Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1251/2014
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2014
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2014


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_1251/2014

Urteil vom 1. Juni 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Andres.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Bernard,
Beschwerdeführer,

gegen

1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
2. A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Brigitta Sonnenmoser,
Beschwerdegegnerinnen.

Gegenstand
Vergewaltigung; unmittelbare Beweisabnahme; rechtliches Gehör,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, vom 17. November 2014.

Sachverhalt:

A.

 Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X.________ am 17. November 2014
zweitinstanzlich wegen Vergewaltigung schuldig. Es verurteilte ihn unter
Berücksichtigung der rechtskräftigen erstinstanzlichen Schuldsprüche wegen
mehrfacher Drohung und Tätlichkeiten zu einer Freiheitsstrafe von 36 Monaten
sowie einer Busse von Fr. 400.--. Es ordnete eine stationäre therapeutische
Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB an und entschied über Schadenersatz- sowie
Genugtuungsbegehren.

 Hinsichtlich des Schuldspruchs wegen Vergewaltigung erachtet das Obergericht
zusammengefasst folgenden Sachverhalt als erwiesen:

 X.________ stiess die gehbehinderte A.________ am 26. August 2012 in einer
öffentlichen Toilette auf die WC-Schüssel und zog ihr Hose sowie Unterhose
hinunter. Daraufhin stiess er sie auf den Boden, hielt sie an den Schultern
fest, beugte sich über sie und drang gegen ihren Willen mit seinem Penis
vaginal in sie ein. Als sich A.________ wegdrehen konnte, packte X.________ sie
erneut und drang anal in sie ein.

B.

 X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen im Hauptpunkt, das
obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Abnahme der
beantragten Beweise sowie zur neuerlichen Beurteilung an das Bezirksgericht
Pfäffikon, eventualiter an das Obergericht zurückzuweisen. Ferner sei er aus
der Sicherheitshaft zu entlassen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

C.

 Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichten
auf eine Stellungnahme. A.________ liess sich nicht vernehmen.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung. Er rügt, indem die Vorinstanz in
unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung seine Anträge abweise, die
Beschwerdegegnerin 2 erneut einzuvernehmen sowie über diese ein
aussagepsychologisches Gutachten einzuholen, verletze sie Art. 9 sowie 29 Abs.
2 BV, Art. 10, 139 Abs. 2, Art. 343 und 345 StPO sowie Art. 6 Ziff. 2 EMRK.

1.2. Die Vorinstanz erwägt, vorliegend seien nicht nur Aussagen gegeneinander
abzuwägen, sondern es seien vielmehr auch objektive Beweismittel zu würdigen,
womit kein klassisches "Vier-Augen-Delikt" vorliege. Zudem seien die
Einvernahmen der Beschwerdegegnerin 2 umfassend, weshalb sie nicht erneut
einzuvernehmen sei. Obwohl das Gutachten zur körperlichen Untersuchung der
Beschwerdegegnerin 2 diese als "geringgradig mental retardiert" bezeichne,
seien keine Anzeichen ersichtlich, dass sich eine psychische Störung auf ihr
Aussageverhalten auswirken könnte. Im Gutachten werde darauf hingewiesen, dass
sie bewusstseinsklar gewesen sei und alle Fragen adäquat beantwortet habe. Ein
aussagepsychologisches Gutachten sei nicht notwendig, zumal die Beurteilung der
Glaubhaftigkeit von Aussagen zur Beweiswürdigung und damit zu den zentralen
Aufgaben des Gerichts gehöre (Urteil S. 8; kantonale Akten, act. 87 S. 3 ff.).

1.3. Das Rechtsmittelverfahren beruht grundsätzlich auf den bereits erhobenen
Beweisen (Art. 389 Abs. 1 StPO). Das Berufungsgericht erhebt Beweise erneut,
wenn die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung
notwendig erscheint (vgl. Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO). Die
Abnahme eines Beweismittels ist notwendig, wenn sie den Ausgang des Verfahrens
beeinflussen kann. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Kraft des
Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner
Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den
unmittelbaren Eindruck einer Zeugenaussage ankommt, so wenn die Aussage das
einzige direkte Beweismittel (Aussage gegen Aussage) darstellt. Alleine der
Inhalt der Aussage einer Person (was sie sagt), lässt eine erneute
Beweisabnahme nicht notwendig erscheinen. Massgebend ist, ob das Urteil in
entscheidender Weise von deren Aussageverhalten (wie sie es sagt) abhängt. Das
Gericht verfügt bei der Frage, ob eine erneute Beweisabnahme erforderlich ist,
über einen Ermessensspielraum (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2 S. 199 f. mit
Hinweisen).

 Gemäss Art. 139 StPO setzen die Strafbehörden zur Wahrheitsfindung alle nach
dem Stand von Wissenschaft und Erfahrung geeigneten Beweismittel ein, die
rechtlich zulässig sind (Abs. 1). Über Tatsachen, die unerheblich, offenkundig,
der Strafbehörde bereits bekannt oder rechtsgenügend erwiesen sind, wird nicht
Beweis geführt (Abs. 2; vgl. auch die Art. 6 und 318 Abs. 2 StPO). Diese
Bestimmung kodifiziert das von der Rechtsprechung vor Inkrafttreten der
Strafprozessordnung aus Art. 29 Abs. 2 BV abgeleitete Recht der Strafbehörden,
eine antizipierte Beweiswürdigung vorzunehmen (Urteile 6B_1206/2014 vom 25.
Februar 2015 E. 2.2.2 und 1B_653/2011 vom 19. März 2012 E. 5.2; Botschaft vom
21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1182
Ziff. 2.4.1.1). Danach kann das Gericht, ohne den Anspruch auf rechtliches
Gehör (Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO sowie Art. 29 Abs. 2 BV) zu
verletzen, einen Beweisantrag ablehnen, wenn es in willkürfreier Würdigung der
bereits abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der rechtlich erhebliche
Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und es überdies in willkürfreier
antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise annehmen kann, seine
Überzeugung werde dadurch nicht mehr geändert (vgl. BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236
f. mit Hinweisen; zum Begriff der Willkür: BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266; 139
III 334 E. 3.2.5 S. 339).

1.4. Die Vorinstanz würdigt neben den Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 und des
Beschwerdeführers das Gutachten zur körperlichen Untersuchung der
Beschwerdegegnerin 2 sowie jenes zur Auswertung und Beweiswertberechnung von
DNA-Spuren. Wie der Beschwerdeführer zutreffend einwendet, belegen die
gutachterlichen Feststellungen den angeklagten Sachverhalt nicht direkt,
sondern sind allenfalls geeignet, die Sachverhaltsschilderung der
Beschwerdegegnerin 2 zu stützen (vgl. Urteil S. 14 f.). Die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung sowie Beweiswürdigung und damit letztlich die
Verurteilung des Beschwerdeführers beruhen damit hauptsächlich auf den Aussagen
der Beschwerdegegnerin 2. Da diese folglich den einzigen direkten Beweis
darstellen, liegt eine eigentliche "Aussage gegen Aussage"-Situation vor.
Dieser Umstand sowie der ungeklärte mentale Gesundheitszustand der
Beschwerdegegnerin 2 und die Bedeutung ihrer Aussagen für den Ausgang des
Verfahrens lassen eine unmittelbare Beweisabnahme durch das Gericht für die
Urteilsfällung im Sinne von Art. 343 Abs. 3 StPO als notwendig erscheinen. Der
Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO sowie
Art. 29 Abs. 2 BV) gewährt keine über Art. 343 und 389 StPO hinausgehende
Rechte (vgl. Urteile 6B_970/2013 vom 24. Juni 2014 E. 2.1 und 6B_721/2012 vom
27. Juni 2013 E. 2.1).

 Die persönliche Einvernahme der Beschwerdegegnerin 2 wäre auch notwendig
gewesen, um über den Antrag auf deren psychologische Begutachtung zu
entscheiden. Zwar weist die Vorinstanz zutreffend darauf hin, dass die Prüfung
der Glaubhaftigkeit von Aussagen primär Aufgabe des Gerichts ist (vgl. BGE 129
I 49 E. 4 S. 57; 128 I 81 E. 2 S. 86 mit Hinweisen). Jedoch ist nicht
einsichtig, wie die Vorinstanz ohne persönlichen Eindruck der
Beschwerdegegnerin 2 beurteilen will, ob bei dieser Anzeichen ersichtlich sind,
dass sich eine psychische Störung auf ihr Aussageverhalten auswirken könnte.
Insofern verfällt die Vorinstanz in Willkür, wenn sie, ohne die
Beschwerdegegnerin 2 je gesehen oder ihren mentalen Gesundheitszustand näher
abgeklärt zu haben, den Antrag auf Begutachtung abweist. Sobald sich die
Vorinstanz einen persönlichen Eindruck von der Beschwerdegegnerin 2 verschafft
hat, wird sie erneut zu prüfen haben, ob eine sachverständige Person beigezogen
werden muss (vgl. hierzu BGE 129 IV 179 E. 2.4 S. 184; Urteile 6B_667/2013 vom
20. Februar 2014 E. 2.4.5 und 6B_703/2012 vom 3. Juni 2013 E. 5.3; je mit
Hinweisen).

2.

 Die Beschwerde ist im Hauptpunkt gutzuheissen, weshalb auf die weiteren Rügen
grundsätzlich nicht eingegangen werden muss. Der Beschwerdeführer ersucht
darum, aus der Sicherheitshaft entlassen zu werden. Darauf kann nicht
eingetreten werden, weil die Haftentlassung nicht Gegenstand des
vorinstanzlichen Urteils ist und die Zuständigkeit dazu nicht mit der
Beschwerde in Strafsachen auf das Bundesgericht übergegangen ist (vgl. Urteil
6B_123/2014 vom 2. Dezember 2014 E. 5, nicht publ. in: BGE 141 IV 10).

3.

 Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das
angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Der nicht näher begründete Antrag, die Sache sei an
die erste Instanz zurückzuweisen, ist abzuweisen. Mit der Rückweisung an die
Vorinstanz erleidet der Beschwerdeführer keinen Rechtsnachteil, da die
Vorinstanz über umfassende Kognition in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht
verfügt (vgl. Art. 398 Abs. 2 sowie 3 StPO), und das neue Urteil wiederum mit
Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht angefochten werden kann (vgl. Art.
32 Abs. 3 BV).

 Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Die
Beschwerdegegnerin 2 hat sich nicht vernehmen lassen und keine Anträge
gestellt, weshalb sie keine Gerichtskosten zu tragen und keine
Parteientschädigung zu entrichten hat. Der Kanton Zürich hat den
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu
entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss
seinem Rechtsvertreter auszurichten. Damit wird das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 17. November 2014 wird aufgehoben und die
Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Kanton Zürich hat dem Vertreter des Beschwerdeführers eine Entschädigung
von Fr. 3'000.-- auszurichten.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Juni 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Andres

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben