Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.624/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_624/2013

Urteil vom 23. Dezember 2013

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.

Verfahrensbeteiligte
S.________,
vertreten durch Fürsprecher Lars Rindlisbacher,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 10. Juli 2013.

Sachverhalt:

A. 
Der als selbstständiger Bauunternehmer tätige S.________, geboren 1963, meldete
sich im Mai 2000 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle Bern sprach ihm nach beruflichen und medizinischen Abklärungen mit
Verfügungen vom 11. April 2001 und 7. Juni 2002 berufliche Massnahmen zu
(Umschulung zum technischen Kaufmann; Praktikum in einem Immobilienunternehmen;
PC-Anwenderkurs). Ab 1. August 2002 arbeitete S.________ beim Bundesamt
X.________. Am 24. Februar 2004 sprach ihm die IV-Stelle von 1. September 2000
bis 30. April 2001 eine halbe Invalidenrente zu und verneinte einen
Rentenanspruch von Mai 2001 bis Juli 2002 infolge Zahlung von IV-Taggeldern.
Im Januar 2006 meldete sich S.________ erneut zum Leistungsbezug an. Die
IV-Stelle nahm berufliche und medizinische Abklärungen vor. Anfangs 2007 liess
S.________ mitteilen, er könne ab 1. Februar 2007 beim ehemaligen Arbeitgeber
in einer neuen Funktion zu 30 % arbeiten; das Arbeitspensum liesse sich
allenfalls aufstocken, weshalb das Verfahren für ein halbes Jahr zu sistieren
sei. Gemäss Schlussbericht des Berufsberaters vom 29. Mai 2008 zeigte sich
S.________ nicht motiviert, mehr als ein 50 %-Pensum zu leisten, so dass
berufliche Massnahmen nicht erfolgsversprechend seien. Nach weiteren
medizinischen Abklärungen, darunter das bidisziplinäre Gutachten des Dr. med.
H.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und des Dr. med.
R.________, Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie für
Rheumatologie, vom 2. April 2009 (nachfolgend: bidisziplinäres Gutachten),
verfügte die IV-Stelle am 3. März 2010 ab 1. Februar 2005 eine ganze und ab 1.
Februar 2007 eine Viertelsrente.

B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde -
nach Androhung einer reformatio in peius - mit Entscheid vom 10. Juli 2013 ab
und stellte fest, S.________ habe im Rahmen seiner Neuanmeldung keinen Anspruch
auf eine Rente der Invalidenversicherung.

C. 
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es seien der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die
IV-Stelle zu verpflichten, ihm von Februar 2005 bis Februar 2007 eine ganze
Invalidenrente und ab Februar 2007 eine die Viertelsrente übersteigende
Invalidenrente auszurichten. Eventualiter habe die IV-Stelle die Invalidität ab
Februar 2005 resp. ab Februar 2007 rechtsgenüglich abzuklären und über den
Rentenanspruch ab Februar 2005 neu zu verfügen. Subeventualiter sei die
IV-Stelle zu verpflichten, im Rahmen von Wiedereingliederungsbemühungen einen
medizinisch begleiteten Arbeitsversuch durchzuführen.
Die IV-Stelle beantragt unter Verweis auf den kantonalen Entscheid die
Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist
die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht
eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich
nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2. Nach Art. 105 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Abs. 1). Es kann diese
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Abs. 2). Die Voraussetzungen für eine Sachverhaltsrüge nach Art.
97 Abs. 1 BGG und für eine Berichtigung des Sachverhalts von Amtes wegen nach
Art. 105 Abs. 2 BGG stimmen im Wesentlichen überein. Soweit es um die Frage
geht, ob der Sachverhalt willkürlich oder unter verfassungswidriger Verletzung
einer kantonalen Verfahrensregel ermittelt worden ist, sind strenge
Anforderungen an die Begründungspflicht der Beschwerde gerechtfertigt.
Entsprechende Beanstandungen sind vergleichbar mit den in Art. 106 Abs. 2 BGG
genannten Rügen. Demzufolge genügt es nicht, einen von den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten. Vielmehr
ist in der Beschwerdeschrift nach den erwähnten gesetzlichen Erfordernissen
darzulegen, inwiefern diese Feststellungen willkürlich bzw. unter Verletzung
einer verfahrensrechtlichen Verfassungsvorschrift zustande gekommen sind.
Andernfalls können Vorbringen mit Bezug auf einen Sachverhalt, der von den
Feststellungen im angefochtenen Entscheid abweicht, nicht berücksichtigt
werden. Vorbehalten bleiben offensichtliche Sachverhaltsmängel im Sinne von
Art. 105 Abs. 2 BGG, die dem Richter geradezu in die Augen springen (BGE 133 IV
286 E. 6.2 S. 288; 133 II 249 E. 1.4.3 S. 255).

2. 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über das anwendbare Recht (
BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220), den Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1
ATSG) und der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 ATSG), sowie den Anspruch auf
eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG in der ab 1. Januar 2008 geltenden
Fassung; bis 31. Dezember 2007 Art. 28 Abs. 1 IVG) und die Ermittlung des
Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art.
16 ATSG) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die Aufgabe des Arztes bei der
Ermittlung des Invaliditätsgrades (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99) und den Beweiswert
ärztlicher Berichte (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352),
namentlich in Bezug auf hausärztliche Berichte (BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353)
und den Unterschied zwischen Behandlungs- und Begutachtungsauftrag (SVR 2008 IV
Nr. 15 S. 43 E. 2.2.1, I 514/06). Darauf wird verwiesen.

3. 
Der Versicherte macht geltend, die Vorinstanz habe den medizinischen
Sachverhalt einseitig eingeschätzt, und rügt eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs, des Untersuchungsgrundsatzes und des Anspruchs auf ein faires Verfahren
sowie eine unrichtige Rechtsanwendung bezüglich der Bestimmung des
Invalideneinkommens.

4. 
Soweit der Versicherte geltend macht, auf das bidisziplinäre Gutachten könne
nicht abgestellt werden, weil die Dres. med. H.________ und R.________ oft für
die Invalidenversicherung als Gutachter tätig seien, kann ihm nicht gefolgt
werden. Nach gefestigter Praxis stellt die regelmässige Beauftragung mit
Begutachtungen für sich allein keinen Ausstandsgrund dar (BGE 137 V 210 E.
1.3.3 S. 226); diese Rechtsprechung gilt sinngemäss auch bei bidisziplinären
Gutachten (BGE 139 V 349). Damit ist der Anspruch auf ein faires Verfahren
nicht verletzt.

5. 
Die Vorinstanz beurteilte die gesundheitlichen Einschränkungen und die
zumutbare Arbeitsfähigkeit des Versicherten gestützt auf das bidisziplinäre
Gutachten vom 2. April 2009. Zudem erwähnte sie die Gutachten des Dr. med.
B.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des
Bewegungsapparates, vom 30. Oktober 2006 und 11. Juli 2008, und den Bericht des
Dr. med. E.________, med. Gutachter SIM, vom 23. November 2010 sowie die
Äusserungen des RAD-Arztes, Facharzt für Allgemeine Medizin, vom 28. Februar
2011. Hingegen liess sie das Gutachten des Prof. Dr. med. U.________, Facharzt
für Neurologie, vom 17. Mai 2010 ausser Acht, ja erwähnte dieses nicht einmal.
Dies stellt nicht nur eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61
lit. c ATSG), sondern auch des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) dar,
indem das kantonale Gericht nicht sämtliche relevanten medizinischen Berichte
berücksichtigte und auch nicht nachvollziehbar begründete, weshalb die
Schlussfolgerungen des Prof. Dr. med. U.________ in die medizinische
Beurteilung nicht miteinbezogen werden können. Der Untersuchungsgrundsatz ist
aber auch aus einem weiteren Grund verletzt: Nicht nur Prof. Dr. med.
U.________ ging von neurologischen Einschränkungen aus. Auch Dr. med.
C.________, Facharzt für Angiologie und Innere Medizin, beurteilte im Bericht
vom 10. August 2009 die Beschwerden als musko-skelettärer und/oder neurogener
Natur und Dr. med. E.________ stellte zu Recht fest, es sei nicht
nachvollziehbar, weshalb kein Neurologe in die Beurteilung des medizinischen
Sachverhaltes miteinbezogen worden sei, seien doch mehrere Operationen erfolgt,
darunter auch Neurolysen; er rügte weiter, dass Dr. med. R.________ die
diagnostizierte Hyperalgesie im Bereich des OSG und des distalen Unterschenkels
als "nicht erklärbares Phänomen" bezeichne, ohne das Bestehen einer Allodynie
oder eines neuropathischen Schmerzsyndroms auch nur in Erwägung zu ziehen. Bei
dieser Aktenlage bestehen - auch unter Berücksichtigung der Aussagen des
RAD-Arztes vom 28. Februar 2011 - ausreichend Zweifel am bidisziplinären
Gutachten vom 2. April 2009, so dass dieses nicht massgebliche Grundlage für
die Beurteilung des Anspruchs auf eine Invalidenrente bilden kann. Die
Vorinstanz wäre gehalten gewesen, weitere medizinische Abklärungen zu
veranlassen. Die Sache ist deshalb an das kantonale Gericht zurückzuweisen,
damit es die Einholung eines Gerichtsgutachtens anordne.

6. 
Schliesslich rügt der Versicherte die Bestimmung des Invalideneinkommens.
Diesbezüglich ist festzuhalten, dass invaliditätsbedingte Gestehungskosten beim
Invalideneinkommen unter Umständen abgezogen werden können, allerdings nur
soweit sie die auch im Gesundheitsfalle entstehenden Kosten übersteigen (RKUV
2004 Nr. U 511 S. 277 E. 2.4, U 107/03). Die Vorinstanz wird diesfalls
abzuklären haben, wie es sich mit dem geltend gemachten Abzug für die Benutzung
des Autos zum Arbeitsort verhält. Was die Berücksichtigung eines
leidensbedingten Abzugs betrifft, kann darüber nicht abschliessend befunden
werden, weil der medizinische Sachverhalt nicht verbindlich festgestellt ist
(oben E. 5). Der Versicherte ist jedoch darauf hinzuweisen, dass ein solcher
Abzug nicht in jedem Fall vorgenommen werden darf, sondern nur, wenn die dabei
zu berücksichtigenden Faktoren dies rechtfertigen (BGE 126 V 75).

7. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende IV-Stelle hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Versicherte hat Anspruch auf
eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
vom 10. Juli 2013 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. Dezember 2013
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold

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