Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.1155/2014
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2014
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2014


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_1155/2014

Urteil vom 19. August 2015

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Bundesrichterin Jametti,
Gerichtsschreiberin Andres.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Werner Schib,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus,
5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Einsprache gegen Strafbefehl; Zustellfiktion, Zuständigkeit,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 13. Oktober 2014.

Sachverhalt:

A. 
X.________ wurde am 11. Juni 2014, um 12.01 Uhr, auf der Autobahn A1 in
Othmarsingen von einer Polizeipatrouille gefilmt, als er mit seinem
Personenwagen auf dem Überholstreifen einem anderen Fahrzeug mit mutmasslich
ungenügendem Abstand folgte. Er wurde deswegen polizeilich angehalten und
einvernommen. Aus dem von X.________ vor Ort unterschriebenen Polizeirapport
geht hervor, dass ihm mitgeteilt wurde, er werde bei der Staatsanwaltschaft
Lenzburg-Aarau verzeigt und von dieser Stelle eingeschriebene Briefpost
erhalten.

 Die erwähnte Staatsanwaltschaft verurteilte X.________ am 10. Juli 2014 wegen
grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe von 20
Tagessätzen zu Fr. 560.-- und einer Busse von Fr. 2'500.--. Der Strafbefehl
wurde am 10. Juli 2014 eingeschrieben an die von X.________ bezeichnete Adresse
versandt und ihm am 11. Juli 2014 zur Abholung gemeldet. Am 21. Juli 2014 wurde
der Strafbefehl als "nicht abgeholt" an die Staatsanwaltschaft retourniert.

B. 
X.________ ersuchte am 22. August 2014 bei der Staatsanwaltschaft um
Wiederherstellung der Einsprachefrist und erhob gleichzeitig Einsprache gegen
den Strafbefehl. Das Wiederherstellungsgesuch blieb ebenso ohne Erfolg wie die
Beschwerde an das Obergericht des Kantons Aargau, welches das Rechtsmittel am
13. Oktober 2014 abwies.

C. 
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Entscheid des
Obergerichts sei aufzuheben, die Einsprachefrist wiederherzustellen und die
Angelegenheit zur Durchführung des Einspracheverfahrens an die
Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Seiner Beschwerde sei die aufschiebende
Wirkung zu erteilen.

D. 
Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichten
auf eine Vernehmlassung, Letztere mit dem Antrag, die Beschwerde sowie das
Gesuch um aufschiebende Wirkung seien abzuweisen.

Erwägungen:

1. 
Wird gegen einen Strafbefehl Einsprache erhoben, so nimmt die
Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache
erforderlich sind (Art. 355 Abs. 1 StPO). Nach Abnahme der Beweise entscheidet
die Staatsanwaltschaft, ob sie am Strafbefehl festhält, das Verfahren
einstellt, einen neuen Strafbefehl erlässt oder Anklage beim erstinstanzlichen
Gericht erhebt (Art. 355 Abs. 3 StPO). Entschliesst sich die
Staatsanwaltschaft, am Strafbefehl festzuhalten, so überweist sie die Akten
unverzüglich dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des
Hauptverfahrens. Der Strafbefehl gilt als Anklageschrift (Art. 356 Abs. 1
StPO). Ist die Gültigkeit der Einsprache umstritten, entscheidet darüber nicht
die Staatsanwaltschaft, sondern das erstinstanzliche Gericht (Art. 356 Abs. 2
StPO; BGE 140 IV 192 E. 1.3 S. 195; Urteil 6B_756/2014 vom 16. Dezember 2014 E.
2; a.M. Michael Daphinoff, Das Strafbefehlsverfahren in der Schweizerischen
Strafprozessordnung, 2012, S. 633 ff.).

 Ungültig ist eine Einsprache unter anderem, wenn sie verspätet erfolgt
(Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts,
BBl 2006 1292 Ziff. 2.8.1; Gilliéron/Killias, in: Commentaire romand, Code de
procédure pénale suisse, 2011, N. 4 zu Art. 356 StPO; Jo Pitteloud, Code de
procédure pénale suisse [CPP], 2012, N. 997 zu Art. 352 ff. StPO; Franz Riklin,
in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2
zu Art. 356 StPO; Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung,
Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 3 zu Art. 356 StPO; Christian
Schwarzenegger, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO],
Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 2 zu Art. 356 StPO).

 Die Einsprache ist verspätet, wenn sie nicht innert 10 Tagen bei der
Staatsanwaltschaft schriftlich erhoben wird (Art. 354 Abs. 1 StPO e contrario).
Fristen, die durch eine Mitteilung oder den Eintritt eines Ereignisses
ausgelöst werden, beginnen am folgenden Tag zu laufen (Art. 90 Abs. 1 StPO).
Eine eingeschriebene Postsendung, die nicht abgeholt worden ist, gilt am
siebten Tag nach dem erfolglosen Zustellungsversuch als zugestellt, sofern die
Person mit einer Zustellung rechnen musste (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO, siehe
auch Art. 85 Abs. 2 StPO; vgl. zur Zustellfiktion: BGE 139 IV 228 E. 1.1 S.
230; 130 III 396 E. 1.2.3 S. 399; 119 V 89 E. 4b/aa S. 94; Urteil 6B_463/2014
vom 18. September 2014 E. 1.1; je mit Hinweisen).

2. 
Wie bereits im kantonalen Verfahren macht der Beschwerdeführer auch vor
Bundesgericht geltend, Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO könne ihm nicht
entgegengehalten werden. Zwar ersuchte er am 22. August 2014 bei der
Staatsanwaltschaft um Wiederherstellung der Einsprachefrist, was voraussetzt,
dass die Frist unbenutzt verstrichen ist (Art. 94 Abs. 1 StPO). Jedoch ergibt
sich aus der Begründung des Gesuchs zweifelsfrei, dass der Beschwerdeführer die
Voraussetzungen der Zustellfiktion gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO als nicht
erfüllt erachtete. Er bestritt explizit, dass ihm der Strafbefehl
rechtsgenüglich zugestellt worden sei (Akten Staatsanwaltschaft, act. 25 f.).
Folglich hätte die Einsprachefrist weder begonnen noch wäre sie ungenutzt
verstrichen (vgl. Art. 90 f. StPO), womit die vom Beschwerdeführer mit dem
Wiederherstellungsgesuch erhobene Einsprache nicht verspätet erfolgt wäre.
Demnach geht es vorliegend nicht um die Wiederherstellung einer versäumten
Frist gemäss Art. 94 Abs. 1 StPO, sondern um die Frage, ob die Zustellfiktion
(Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO) zur Anwendung gelangt, was letztlich die
Gültigkeit der Einsprache betrifft.

 Aus der Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 1. September 2014, mit der sie
das Wiederherstellungsgesuch abwies, ergibt sich, dass sie den Standpunkt des
Beschwerdeführers verstand. Dass er diesen formell in einem
Wiederherstellungsgesuch geltend machte, darf ihm nicht zum Nachteil gereichen.
Indem die Staatsanwaltschaft feststellte, die Einsprachefrist sei in Anwendung
von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO am 28. Juli 2014 abgelaufen, weshalb der
Strafbefehl mangels Einsprache rechtskräftig geworden sei, und auch die
Abweisung des Wiederherstellungsgesuchs mit dem bestehenden
Verfahrensverhältnis begründete (Akten Staatsanwaltschaft, act. 29 f.; vgl.
Entscheid S. 4 f.), entschied sie letztlich über die Gültigkeit der mit dem
Wiederherstellungsgesuch erhobenen Einsprache, wozu sie nicht berechtigt war.
Sie hätte - allenfalls nach Sistierung des Wiederherstellungsverfahrens -
gemäss Art. 355 f. StPO vorgehen und die umstrittene Frage dem
erstinstanzlichen Gericht vorlegen müssen (vgl. Schmid, a.a.O., N. 2 zu Art.
355 StPO; Riklin, a.a.O., N. 17 zu Art. 354 StPO; Pitteloud, a.a.O., N. 997 zu
Art. 352 ff. StPO). Erst nachdem dieses die Einsprache für verspätet und damit
für ungültig befunden hätte, hätte die Staatsanwaltschaft über das
Wiederherstellungsgesuch entscheiden dürfen (ähnlich Gilliéron/Killias, a.a.O.,
N. 4 zu Art. 356 StPO).

3. 
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 13. Oktober 2014 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird der Staatsanwaltschaft die
Möglichkeit einzuräumen haben, über das weitere Vorgehen im Sinne von Art. 355
Abs. 1 und 3 StPO zu entscheiden. Hält diese am Strafbefehl nach Art. 355 Abs.
3 lit. a StPO weiterhin fest, wird das erstinstanzliche Gericht über die
Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache zu befinden haben (vgl. BGE 140
IV 192 E. 1.4 S. 195 f.; Urteil 6B_756/2014 vom 16. Dezember 2014 E. 2). Damit
erübrigt es sich zu prüfen, ob die Voraussetzungen der Zustellfiktion gemäss
Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO erfüllt sind. Mit dem Entscheid in der Sache wird
das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

4. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66
Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine angemessene
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau vom 13. Oktober 2014 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an
das Obergericht zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- auszurichten.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. August 2015

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Denys

Die Gerichtsschreiberin: Andres

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben