Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilrechtliche Abteilung, Beschwerde in Zivilsachen 5A.736/2014
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
5A_736/2014

Urteil vom 8. Januar 2015

II. zivilrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,
Gerichtsschreiberin Friedli-Bruggmann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Brigitte Largier-Elsener,
Beschwerdeführerin,

gegen

B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Richard Lanz,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
elterliche Obhut,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 23.
Juli 2014.

Sachverhalt:

A. 
A.________ (geb. 1977) und B.________ (geb. 1975) sind die nicht miteinander
verheirateten Eltern von C.________ (geb. 2004). Im Mai 2006 trennten sich die
Eltern. C.________ lebte daraufhin bei der Mutter, welche auch das alleinige
Sorgerecht innehatte, und besuchte den Vater jedes zweite Wochenende.

B.

B.a. Vom 19. bis 23. Oktober 2009 sowie vom 3. bis 8. Oktober 2010 war
A.________ wegen Alkoholsucht in stationärer Behandlung. Dazwischen besuchte
sie von November 2009 bis Januar 2010 eine Tagesklinik. Nach einem Rückfall
unterzeichneten die Kindseltern am 29. Juni 2011 eine Vereinbarung, wonach sich
A.________ einer stationären Therapie unterziehen wollte und das Kind bis auf
weiteres bei B.________ und dessen neuer Lebenspartnerin leben sollte. Am 30.
Juni 2011 beantragte B.________ zusätzlich die Übertragung der alleinigen
elterlichen Sorge an sich selbst.

B.b. Seit dem 3. Juli 2011 wohnt C.________ bei B.________.

B.c. A.________ begab sich am 18. Juli 2011 in stationäre Behandlung in der
Psychiatrischen Klinik D.________ (bis 2. September 2011). Es folgte eine
ambulante psychiatrische Betreuung und bis Sommer 2012 eine Begleitung durch
die Institution "E.________" in F.________.

B.d. Mit Entscheid vom 28. Juli 2011 errichtete die Vormundschaftsbehörde
F.________ eine Erziehungsbeistandschaft im Sinne von Art. 308 Abs. 1, Abs. 2
und Abs. 3 ZGB und ernannte eine Beiständin. Gleichzeitig nahm die Behörde von
der Parteivereinbarung vom 29. Juni 2011 Kenntnis und verfügte, eine Rückkehr
zur Mutter bedürfe der behördlichen Genehmigung gemäss Art. 310 ZGB.

C.

C.a. Am 21. März 2012 beantragte A.________ die Rückübertragung der Obhut.

C.b. Die Vormundschaftsbehörde holte bei G.________ ein kinderpsychologisches
Gutachten über C.________ ein, welches am 26. November 2012 erstattet wur de.

C.c. Am 24. Januar 2013 wie derholte B.________ seinen Antrag auf Übertragung
der alleinigen elterlichen Sorge an sich.

C.d. Die fortan zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde F.________
(nachfolgend KESB) beauftragte den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst
D.________ mit einer erneuten familienpsychologischen sowie kinder- und
jugendpsychiatrischen Begutachtung. Das Gutachten von H.________ und Dr. med.
I.________ datiert vom 22. November 2013 (nachfolgend Gutachten).

C.e. Mit Entscheid vom 28. April/2. Mai 2014 wies die KESB den Antrag von
A.________ auf Rückübertragung der Obhut ab. Die Obhut werde gestützt auf Art.
310 Abs. 2 ZGB bei B.________ belassen. Sodann regelte die KESB das Besuchs-
und Ferienrecht und ernannte J.________ als neuen Beistand. Das Begehren von
B.________ auf Übertragung des Sorgerechts wies die KESB ebenfalls ab.

D.

D.a. Gegen diesen Entscheid erhob A.________ Beschwerde an das Obergericht des
Kantons Thurgau. Sie bekräftigte ihren Antrag auf Rückübertragung der Obhut.
C.________ sei im Sinne einer vorsorglichen Massnahme unverzüglich in ihre
Obhut zu geben.

D.b. B.________ schloss mit Beschwerdeantwort vom 16. Juni 2014 im Wesentlichen
auf Abweisung der Beschwerde. Sodann beantragte er erneut die alleinige
elterliche Sorge für C.________.

D.c. Das Obergericht wies die Beschwerde mit Urteil vom 23. Juli 2014 ab und
auferlegte die Verfahrenskosten A.________. Auf den Antrag von B.________
betreffend elterliche Sorge trat das Obergericht nicht ein.

E. 
Mit Eingabe vom 19. September 2014 gelangt A.________ (Beschwerdeführerin) an
das Bundesgericht. Sie verlangt, ihr sei die Obhut über C.________
zurückzuübertragen. Eventualiter sei mit der Rückübertragung der Obhut eine
Familientherapie anzuordnen. Subeventualiter sei die Angelegenheit an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem beantragt sie die unentgeltliche
Rechtspflege.

F. 
Das Bundesgericht hat die Akten der Vorinstanzen, aber keine Vernehmlassungen
eingeholt.

Erwägungen:

1.

1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid (Art. 75 Abs.
1, Art. 90 BGG) über eine Kindesschutzmassnahme, mithin eine
öffentlich-rechtliche Angelegenheit in unmittelbarem Zusammenhang mit
Zivilrecht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG) ohne Vermögenswert. Die
Beschwerdeführerin ist als Kindsmutter gemäss Art. 76 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
berechtigt und die Beschwerdefrist ist eingehalten (Art. 100 Abs. 1 BGG).
Insofern ist die Beschwerde in Zivilsachen zulässig.

1.2. Mit Beschwerde in Zivilsachen können Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f.
BGG gerügt werden. Unter Vorbehalt des Bereichs der verfassungsmässigen Rechte
wendet das Bundesgericht das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es
kann die Beschwerde daher auch aus andern als den geltend gemachten Gründen
gutheissen oder den Entscheid mit einer Begründung bestätigen, die von jener
der Vorinstanz abweicht (zu den Voraussetzungen der Motivsubstitution BGE 136
III 247 E. 4 S. 252 mit Hinweis).

 Hingegen ist das Bundesgericht an den festgestellten Sachverhalt grundsätzlich
gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesbezüglich kann einzig vorgebracht werden,
er sei offensichtlich unrichtig festgestellt worden (Art. 97 Abs. 1 BGG), wobei
"offensichtlich unrichtig" mit "willkürlich" gleichzusetzen ist (BGE 133 II 249
E. 1.2.2 S. 252; 133 III 393 E. 7.1 S. 398). Hierfür gilt das strenge
Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 255). Für die
Geltendmachung der Verletzung von verfassungsmässigen Rechten (inkl. Willkür)
gilt ebenfalls das Rügeprinzip (BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254).

2.

2.1. Seit dem 1. Juli 2014 sind neue Bestimmungen über die elterliche Sorge in
Kraft (AS 2014 357). Das angefochtene Urteil erging nach deren Inkrafttreten
(23. Juli 2014). Die Vorinstanz hätte daher die Anwendbarkeit des neuen Rechts
prüfen müssen. Allerdings stellt sich vor Bundesgericht die Frage einer
Abänderung der elterlichen Sorge nicht (mehr), da der Beschwerdegegner
seinerseits keine Beschwerde geführt hat. Umstritten ist die Frage, ob der
Junge wieder bei der Beschwerdeführerin leben kann. Diesbezüglich ist für den
Ausgang des Verfahrens nicht relevant, ob auf das alte oder das neue Recht
abgestützt wird. Angesichts der Bedürfnisse des konkreten Falles wird daher
nach folgend auf die Terminologie nach altem Recht zurückgegriffen.

2.2. Wird den sorgerechtsberechtigten Eltern in Anwendung von Art. 310 Abs. 1
ZGB die Obhut über ein Kind entzogen, hat dies zur Folge, dass das Obhutsrecht
der Eltern auf die Vormundschaftsbehörde übergeht, welche über den
Aufenthaltsort des Kindes bestimmt. Der Obhutsentzug hat dabei keinerlei
Auswirkungen auf die elterliche Sorge, welche bei den Eltern verbleibt. Ihnen
bleibt lediglich die Ausübung eines Teilgehalts der Sorge - nämlich das Recht
über den Aufenthalt des Kindes zu entscheiden - verwehrt (BGE 128 III 9 E. 4a
S. 10 mit Hinweis; zur Definition der Obhut vgl. auch BGE 136 III 353 E. 3.2 S.
356). Der Obhutsentzug durch die Vormundschaftsbehörde F.________ hatte mithin
keinen Einfluss auf das (alleinige) Sorgerecht der Beschwerdeführerin, welches
diese nach wie vor innehat.

2.3. Der Beschwerdegegner ist zwar der leibliche Vater des betroffenen Kindes,
er ist indes nicht sorgerechtsberechtigt. Damit kann ihm keine (rechtliche)
Obhut zukommen. Durch die Unterbringung des Kindes bei ihm erhielt er lediglich
eine faktische Obhut, welche gleich zu behandeln ist, wie die Unterbringung bei
Pflegeeltern (BGE 120 Ia 260 E. 2a S. 263 mit Hinweis). Die rechtliche Obhut
für das Kind liegt bei der zuständigen KESB. Die Vorinstanz hat damit zu Recht
nicht die Argumentation der ersten Instanz übernommen, welche eine
Wiederherstellung der Obhut der Beschwerdeführerin abgelehnt hatte, weil es
keine "Anhaltspunkte für einen Entzug der Obhut gegenüber dem Kindsvater" gebe.
Wie bereits ausgeführt, kam dem Beschwerdegegner keine rechtliche Obhut zu.
Daran ändert nichts, d ass der Beschwerdegegner gestützt auf Art. 12 Abs. 4
SchlT ZGB die gemeinsame elterliche Sorge beantragen kann.

3.

3.1. Die Vorinstanz hielt fest, es sei unbestritten, dass eine intakte
Mutter-Kind-Beziehung bestehe. Auch hätten die Gutachter eine allgemeine
Erziehungsfähigkeit der Beschwerdeführerin bestätigt. Gemäss diesen habe sie
bis Anfang/Mitte des Jahres 2008 einen für das Kind förderlichen
Entwicklungsrahmen bieten können. Danach habe der Junge durch ihre
Alkoholerkrankung jedoch eine schwere Entwicklungsstörung erlitten. Dies habe
dazu geführt, dass er einen besonders feinfühligen Umgang, einen stark
strukturierten Alltagsablauf, intensive schulische Förderung und allgemeine
Lebensstabilität benötige. Zum Zeitpunkt der Begutachtung habe sich in allen
Teilbereichen eine deutlich abgemilderte Entwicklungsstörung bis hin zur
teilweise vollständigen Aufholung der Defizite präsentiert. Der Junge selbst
habe gemäss Gutachter einen neutralen Standpunkt eingenommen. Er habe seinen
Wunsch zum Ausdruck gebracht, bei ungefähr gleich verteilter Betreuungszeit
durch seine Eltern, seinen Lebensmittelpunkt bei seiner Mutter haben zu dürfen,
weil er es für natürlich halte, wenn ein Kind bei seiner Mutter aufwachse, was
die Gutachter allerdings als "wahrscheinlich von Erwachsenen eingebrachte
Formulierung und Denkweise", welche vom Kind übernommen worden sei, bezeichnet
hätten.

 Im Zusammenhang mit der früheren Alkoholerkrankung sei die Beschwerdeführerin
nach wie vor in ambulanter psychiatrischer Behandlung bei Dr. med. K.________.
Dieser habe ausgeführt, bis zu seinem letzten Kontakt mit der
Beschwerdeführerin im April 2013 seien ihm keine Alkoholrückfälle bekannt. Er
habe die Beschwerdeführerin immer stabiler werdend wahrgenommen. Die Gutachter
hätten der Beschwerdeführerin ebenfalls aktuell eine ausreichende Stabilität
attestiert; allerdings bestehe in Zukunft das Risiko eines Rückfalls. Ein
solcher könne gemäss Gutachter nicht mit einer dauerhaften Vernachlässigung von
C.________ gleichgesetzt werden. Eine dadurch eventuell notwendige erneute
Veränderung der Versorgungslage wäre aber ein grosses Risiko für die
Fortsetzung der positiven Entwicklung des Jungen. Die Gutachter hätten daher
für den Fall einer Rückgabe eine intensive therapeutische Begleitung von Mutter
und Kind empfohlen.

 Zusammengefasst befand die Vorinstanz, das nach wie vor bestehende Risiko
eines Rückfalls und die gegebenenfalls damit verbundenen Auswirkungen auf den
Jungen stünden den Interessen der Kontinuität entgegen. Im Hinblick auf den
Gesundheitszustand des Jungen seien wiederholte Umplatzierungen zu vermeiden.
Die Beschwerdeführerin habe nicht überzeugend dargelegt, dass sie die
besonderen Bedürfnisse des Kindes bedienen könne. Dafür spreche auch, dass sie
mit dem Jungen Probleme diskutiert habe, welche auf die Erwachsenenebene
gehörten, was zu einer vermeidbaren Belastung des Jungen geführt habe. Weitere
ärztliche Berichte oder Belege, welche die Alkoholabstinenz bestätigen würden,
habe sie nicht eingereicht (z.B. Antabus-Therapie, regelmässige Haaranalyse).
Die Rückübertragung der Obhut sei zu Recht abgelehnt worden.

3.2. Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht vor, es habe den Entscheid
mit Argumenten begründet, auf die es im Rahmen von Art. 310 Abs. 3 ZGB nicht
ankomme (der Beschwerdegegner sei in der Lage, den Jungen persönlich bzw.
mindestens im gleichen Umfang wie die Beschwerdeführerin persönlich zu
betreuen; die Beziehung zwischen dem Beschwerdegegner und dem Kind sei gut und
intakt). Sodann übersehe es, dass sich vorliegender Fall wesentlich von
Pflegeverhältnissen, welche von Art. 310 Abs. 3 ZGB ins Auge gefasst würden,
unterscheide. Die vorgenommene Gewichtung sei offensichtlich falsch. Namentlich
habe die Vorinstanz ihr Recht als leibliche Mutter, ihr Kind weiterhin selbst
zu betreuen, zu pflegen und zu erziehen, nicht berücksichtigt. Ebensowenig ihre
Fähigkeit, für eine kindeswohlgerechte Betreuung und Erziehung zu sorgen. Ihr
sei eine allgemeine Erziehungsfähigkeit attestiert worden und auch, dass sie
bis zu ihrer Erkrankung einen förderlichen Entwicklungsrahmen geboten habe. Sie
habe trotz Fremdplatzierung weiterhin eine intakte Beziehung zum Sohn und habe
diese Beziehung stets gepflegt.

 In Bezug auf die Alkoholabhängigkeit verfalle die Vorinstanz ebenfalls in
Willkür, indem sie lediglich auf das Gutachten sowie eine Bestätigung von Dr.
med. K.________ vom 8. März 2013 verweise, daraus auf ein Rückfallrisiko
schliesse und behaupte sie habe keine weiteren Belege eingereicht. Am 23.
September 2013 habe Dr. med. K.________ den Gutachtern berichtet, bis zum April
2013 seien keine Alkoholrückfälle bekannt. Sie lebe seit ihrem Klinikaustritt
im September 2011 abstinent, in einer stabilen Beziehung und das Risiko für
einen Rückfall sei minimal. Selbst wenn sie erneut alkoholabhängig würde, könne
gemäss Gutachten mittels Anordnung einer therapeutischen Begleitung
sichergestellt werden, dass sie den Bedürfnissen des Jungen gerecht werden
könnte und damit dessen positive Entwicklung gewährleistet wäre. Auch soweit
die Vorinstanz bezweifle, dass sie (generell) den besonderen Bedürfnissen von
C.________ im Alltag gerecht werden könnte, hätte der Vorschlag der Gutachter
aufgegriffen werden müssen, dass einer allfälligen Gefahr mittels einer
intensiven therapeutischen Begleitung begegnet werden könne. Darauf sei die
Voristanz nicht einmal eingegangen.

3.3. Hat ein Kind längere Zeit bei Pflegeeltern gelebt, so kann die
Kindesschutzbehörde den Eltern seine Rücknahme untersagen, wenn diese die
Entwicklung des Kindes ernstlich zu gefährden droht (Art. 310Abs. 3 ZGB). Diese
Bestimmung ist grundsätzlich auch auf die Rücknahme von Kindern, welche bei
einem nicht sorgerechtsberechtigten Elternteil leben, anwendbar (vgl. Urteil
5C.28/2007 vom 3. April 2007, in: FamPra 2007, 718).

 Eine Neu-, Um- oder Rückplatzierung des Kindes hat sich an dessen Wohl
auszurichten und bedingt eine Abwägung zwischen den auf dem Spiel stehenden
Interessen. Für eine Rückplatzierung gemäss Art. 310 Abs. 3 ZGB gelten nicht
die gleichen Kriterien wie für den Obhutsentzug gemäss Art. 310 Abs. 1 ZGB.
Eltern, die sich trotz einer Fremdplatzierung um den Aufbau und die Pflege
einer persönlichen Beziehung zu ihrem Kind bemüht haben, brauchen nicht zu
befürchten, dass Art. 310 Abs. 3 ZGB mit Erfolg gegen ihre ernsthafte Absicht,
das Kind eines Tages wieder selbst zu betreuen und zu erziehen, angerufen
werden könnte; entscheidend für die Frage der Zurücknahme durch die Mutter ist
dabei, ob die seelische Verbindung zwischen ihr und dem Kind intakt ist und ob
ihre Erziehungsfähigkeit und ihr Verantwortungsbewusstsein eine Rückübertragung
der Obhut rechtfertigen (BGE 111 II 119 E. 5 und E. 6 S. 123 ff.; Urteile
5A_473/2013 vom 6. August 2013 E. 6, in: FamPra.ch 2013, 1064; 5C.28/2007 vom
3. April 2007 E. 2.2, in: FamPra 2007, 718). Bei der Gewichtung der
vorstehenden Interessen sind der Anspruch des Elternteils auf persönliche
Betreuung und das Interesse des Kindes an stabilen Beziehungen gegeneinander
abzuwägen (BGE 111 II 119 E. 5 und 6 S. 124 f.). Dabei steht dem Sachgericht
typischerweise ein Ermessen im Sinne von Art. 4 ZGB zu, bei dessen Überprüfung
das Bundesgericht Zurückhaltung übt (BGE 132 III 97 E. 1 S. 99; 135 III 121 E.
2 S. 123 f.; spezifisch im Zusammenhang mit der Rückgabe der Obhut: Urteil
5A_473/2013 vom 6. August 2013 E. 6, in: FamPra.ch 2013, 1064).

3.4. Soweit die Beschwerdeführerin Kritik am vorinstanzlich festgestellten
Sachverhalt übt, vermag sie keine Willkür darzutun (Art. 97, 105 Abs. 2BGG;
vgl. auch vorstehend E. 1.2). Bezüglich Beweis ihrer Abstinenz gibt es offenbar
- wie im angefochtenen Urteil festgehalten - nur bis April 2013 Aussagen
behandelnder Ärzte. Dass sie aktuellere Beweismittel vorgelegt habe oder
beispielsweise eine Antabus-Therapie absolviere (vgl. E. 3.1 in fine), bringt
sie nicht vor. Bezüglich Kindesanhörung vom 5. Februar 2013 kann ihr ebenfalls
nicht gefolgt werden, wenn sie die vorinstanzliche Darstellung (der Junge habe
nicht klar und deutlich geäussert, er wolle bei ihr leben) als aktenwidrig
rügt. Zwar hat der Junge ausgesagt, er wolle "ein bisschen mehr" bei seiner
Mutter bleiben, und dass ihm bei seiner Mutter vieles besonders gut gefalle.
Etwas Spezielles gebe es nicht zu erwähnen. Bei seinem Vater gefalle ihm
besonders gut, dass es im Garten ein grosses Trampolin habe. Als Grund bei der
Mutter zu sein, fügte er später namentlich die Hoffnung an, bei ihr nicht
allein zu sein, weil die Mutter nicht so viel arbeite wie der Vater. Bei diesem
sei er an drei Tagen eine Stunde alleine. An anderer Stelle sagte er, er könne
nicht sagen, ob er zu Mama oder Papa gehen solle; er würde sich auf beide ein
bisschen freuen. Auch aus dem Gutachten geht hervor, dass der Junge zu beiden
eine gute Beziehung hat.

 Soweit die Beschwerdeführerin Kritik an der vorgenommenen Interessenabwägung
übt, ist ihr insofern zuzustimmen, als es vorliegend nicht um eine Abwägung
geht, welcher Elternteil die Obhut besser wahrnehmen könnte (vgl. zur
Begründung E. 2.3). Das heisst allerdings nicht, dass Überlegungen zur
Vater-Kind-Beziehung sowie zur Situation am heutigen Aufenthaltsort im Urteil
überhaupt keinen Niederschlag finden dürfen. Diese sind Indizien zur Ermittlung
der Kindesinteressen (E. 3.3). Zu berücksichtigen sind sämtliche Interessen der
Beschwerdeführerin (namentlich, ihr Kind wieder bei sich zu haben) wie auch des
Kindes (bei seiner Mutter aufzuwachsen, die begonnene positive Entwicklung
fortsetzen zu können u.a.).

3.4.1. Das Gutachten vom 22. November 2013 hatte sich sowohl zur Frage der
Obhut als auch zur Frage des (vor erster Instanz noch strittigen) Sorgerechts
zu äussern. Die Gutachter H.________ und Dr. med. I.________ kamen zum Schluss,
der Junge habe zu beiden Eltern eine ähnlich gute und emotional tragfähige
Beziehung entwickeln können. Sollte der Junge weiterhin beim Vater leben,
hielten sie keine weiteren Massnahmen für nötig, empfahlen jedoch, ihm
diesfalls auch die elterliche Sorge zu übertragen (zumindest die gemeinsame).
Auf die Frage, welche Auswirkungen eine Rückübertragung der elterlichen Obhut
auf die Kindsmutter haben würde, führten sie aus, im Zeitpunkt der Begutachtung
habe jener eine ausreichende Stabilität bezogen auf ihre
Alkoholabhängigkeitserkrankung und ausreichend gute Kompetenzen bezogen auf
ihre Erziehungsfähigkeit attestiert werden können. In die Zukunft geblickt sei
ein entwicklungsbezogenes Risiko zu sehen, falls diese einen Rückfall erleiden
sollte. Dies wäre zwar nicht gleichzusetzen mit einer dauerhaften
Vernachlässigung, eine eventuell notwendige erneute Veränderung der
Versorgungslage wäre jedoch ein grosses Risiko für die Fortsetzung der
positiven Entwicklung des Jungen. Falls die Kindsmutter die Obhut
zurückerhalte, sei neben der Aufrechterhaltung der Beistandschaft eine
intensive aufsuchende therapeutische Begleitung der Beschwerdeführerin und des
Jungen angezeigt. So könnte auch das Risiko reduziert werden, dass sie durch
die zusätzlichen Belastungen mit Erziehungsaufgaben während des Alltags
destabilisiert würde (im Sinne eines möglichen Alkoholrückfalls). Sie betonten
zudem die grundsätzliche Wichtigkeit örtlicher und sozialer Kontinuität, wobei
sie dem Kindsvater die Aufrechterhaltung eines förderlichen Rahmens
attestieren. Weiter unterstrichen sie, dass die Beschwerdeführerin durch die
Gestaltung ihrer Besuchskontakte (Konzentrieren auf positive Zeit, aktive
Gestaltung mit beziehungsorientierten Angeboten) eine wichtige
Beziehungspartnerin für die Absicherung der Gesamtentwicklung des Jungen sei
und so zum aktuell positiven Trend und zur Überwindung der
Entwicklungsrückstände des Jungen beitrage. Die Folgen für das Kind im Falle
eines Rückfalls mit erneuter Vernachlässigung und/oder Umplatzierung schätzten
die Gutachter als "grosses Risiko für die Fortsetzung der positiven
Entwicklung" des Jungen ein.

3.4.2. Auch Dr. med. K.________ hatte gegenüber den Gutachtern formuliert,
solange die Beschwerdeführerin abstinent sei, ergäben sich aus seiner Sicht
keine Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit. Mögliche Alkoholrückfälle mit
Wiederaufnahme regelmässigen Trinkens bezeichnete er indes als "katastrophal"
für die Erziehungsfähigkeit.

3.4.3. Eine erneute Alkoholabhängigkeit wäre mithin als ernsthafte Gefährdung
des Kindeswohls zu betrachten. Wenn die Vorinstanz befand, das Risiko eines
Rückfalls sei zum gegebenen Zeitpunkt (unausgesprochen: auch mit
Familientherapie) noch zu gross, um die Kindesschutzmassnahme aufzuheben, so
hat sie das ihr zustehende Ermessen nicht verletzt.

 Zeigt sich die Situation der Beschwerdeführerin weiter stabil, respektive ist
ihre Abstinenz hinreichend erstellt, ist die Angelegenheit neu zu beurteilen.
Verändern sich die Verhältnisse, sind Kindesschutzmassnahmen der neuen Lage
anzupassen (Art. 313 Abs. 1 ZGB); erweist sich eine Massnahme als nicht mehr
nötig, ist sie aufzuheben oder durch eine mildere zu ersetzen (BGE 120 II 384
E. 4d S. 386 mit Hinweis).

4. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Da die Beschwerde aber
nicht als von Anfang an aussichtslos bezeichnet werden kann, ist dem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren zu entsprechen
(Art. 64 Abs. 1 BGG). Dem Beschwerdegegner ist kein entschädigungspflichtiger
Aufwand entstanden (Art. 68Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und es wird
ihr Rechtsanwältin Brigitte Largier-Elsener als Rechtsbeistand beigegeben.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt,
indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Rechtsanwältin Brigitte Largier-Elsener wird aus der Gerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Thurgau, der
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde F.________ sowie Beistand J.________
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 8. Januar 2015
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: von Werdt

Die Gerichtsschreiberin: Friedli-Bruggmann

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