a.O., Rz. 22 zu Art. 431 StPO; POPP/SEITZ, Ausgleich von
Untersuchungshaft, in Anwaltsrevue 2010, S. 163 ff., S. 167 f.).

3.4. Nicht geregelt ist im Gesetz die Frage der Anrechnung von Untersuchungs-
und Sicherheitshaft an freiheitsentziehende Massnahmen im Sinne von Art. 56 ff.
StGB. Die Meinungen im Schrifttum sind diesbezüglich geteilt. Nach der einen
Auffassung ist Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an freiheitsentziehende
Massnahmen anzurechnen ( YVONA GRIESSER, a.a.O., Rz. 11 zu Art. 431 StPO; siehe
auch SCHMID, a.a.O., Handbuch, Rz. 1828 S. 817). Die Vertreter dieser
Lehrmeinung verweisen zur Begründung ihres Standpunkts im Wesentlichen auf den
Willen des Gesetzgebers, wonach eine Anrechnung von Untersuchungs- und
Sicherheitshaft, falls möglich, auch an freiheitsentziehende Massnahmen erfolgt
(Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005,
BBl 2006 1085 ff., 1330). Nach einer anderen Ansicht ist die Anrechnung von
Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an stationäre Massnahmen des StGB hingegen
ausgeschlossen. Begründet wird dies mit der Zweckverschiedenheit der
Sanktionen. Massnahmen bezweckten im Unterschied zu Strafen nicht den
Freiheitsentzug, sondern die Behandlung des Täters bzw. den Schutz der
Bevölkerung ( WEHRENBERG/FRANK, a.a.O., Rz. 30b und c zu Art. 431 StPO). Eine
dritte Lehrmeinung nimmt eine im Ergebnis vermittelnde Position ein. Weder
befürwortet sie die Anrechnung von Haft an freiheitsentziehende Massnahmen
uneingeschränkt noch schliesst sie eine solche prinzipiell aus. Sie stellt
vielmehr auf die Art bzw. den Zweck der Massnahme ab. Soweit der Behandlungs-
bzw. Heilungszweck bei einer stationären therapeutischen Massnahme im Sinne von
Art. 59 StGB im Vordergrund steht, soll eine Anrechnung nicht in Frage kommen.
Steht hingegen der Sicherungszweck bzw. der Schutz der Öffentlichkeit im
Zentrum, müsse angerechnet werden können ( METTLER/SPICHTIN, in: Basler
Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Rz. 45 und 46 zu Art. 51 StGB;
vgl. auch PHILIPPE RUEDIN, Die Anrechnung der Untersuchungshaft nach dem
Schweizerischen Strafgesetzbuch, Diss. 1979, S. 122; in diesem Sinne wohl auch
TRECHSEL/AFFOLTER-EIJSTEN, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 2.
Aufl. 2012, Rz. 7 zu Art. 51 StGB mit Hinweisen; MARKUS HUGENTOBLER,
Gemeingefährliche psychisch kranke Personen in Untersuchungs- und
Sicherheitshaft, Diss. 2008, S. 137; GENEVIÈVE ZIRILLI, Problèmes relatifs à la
détention préventive, thèse Lausanne 1975, S. 138 ff.).

3.5. Stationäre therapeutische Massnahmen nach Art. 59 StGB sind im Unterschied
zu Strafen zeitlich relativ unbestimmt. Ihre Dauer hängt vom
Behandlungsbedürfnis des Betroffenen und der Erfolgsaussicht der Massnahme
(vgl. Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB), letztlich also von den Auswirkungen der
Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten ab (vgl. BGE 136 IV 156 E. 2.3).
Der mit ihr verbundene Freiheitsentzug beträgt in der Regel maximal fünf Jahre
und kann um jeweils höchstens fünf Jahre verlängert werden (Art. 59 Abs. 4
StGB). Das Ende der Massnahme wird damit im Unterschied zum Ende der Strafe
nicht durch simplen Zeitablauf bestimmt. Sie dauert vielmehr grundsätzlich so
lange an, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich eine Zweckerreichung als
aussichtslos erweist (zu publizierendes Urteil des Bundesgerichts 6B_227/2014
vom 11. Februar 2015 E. 2.1 und 2.2). Der Vollzug der Massnahme geht einer
allenfalls gleichzeitig ausgesprochenen Freiheitsstrafe voraus (Art. 57 Abs. 2
StGB). Der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug ist auf die Strafe
anzurechnen (Art. 57 Abs. 3 StGB; vgl. BGE 136 IV 156 E. 3.1).

3.6. Gegen die Anrechenbarkeit von Sicherheits- und Untersuchungshaft auf
freiheitsentziehende Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB spricht zumindest
vordergründig die relative zeitliche Unbestimmtheit der Massnahme und ihr
Zweck. Auf den ersten Blick erscheint es unbestreitbar nicht logisch,
Untersuchungs- und Sicherheitshaft auf eine Massnahme anzurechnen, deren Dauer
zeitlich verhältnismässig unbestimmt ist und sich nach dem Massnahmenziel
bestimmt ( WEHRENBERG/FRANK, a.a.O., Rz. 30b und c zu Art. 431 StPO). Indessen
stellt der Wortlaut von Art. 431 Abs. 2 StPO klar, dass Untersuchungs- und
Sicherheitshaft auch auf freiheitsentziehende Massnahmen anzurechnen ist. In
dieser Norm ist, anders als in Art. 51 StGB, ausdrücklich von Sanktionen und
nicht nur etwa von Strafen die Rede, welche Grundlage der Anrechnung bilden
können. Unter Sanktionen als Rechtsfolgen eines Deliktes werden aber nicht nur
Strafen verstanden, sondern auch Massnahmen im Sinne nach Art. 56 ff. StGB
(vgl. SCHWARZENEGGER/HUG/JOSITSCH, Strafrecht II, Strafen und Massnahmen, 8.
Aufl. 2007, S. 21). Die Anrechnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft auf
freiheitsentziehende Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB entspricht überdies
auch dem Willen des historischen Gesetzgebers (siehe Botschaft, a.a.O).
Schliesslich steht auch der Massnahmenzweck aus den nachfolgend genannten
Gründen einer Anrechnung nicht entgegen.

3.7. Die im StGB geregelten stationären Massnahmen verfolgen je nach Art,
Stossrichtung und Einwirkungsmitteln verschiedenartige kriminalpolitische
Belange. Ihr Zweck ergibt sich in erster Linie aus dem Gesetz. Bei stationären
therapeutischen Massnahmen im Sinne von Art. 59 ist die Behandlung und damit
die Besserung des Täters von zentraler Bedeutung (so bereits BGE 127 IV 154 E.
2d). Das Besserungsziel allein rechtfertigt die Anordnung einer Massnahme
jedoch nicht. Die Behandlung und damit die Besserung eines Täters stehen
letztlich vielmehr immer im Dienste der Gefahrenabwehr. Sie stellen lediglich
ein Mittel dar, mit welchem das Ziel, die Verhinderung oder Verminderung
künftiger Straftaten, erreicht werden soll (BGE 124 IV 246 E. 3b). In diesem
Sinne bedeutet jede Behandlung und Besserung eines Täters im Rahmen einer
stationären Einweisung gleichzeitig auch Sicherung für die Zeit der
Unterbringung. Das ergibt sich unmittelbar auch aus dem Wortlaut von Art. 59
Abs. 1 lit. b StGB. Danach ist eine stationäre therapeutische Massnahme nur
anzuordnen, wenn und soweit zu erwarten ist, dass sich dadurch der Gefahr
weiterer Straftaten begegnen lässt. Die Massnahme muss mit andern Worten im
Hinblick auf die Deliktsprävention Erfolg versprechen (BGE 137 IV 201 E. 1.3).
Oberstes Ziel deliktpräventiver Therapien ist die Reduktion des Rückfallrisikos
bzw. die künftige Straflosigkeit des Täters (BGE 124 IV 246 E. 3b). Eine
Besserung des Täters interessiert das Strafrecht grundsätzlich nur insoweit,
als sich diese im Erlöschen der Gefährlichkeit des Täters auswirkt, sich also
auf den Schutz der Öffentlichkeit vor weiterer Delinquenz bezieht (vgl. M
ARIANNE HEER, in Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Rz. 1 und
3 Vor Art. 56 StGB; SCHWARZENEGGER/HUG/JOSITSCH, a.a.O., S. 7, S. 21 f., S. 35
f., S. 162 f.).

3.8. Damit wird bei stationären therapeutischen Massnahmen nach Art. 59 StGB -
im Hinblick auf die Gefahr weiterer Straftaten - stets an die Gefährlichkeit
des Täters angeknüpft und geht es bei der Anordnung der Massnahme immer auch um
Sicherung. Dieser Zweck - die Verhinderung von weiteren Straftaten zum Schutz
der Allgemeinheit - kann auch der strafprozessualen Untersuchungs- bzw.
Sicherheitshaft zugrunde liegen. Gestützt auf Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist
Haft bei dringendem Tatverdacht und Wiederholungsgefahr zulässig. Die
beschuldigte Person soll von der Begehung von Verbrechen und schweren Vergehen
abgehalten werden (BGE 137 IV 84 E. 3.2). Im Sinne der Gefahrenabwehr will
dieser Haftgrund die Öffentlichkeit ebenfalls vor weiterer erheblicher
Delinquenz schützen (vgl. MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische
Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, Rz. 9 zu Art. 221 StPO; s.a. HUG/
SCHEIDEGGER, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014,
Rz. 31 zu Art. 221 StPO). Wenn und soweit ein Täter in diesem Sinne gefährlich
ist, von ihm also die Gefahr weiterer gravierender Straftaten ausgeht, handelt
es sich sowohl bei Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft als auch bei der
Unterbringung im Rahmen einer stationären therapeutischen Massnahme letztlich
um Freiheitsentzug zum Schutze der Allgemeinheit. Ausgehend hievon erscheint
die Anrechnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft an eine stationäre
therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 StGB im Sinne der Botschaft
folgerichtig und gerechtfertigt.

3.9. Dass und weshalb es sich im zu beurteilenden Fall anders verhalten und
eine Anrechenbarkeit ausgeschlossen sein sollte, ist nicht ersichtlich. Wie
sich aus den kantonalen Akten und dem erstinstanzlichen Entscheid ergibt,
diente die gegen den Beschwerdegegner angeordnete Untersuchungs- bzw.
Sicherheitshaft namentlich der Verhinderung von weiteren erheblichen
Körperverletzungsdelikten und damit dem Schutz der Öffentlichkeit (vgl.
kantonale Akten, HD 23/1-20; Verfügungen des Zwangsmassnahmengerichts des
Kantons Zürich vom 27. Juni 2012, vom 24. September 2012 sowie vom 23. November
2012). Die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft war rechtmässig und keineswegs
allzu lang. Den verantwortlichen Behörden kann kein irgendwie geartetes
widerrechtliches Verhalten vorgeworfen werden. Im Gegenteil. Die Haft wurde
erfolgreich dazu genutzt, um den Beschwerdegegner medikamentös einzustellen
(vgl. kantonale Akten, Gutachten, S. 44). Dass der Beschwerdegegner gefährlich
ist, zeigt sich in der Anordnung der stationären therapeutischen Massnahme. Das
psychiatrische Gutachten vom 25. März 2013 attestiert diesem eine schwere
psychische Erkrankung (Schizophrenie) und eine deutliche Rückfallgefahr für
weitere Gewalthandlungen ähnlich der Tatvorwürfe. Es empfiehlt die Anordnung
einer stationären therapeutischen Massnahme und rät von einer ambulanten
Behandlung ab (vgl. Verfahren 6B_366/2014 E. 2). Daraus ergibt sich, dass der
Beschwerdegegner die Öffentlichkeit erheblich gefährdet. Die angeordnete
stationäre therapeutische Massnahme dient damit neben der Behandlung des
Beschwerdegegners offenkundig auch dessen Sicherung. Insoweit verfolgten und
verfolgen die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft und die Massnahme den
gleichen Zweck. Die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft bildet unter diesem
Aspekt gewissermassen den Vorläufer der stationären therapeutischen Massnahme
und diese die Fortsetzung der Haft. Die vom Beschwerdegegner ausgestandene
Untersuchungs- und Sicherheitshaft im Umfang von 197 Tagen ist somit entgegen
der Auffassung der Vorinstanz und in Gutheissung der Beschwerde an die
angeordnete stationäre therapeutische Massnahme anzurechnen. Dies hat zur
Folge, dass ein Entschädigungsanspruch grundsätzlich entfällt.

4. 
Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht und ist aufzuheben. Die Sache
geht zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Das Bundesgericht hat
sich mit der Frage, wie die Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft an die
freiheitsentziehende Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB anzurechnen ist, an
dieser Stelle nicht im Einzelnen zu befassen. Der Botschaft lässt sich in
dieser Hinsicht nichts Genaueres entnehmen. Sie weist lediglich darauf hin,
dass es Aufgabe der Rechtsprechung sein werde, von Fall zu Fall eine
angemessene Anrechnung vorzunehmen (BBl 2006 1085 ff., 1330). Auch die
Lehrmeinung, welche eine Anrechnung von Haft an stationäre Massnahmen im Sinne
von Art. 59 StGB befürwortet, setzt sich mit der Problematik, wie anzurechnen
ist, nicht vertieft auseinander (siehe SCHMID, a.a.O., Handbuch, Rz. 1828 S.
817, der insoweit davon spricht, dem Richter eröffne sich hier ein weites Feld
fallbezogenen Ermessens; s.a. GRIESSER, a.a.O., Rz. 11 zu Art. 431 StPO).
Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass es im Lichte der vorstehenden Erwägungen
sachlich grundsätzlich als richtig erscheint, die Untersuchungs- bzw.
Sicherheitshaft an freiheitsentziehende Massnahmen im Sinne von Art. 59 StGB
prinzipiell im gleichen Umfang wie an eine Freiheitsstrafe anzurechnen. Eine
Entschädigung wäre demnach an sich nur geschuldet, wenn sich ex post zeigen
sollte, dass die konkrete Massnahmendauer im Einzelfall kürzer ist als die
anrechenbare Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft.

5. 
Die Beschwerde ist gutzuheissen.
Der Beschwerdegegner unterliegt mit seinem Antrag auf Abweisung der Beschwerde,
weshalb er grundsätzlich kostenpflichtig wird (Art. 66 Abs. 1 BGG). Jedoch ist
sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im
bundesgerichtlichen Verfahren gutzuheissen. Seine Bedürftigkeit ist erstellt
und sein Antrag auf Abweisung der Beschwerde kann nicht als aussichtslos
bezeichnet werden (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). Es sind keine Gerichtskosten
zu erheben (Art. 64 Abs. 1, Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Verteidiger des
Beschwerdegegners ist aus der Bundesgerichtskasse angemessen zu entschädigen
(Art. 64 Abs. 2 BGG). Dem Kanton Zürich ist keine Entschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts Zürich vom 10.
Februar 2014 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners, Rechtsanwalt Dr. Thomas Schütt, wird
aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. April 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben