Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.912/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
5A_912/2014

Urteil vom 27. März 2015

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,
Gerichtsschreiberin Friedli-Bruggmann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführerin,

gegen

Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Nidwalden (KESB).

Gegenstand
Gesuch um Aufhebung der umfassenden Beistandschaft,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden,
Verwaltungsabteilung, vom 26. Mai 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ (geb. 1954) wurde mit Entscheid der Vormundschaftsbehörde U.________
vom 22. März 2010 nach aArt. 370 ZGB unter Vormundschaft gestellt.

B.

B.a. Ab 1992 war A.________ immer wieder, meist mehrere Monate lang, stationär
in verschiedenen psychiatrischen Kliniken hospitalisiert (freiwillig und in der
Form fürsorgerischer Unterbringungen).

B.b. Im Rahmen eines Strafverfahrens 2011 gegen A.________ wegen Diebstahls und
Sachbeschädigung von Gräbern beauftragte die Staatsanwaltschaft Nidwalden die
Ambulanten Dienste der Psychiatrie V.________ mit einem
forensisch-psychiatrischen Gutachten, welches am 3. November 2011 erstattet
wurde. Die Gutachter kamen zum Schluss, A.________ leide an einer chronisch und
kontinuierlich verlaufenden paranoiden Schizophrenie. Sie empfahlen, soweit
nachfolgend relevant, die Vormundschaft in eine solche nach aArt. 369 ZGB
umzuwandeln, da A.________ an einer Geisteskrankheit im Sinne des ZGB leide.

B.c. Am 23. Januar 2012 wandelte die Vormundschaftsbehörde U.________ die
bestehende Vormundschaft in eine solche nach aArt. 369 ZGB um.

C.

C.a. Am 24. Mai 2013 ersuchte A.________ die Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde Nidwalden, welche mit dem Inkrafttreten des neuen
Erwachsenenschutzrechts per 1. Januar 2013 die Vormundschaftsbehörde abgelöst
hatte, um Aufhebung der "Vormundschaft" (seit 1. Januar 2013 "umfassende
Beistandschaft"). Eventualiter sei eine Begleitbeistandschaft nach neuem Recht
anzuordnen.

C.b. Die KESB forderte mit Schreiben vom 4. Juni 2013 bei der Psychiatrie
W.________ einen Arztbericht ein zum Antrag um Aufhebung der Vormundschaft. Die
zuständigen Ärzte erstatteten am 11. Juni 2013 Bericht. Sie hielten unter
anderem fest, A.________ sei zuletzt vom 20. Dezember 2012 bis 19. März 2013 in
der Psychiatrie W.________ hospitalisiert gewesen.

C.c. Mit Entscheid vom 18. Oktober 2013 wies die Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde (KESB) das Aufhebungsgesuch ab. Die umfassende
Beistandschaft nach Art. 398 ZGB des neuen Rechts werde beibehalten.

D.

D.a. A.________ erhob am 18. November 2013 beim Verwaltungsgericht des Kantons
Nidwalden Beschwerde gegen diesen Entscheid. Sie beantragte, es sei auf eine
Beistandschaft zu verzichten und ihr Mann mit der Wahrnehmung ihrer Anliegen
und Rechte betreffend einen näher umschriebenen Betrieb und ein Grundstück zu
beauftragen (Art. 392 Ziff. 2 ZGB). Eventualiter sei eine Begleitbeistandschaft
oder eine "Vertretungsbeistandschaft ohne finanzielle Belange mit viel
Spielraum für Handlungsfähigkeit" anzuordnen. Die KESB sprach sich für die
Abweisung der Beschwerde aus.

D.b. Am 26. Mai 2014 entschied das Verwaltungsgericht in Abwesenheit der
Betroffenen, wies die Beschwerde ab und auferlegte die Gerichtskosten
A.________.

E. 
Mit Beschwerde vom 19. November 2014 gelangt A.________ (Beschwerdeführerin) an
das Bundesgericht. Sie verlangt unter Kosten- und Entschädigungsfolge, auf eine
Beistandschaft zu verzichten; eventualiter sei ihrem Mann Auftrag zu erteilen,
ihre Anliegen und Rechte betreffend den näher umschriebenen Betrieb und das
Grundstück wahrzunehmen. Subeventualiter sei das Verwaltungsgericht anzuweisen,
ein Sachverständigengutachten einzuholen und gestützt darauf neu über ihr
Gesuch um Aufhebung der Vormundschaft bzw. der umfassenden Beistandschaft zu
befinden.

 Am 17. Dezember 2014 reichte die Beschwerdeführerin unaufgefordert weitere
Unterlagen und Ergänzungen zur Beschwerdeschrift ein.

F. 
Das Verwaltungsgericht beantragte mit Stellungnahme vom 13. März 2015 die
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Die KESB verzichtete
auf eine Vernehmlassung und verwies auf den angefochtenen Entscheid.

Erwägungen:

1.

1.1. Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 140 IV 57 E. 2 S. 59).

1.2. Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen letztinstanzlichen
Endentscheid über die Aufrechterhaltung einer Beistandschaft (Art. 90 BGG) und
damit um eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit in unmittelbarem Zusammenhang
mit dem Zivilrecht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG). Der Streit ist nicht
vermögensrechtlicher Natur (vgl. Urteil 5A_667/2013 vom 12. November 2013 E.
1). Obwohl das Verwaltungsgericht die Beschwerdeführerin ausdrücklich als
prozessfähig erklärte und auf die in eigenem Namen erhobene Beschwerde eintrat,
hat es den Entscheid nicht der Beschwerdeführerin an deren Privatadresse,
sondern ihrer Beiständin zugestellt, was nicht als rechtswirksame Zustellung
gelten kann. Nach Weiterleitung durch die Beiständin erhielt die
Beschwerdeführerin den Entscheid erst am 20. Oktober 2014, weshalb hierauf als
Eröffnungsdatum abzustellen ist. Damit ist die Beschwerde rechtzeitig
eingereicht worden (Art. 100 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat am
Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen. Sie ist durch den angefochtenen
Entscheid besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen
Aufhebung oder Ände rung (Art. 76 Abs. 1 BGG). Auf die Beschwerde ist damit
grundsätzlich einzutreten.

1.3. Nicht eingetreten werden kann auf die Beschwerde, soweit direkt der
Entscheid der KESB vom 18. Oktober 2013 kritisiert wird. Gegenstand der
Beschwerde in Zivilsachen kann nur der Entscheid der Vorinstanz sein (Art. 75
BGG). Die nach Fristablauf eingereichten Unterlagen und Ergänzungen sind nicht
zu berücksichtigen.

2.

2.1. Mit Beschwerde in Zivilsachen können Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f.
BGG geltend gemacht werden. Im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen (Art.
106 Abs. 1 BGG) kann das Bundesgericht die Beschwerde auch aus andern als den
geltend gemachten Gründen gutheissen oder den Entscheid mit einer Begründung
bestätigen, die von jener der Vorinstanz abweicht (zu den Voraussetzungen der
Motivsubstitution: BGE 136 III 247 E. 4 S. 251 f. mit Hinweis).

 Für alle Vorbringen betreffend die Verletzung verfassungsmässiger Rechte gilt
das Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG). Die rechtsuchende Partei muss präzise
angeben, welches verfassungsmässige Recht durch den angefochtenen kantonalen
Entscheid verletzt wurde, und im Einzelnen darlegen, worin die Verletzung
besteht (BGE 133 III 439 E. 3.2 S. 444).

2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin kann
die Feststellung des Sachverhalts rügen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.2.2 S. 252).

3. 
Mit dem Inkrafttreten der Änderung des ZGB vom 19. Dezember 2008 über das neue
Erwachsenenschutzrecht (AS 2011 725) am 1. Januar 2013 wurde die für die
Beschwerdeführerin bestehende altrechtliche Vormundschaft von Gesetzes wegen in
eine umfassende Beistandschaft nach neuem Recht umgewandelt (Art. 14 Abs. 2
Satz 1 und 2 SchlT ZGB). Ge genstand des vorliegenden Verfahrens ist nicht die
Umwandlung an sich, sondern ob die umfassende Beistandschaft auf das Gesuch der
Beschwerdeführerin hin hätte aufgehoben werden müssen.

 Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass die Voraussetzungen für eine
umfassende Beistandschaft (noch) gegeben sind. Sie wirft dem Verwaltungsgericht
vor, es habe den Untersuchungsgrundsatz nach Art. 446 Abs. 2 ZGB und ihr
rechtliches Gehör verletzt, indem es auf die Einholung eines Gutachtens einer
sachverständigen Person verzichtete, obwohl sie sowohl vor der KESB als auch
vor Verwaltungsgericht ausdrücklich ein Sachverständigengutachten verlangt
habe. Es rechtfertigt sich, diese Rüge vorab zu prüfen.

3.1. Das Verwaltungsgericht hat sich mit dem Antrag, es sei ein (neues)
Gutachten einzuholen, explizit auseinandergesetzt und erwog, es sei "fraglich,
ob man die Anordnung der Beistandschaft auf die vorliegenden Gutachten und
Arztberichte stützen kann oder eine erneute Begutachtung stattfinden muss". Die
Beschwerdeführerin bestreite sowohl die Darlegungen des
forensisch-psychiatrischen Gutachtens der Psychiatrie V.________ vom 3.
November 2011 als auch diejenigen des Arztberichts der Psychiatrie W.________
vom 11. Juni 2013. Ersteres erachte sie als willkürlich und nicht mehr aktuell.
Den Arztbericht der Psychiatrie W.________ halte die Beschwerdeführerin sodann
für nicht unabhängig, zumal sie zwei Mal gegen ihren Willen dort hospitalisiert
gewesen sei. Die Beschwerdeführerin habe ausgeführt, man müsse sie im Rahmen
ihres Gesuches um Aufhebung der bestehenden Massnahme neu und adäquat
begutachten; sie habe um ein Gutachten ersucht, das ausserhalb der Kantone Ob-
und Nidwalden erstellt werde.

 Schliesslich verneinte das Verwaltungsgericht aber die Notwendigkeit einer
Begutachtung. Das ausführliche Gutachten der Psychiatrie V.________ sei nicht
zu beanstanden. Es sei unabhängig, sehr umfassend, gut begründet und
nachvollziehbar. Der Beschwerdeführerin werde darin eine schwere psychiatrische
Symptomatik diagnostiziert. Die Beschwerdeführerin leide seit Jahrzehnten an
einer chronischen paranoiden Schizophrenie mit Gedankeneingebung,
Wahnwahrnehmungen, Beeinträchtigungswahn, kommentierenden Stimmen, anhaltenden
Halluzinationen, Gedankenabreissen und Negativsymptomen wie sozialem Rückzug,
verminderter sozialer Leistungsfähigkeit und verflachten Affekten. Sie erleide
immer wieder Schübe und absolviere seit 1992 Aufenthalte in psychiatrischen
Kliniken. Das Gutachten, welches im Zusammenhang mit einer Sachbeschädigung und
einem Diebstahl Ende Juli 2011 erstellt worden sei, beruhe auf allseitigen
Untersuchungen und berücksichtige die Eigenangaben der Beschwerdeführerin sowie
umfangreiche Vorakten. Obwohl es mehr als zwei Jahre zurückliege, sei das
Gutachten hinreichend aktuell, wie die seitherige Entwicklung der
Lebensumstände der Beschwerdeführerin zeige, so dass die KESB auf eine weitere
Begutachtung habe verzichten dürfen. Gemäss Arztbericht der Psychiatrie
W.________ sei diese zuletzt vom 20. Dezember 2012 bis 19. März 2013
hospitalisiert gewesen. Der Arztbericht halte sodann fest, dass in absehbarer
Zeit keine Aussicht auf eine wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes
der Patientin bestehe und die Beibehaltung der "Vormundschaft" unerlässlich
sei. Gestützt auf diese Erwägungen kam die Vorinstanz zum Schluss, die Prognose
sei aufgrund der Chronifizierung sehr ungünstig; es werde nie zu einer
kompletten Remission kommen. Die Beschwerdeführerin leide an einer schweren
Geisteskrankheit und sei daher besonders hilfsbedürftig. Die Aufrechterhaltung
der umfassenden Beistandschaft nach Art. 398 ZGB erweise sich als notwendig,
angemessen und verhältnismässig. Es stehe keine mildere Massnahme zur
Verfügung.

3.2.

3.2.1. Gemäss Art. 398 ZGB wird eine umfassende Beistandschaft errichtet, wenn
eine Person, namentlich wegen dauernder Urteilsunfähigkeit, besonders
hilfsbedürftig ist (Abs. 1); sie bezieht sich auf alle Angelegenheiten der
Personensorge, der Vermögenssorge und des Rechtsverkehrs (Abs. 2); die
Handlungsfähigkeit der betroffenen Person entfällt von Gesetzes wegen (Abs. 3).

 Das Gesetz nennt explizit den Fall dauernder Urteilsunfähigkeit. Zu
berücksichtigen ist, dass Urteils (un) fähigkeit in zeitlicher und sachlicher
Hinsicht relativ ist. Das heisst, sie ist in Bezug auf eine konkrete Handlung
in einem bestimmten Zeitpunkt zu prüfen (BGE 134 II 235 E. 4.3.2 S. 239; 124
III 5 E. 1a S. 8; Andrea Büchler/Margot Michel, in: Andrea Büchler/Christoph
Häfeli/Audrey Leuba/Martin Stettler, FamKomm Erwachsenenschutz, 2013, N. 8 zu
Art. 16 ZGB; Peter Breitschmid, in: Peter Breitschmid/Alexandra Rumo-Jungo,
Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Personen- und Familienrecht inkl.
Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, 2. Aufl. 2012, N. 9 zu Art. 16 ZGB; Frank
Th. Petermann, in: ZGB Kommentar Navigator.ch, 2. Aufl. 2011, N. 12 zu Art. 16
ZGB). Je nach Handlung sind unterschiedliche Anforderungen an Vernunft,
Bewusstsein und Entschlusskraft zu stellen; es ist denkbar, dass eine Person
mit allgemeiner Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit bezüglich
Alltagsgeschäfte urteilsfähig, für anspruchsvollere Geschäfte aber
urteilsunfähig ist (BGE 124 III 5 E. 1a S. 8 f.). Die Urteilsfähigkeit ist die
Regel und wird daher vermutet. Wer also ihr Nichtvorhandensein behauptet, hat
dies zu beweisen. Bestimmte Geisteskrankheiten und andere Fälle können zu einer
umgekehrten Vermutung führen (siehe ausführlich in Rechtsprechung und
Literatur: BGE 124 III 5 E. 1b S. 9; 117 II 231 E. 2b S. 235; Andrea Büchler/
Margot Michel, op. cit., N. 4 und 10 zu Art. 16 ZGB; Peter Breitschmid, op.
cit., N. 11 f. zu Art. 16 ZGB; Frank Th. Petermann, op. cit., N. 14 zu Art. 16
ZGB). Auch das Vorliegen einer Geisteskrankheit hat nicht zwangsläufig
Urteilsunfähigkeit zur Folge, sondern ist mit der konkret zu beurteilenden
Handlung in Beziehung zu setzen (BGE 127 I 6 E. 7b/aa S. 19 f.).

 Für die Anordnung - oder die Aufrechterhaltung - einer umfassenden
Beistandschaft ist in jedem Fall (zusätzlich) vorausgesetzt, dass die
betroffene Person besonders hilfsbedürftig ist. In diesem Sinne ist trotz
dauerhafter Urteilsunfähigkeit auf die umfassende Verbeiständung einer Person
zu verzichten, wenn ihr mit einer weniger einschneidenden Massnahme die nötige
Hilfe zuteil wird. Auch bei Menschen mit einer geistigen Behinderung ist eine
umfassende Beistandschaft nicht in jedem Fall notwendig und sinnvoll; auch
diese Personen sind massgeschneidert zu schützen (Botschaft vom 28. Juni 2006
zur Änderung des ZGB [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht], in:
BBl 2006 7001 ff., S. 7048; ebenso die überwiegende Lehre: Helmut Henkel, in:
Basler Kommentar zum ZGB, 5. Aufl. 2014, N. 10 ff., 20 zu Art. 398 ZGB;
Philippe Meier, in: Andrea Büchler/Christoph Häfeli/Audrey Leuba/Martin
Stettler, FamKomm Erwachsenenschutz, 2013, N. 7 zu Art. 398 ZGB; Hermann
Schmid, Erwachsenenschutz, 2010, N. 7 zu Art. 398 ZGB; ähnlich Heinz Hausheer/
Thomas Geiser/Regina Aebi-Müller, Das neue Erwachsenenschutzrecht, 2. Aufl.
2014, Rz. 2.116 f.). Dieselbe Ansicht vertritt Christoph Häfeli, der
weiterführend ausformuliert, dass unter dem neuen Erwachsenenschutzrecht viele
Menschen mit einer psychischen Störung und daraus resultierender Schutz- und
Hilfsbedürftigkeit mit einer kombinierten Beistandschaft genügend geschützt
werden können (Grundriss zum Erwachsenenschutzrecht mit einem Exkurs zum
Kindesschutz, 2013, Rz. 19.61, 19.63).

3.2.2. Die Erwachsenenschutzbehörde erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen
(Art. 446 Abs. 1 ZGB). Sie zieht die erforderlichen Erkundigungen ein und
erhebt die notwendigen Beweise. Sie kann eine geeignete Person oder Stelle mit
Abklärungen beauftragen. Nötigenfalls ordnet sie das Gutachten einer
sachverständigen Person an (Art. 446 Abs. 2 ZGB). Verfügt ein Mitglied der
Behörde, das beim Entscheid mitwirkt, über das erforderliche Fach- und
Sachwissen, muss nicht zwingend ein externer Experte beigezogen werden; fehlt
dem Spruchkörper der erforderliche Sachverstand, ist insbesondere bei
Einschränkungen der Handlungsfähigkeit wegen einer psychischen Störung ein
Sachverständigengutachten anzuordnen (vgl. Botschaft, op. cit., S. 7078 f.).

 Das Bundesgericht hat in seinem Urteil BGE 140 III 97 festgehalten, dass eine
infolge psychischer Störung oder geistiger Behinderung errichtete
Schutzmassnahme, namentlich die Anordnung einer umfassenden Beistandschaft,
welche die schwerste Massnahme des Erwachsenenschutzrechts darstellt, auf einem
Sachverständigengutachten beruhen muss, soweit nicht eines der Mitglieder der
Erwachsenenschutzbehörde über die nötigen Kenntnisse verfügt (E. 4.2 f. S. 99
f.; zur umfassenden Beistandschaft vorstehend E. 3.2.1).

 Das gegebenenfalls einzuholende Gutachten muss es der befassten Instanz
ermöglichen, die wesentlichen Rechtsfragen zu beantworten (vgl. sinngemäss zur
fürsorgerischen Unterbringung BGE 140 III 105 E. 2.3 f. S. 106 f. mit
Hinweisen). Das Gutachten bei allenfalls angezeigter umfassender Verbeiständung
hat sich insbesondere über den Gesundheitszustand der betroffenen Person zu
äussern. Sofern der Experte eine geistige Behinderung oder psychische Störung
(vgl. Art. 16 ZGB) feststellt, hat er darüber Auskunft zu geben, in welcher
Hinsicht die betroffene Person fähig bzw. unfähig ist, Sinn, Zweckmässigkeit
und Wirkungen bestimmter Handlungen zu erkennen (intellektuelle Komponente),
bzw. in welcher Hinsicht sie (nicht) in der Lage ist, gemäss der vernünftigen
Erkenntnis nach ihrem freien Willen zu handeln und allfälliger fremder
Willensbeeinflussung in normaler Weise Widerstand zu leisten
(Charakterelement). In diesem Zusammenhang hat der Experte zu beantworten, in
welcher Hinsicht Bedarf an der Betreuung der betroffenen Person besteht, das
heisst, inwiefern diese besonders hilfsbedürftig ist, namentlich mit Bezug auf
die persönliche Betreuung, die Besorgung von Angelegenheiten des täglichen
Bedarfs, aber auch hinsichtlich der Verwaltung des eigenen Vermögens.
Schliesslich gehört dazu auch eine Aussage darüber, ob die betroffene Person
über glaubwürdige Krankheits- und Behandlungseinsicht verfügt.

 Die Aufforderung zur Einholung eines Gutachtens richtet sich in erster Linie
an die Erwachsenenschutzbehörde. Hat diese ein unabhängiges Gutachten
eingeholt, so darf die gerichtliche Beschwerdeinstanz darauf abstellen (vgl.
Botschaft, op. cit., S. 7088; dort im Kontext von Art. 450e Abs. 3 ZGB).

3.2.3. Vorliegend geht es nun nicht um die Anordnung einer Beistandschaft,
sondern um ein Gesuch um Aufhebung, eventualiter Umwandlung der umfassenden
Beistandschaft in eine mildere Massnahme.

 Sobald für die Fortdauer einer Beistandschaft kein Grund mehr besteht, hebt
die Erwachsenenschutzbehörde diese auf Antrag der betroffenen oder einer
nahestehenden Person oder von Amtes wegen auf (Art. 399 Abs. 2 ZGB). Im
Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des neuen Erwachsenenschutzrechts hält
ausserdem Art. 14 Abs. 2 SchlT ZGB fest, dass die Erwachsenenschutzbehörde von
Amtes wegen so bald wie möglich die erforderlichen Anpassungen an das neue
Recht vorzunehmen hat. Gemäss Botschaft bedeutet dies, dass jeder Fall
überprüft und abgeklärt werden muss, ob eine weniger einschneidende Massnahme
genügt, wobei auf vorzitierten Art. 399 Abs. 2ZGB verwiesen wird, weshalb eine
umfassende Beistandschaft von Amtes wegen aufzuheben sei, sobald für die
Fortdauer kein Grund mehr bestehe. Im Übrigen stehe es der betroffenen Person
frei, von sich aus das Gesuch um Aufhebung oder Umwandlung der Entmündigung zu
stellen (Botschaft, op. cit., S. 7107).

3.2.4. Die Vorinstanz verweigerte das Ersuchen der Beschwerdeführerin (um
Aufhebung der umfassenden Beistandschaft) gestützt auf das
forensisch-psychiatrische Gutachten vom 3. November 2011, wogegen sich die
Beschwerdeführerin wehrt. Sie macht geltend, dass es ihr besser gehe, so dass
die Massnahme nicht mehr gerechtfertigt sei. Weder KESB noch Verwaltungsgericht
hätten geprüft, ob eine weniger einschneidende Alternative angezeigt (sie redet
von Begleitbeistandschaft oder Auftragserteilung an ihren Ehemann) oder von
jeder Massnahme abzusehen sei. Sie sei heute weder in administrativer,
persönlicher oder medizinischer Hinsicht besonders hilfsbedürftig noch sei sie
urteilsunfähig, wie das Verwaltungsgericht ohne medizinische Abklärung annehme.

 Damit ist zu prüfen, ob die Vorinstanzen ihren Entscheid auf die Expertise aus
dem Jahr 2011 abstützen durften. Ob eine Expertise den Voraussetzungen
entspricht, ist eine Rechtsfrage, die der freien Prüfung durch das
Bundesgericht unterliegt. Ist kein Gutachten vorhanden oder erweist sich dieses
als unvollständig, sind offensichtliche rechtliche Mängel zu bejahen und hebt
das Bundesgericht den angefochtenen Entscheid auf (BGE 140 III 105 E. 2.3 S.
106 mit Hinweisen). Der Verwendung von Gutachten früherer Verfahren sind allein
schon deshalb enge Grenzen gesetzt, weil sich der Gutachter zu den Fragen des
konkreten Verfahrens zu äussern hat (BGE 140 III 105E. 2.7 S. 107 f.).

3.2.5. Wie dargelegt, muss für die Anordnung einer umfassenden Beistandschaft
ein Gutachten eingeholt werden (vorstehend E. 3.2.2 zu BGE 140 III 97). Weder
Gesetz noch Botschaft äussern sich dazu, ob im Rahmen eines
Aufhebungsverfahrens zwingend ein (neues) Gutachten anzuordnen sei. Anders war
es noch unter der Herrschaft des vormaligen aArt. 436 ZGB (in Kraft bis 31.
Dezember 2012). Demnach durfte die Aufhebung einer wegen Geisteskrankheit oder
Geistesschwäche angeordneten Vormundschaft nur erfolgen, nachdem ein Gutachten
von Sachverständigen eingeholt und festgestellt worden war, dass der
Bevormundungsgrund nicht mehr bestand.

 Indes gilt Art. 446 ZGB für alle Verfahren vor der KESB. Das heisst, die darin
enthaltenen Grundsätze kommen auch in Abänderungs- oder Aufhebungsverfahren zur
Anwendung (vgl. so explizit Philippe Meier, in: Andrea Büchler/Christoph Häfeli
/Audrey Leuba/Martin Stettler, FamKomm Erwachsenenschutz, Bern 2013, N. 33 zu
Art. 399 ZGB). Sodann verlangt die Rechtsprechung zur fürsorgerischen
Unterbringung bei den periodischen Überprüfungen oder Entscheiden aufgrund
eines Entlassungsgesuches der betroffenen Person konsequent ein aktuelles
Gutachten, wobei je nach Verhältnissen eine Bestätigung, wonach sich gegenüber
dem ursprünglichen Gutachten nichts verändert hat, genügen kann.

3.3. So oder anders ist im Fall der Beschwerdeführerin offensichtlich, dass das
frühere Gutachten nicht zur Abweisung des Ersuchens der Beschwerdeführerin
hätte herangezogen werden dürfen. Dieses genügt den oben dargelegten
Anforderungen (E. 3.2.2) nicht.

 Wird die Fragestellung des forensisch-psychiatrischen Gutachtens (vgl.
Sachverhalt B.b) den Anforderungen an ein Gutachten im vorliegenden Kontext (E.
3.2.2) gegenübergestellt, erhellt, dass die Beschwerdeführerin überhaupt nie
zur Frage der umfassenden Verbeiständung begutachtet wurde. Wie die Vorinstanz
festgestellt hat, wurde das forensisch-psychiatrische Gutachten der Psychiatrie
V.________ vom November 2011 im Rahmen eines Strafverfahrens und zu Handen der
Staatsanwaltschaft erstellt (E. 3.1, Sachverhalt B.b). Das Gutachten sollte
Aufschluss geben zur Art der psychischen Störung, zur Schuldfähigkeit resp.
allfälliger Verminderung der Schuldfähigkeit zur Zeit der Taten (Art. 19 Abs. 1
und 2 StGB), zur Rückfallgefahr und zu einer allfälligen strafrechtlichen
Massnahme (Art. 59-61 und 63 StGB). Die Gutachter haben sich denn auch
ausführlich zur psychischen Erkrankung der Beschwerdeführerin geäussert,
allerdings nur am Rande zu den im vorliegenden Kontext massgebenden Fragen.
Insbesondere zum konkreten Fürsorgebedarf resp. inwiefern die
Beschwerdeführerin derart hilfsbedürftig wäre, dass dem nicht mit anderen
Massnahmen des Erwachsenenschutzrechts begegnet werden kann, äussert sich das
Gutachten nicht ausreichend. Auf dieser Grundlage kann weder die Frage nach der
Notwendigkeit und Angemessenheit der angeordneten Massnahme noch diejenige nach
allenfalls weniger einschneidenden Alternativen beantwortet werden. Der
Arztbericht vom 11. Juni 2013 der Psychiatrie W.________ beschränkt sich sodann
auf zwei Seiten, wurde offenbar ohne vorgängige Anhörung der Beschwerdeführerin
erstellt und stammt im Übrigen von einer behandelnden Klinik (vgl. Sachverhalt
C.b), womit dieser ein Gutachten nicht ersetzen kann. Zum Erfordernis der
Unbefangenheit des Sachverständigen sei auf BGE 118 II 249 E. 2c S. 253
verwiesen. Zu guter Letzt geht aus dem angefochtenen Entscheid auch nicht
hervor, dass ein Mitglied der KESB über den erforderlichen Sachverstand verfügt
hätte, um vom Gutachten einer externen sachverständigen Person absehen zu
können.

3.4. Zusammengefasst ist die Beschwerdeführerin nie zur Frage der umfassenden
Verbeiständung begutachtet worden, womit die Grundlagen zur Beurteilung, ob
eine umfassende Beistandschaft (noch) gerechtfertigt ist, fehlen. Der
angefochtene Entscheid hält damit vor Bundesrecht nicht stand und ist
aufzuheben.

 Die Beschwerde ist insofern gutzuheissen und die Vorinstanz aufzufordern, nach
Einholung eines Sachverständigengutachtens neu über das Gesuch um Aufhebung der
Beistandschaft zu befinden. Dabei wird die Vorinstanz die Kosten und
Entschädigungen für das kantonale Verfahren neu festlegen. Vor diesem
Hintergrund erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit den übrigen Rügen der
Beschwerdeführerin.

4. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind keine Gerichtskosten zu erheben ( Art.
66 Abs. 1 und 4 BGG). Die Beschwerdeführerin ist vor Bundesgericht nicht
anwaltlich vertreten, weshalb ihr kein entschädigungspflichtiger Aufwand
entstanden ist (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Nidwalden vom 26. Mai 2014 wird aufgehoben. Die Sache wird zur
Einholung eines Sachverständigengutachtens und zu neuem Entscheid an das
Verwaltungsgericht zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

4. 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörde Nidwalden (KESB) und dem Verwaltungsgericht des
Kantons Nidwalden, Verwaltungsabteilung, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. März 2015
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Die Gerichtsschreiberin: Friedli-Bruggmann

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