Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.512/2013
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2013
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2013


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_512/2013 {T 0/2}     

Urteil vom 13. Januar 2014

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, vertreten durch Rechtsanwältin Regula Schmid,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Prozessvoraussetzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 28. Mai 2013.

Sachverhalt:

A. 
Der 1976 geborene S.________ meldete sich am 26. Oktober 2010 bei der IV-Stelle
des Kantons St. Gallen zum Leistungsbezug an. Am 16. September 2011 ging bei
der IV-Stelle der im Auftrag der Krankentaggeldversicherung erstellte
medizinische Bericht der Klinik Y.________ vom 29. August 2011 ein. Mit
Schreiben vom 4. April 2012 teilte die IV-Stelle der Rechtsvertreterin des
Versicherten mit, es sei eine interdisziplinäre medizinische Begutachtung
vorgesehen, welche nach dem Zufallsprinzip einer Gutachterstelle zugeteilt
werde. Am 23. April 2012 erteilte sie den Auftrag dem medizinischen
Abklärungsinstitut X.________. Dem Fragebogen legte sie eine Zusammenfassung
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen und
sonstigen vergleichbaren syndromalen Zuständen bei. Der Versicherte erhob
Einwände gegen die Begutachtung. Mit Zwischenverfügung vom 3. August 2012 hielt
die IV-Stelle an der Begutachtung durch das medizinische Abklärungsinstitut
X.________ fest. Dieses erstellte das Gutachten am 28. August 2012.

B. 
Die von S.________ erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 28. Mai 2013 gut, hob die Verfügung vom 3.
August 2012 auf und wies die Sache zur Weiterführung des Verwaltungsverfahrens
im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.

C. 
Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle, unter Aufhebung des vorinstanzlichen
Entscheids sei die Verfügung vom 3. August 2012 zu bestätigen.

Das kantonale Gericht beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten;
eventuell sei diese abzuweisen. S.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde
schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt Gutheissung
der Beschwerde.

Erwägungen:

1. 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein
Rechtsmittel zulässig ist (BGE 138 V 318 E. 6 Ingress S. 320; 135 III 212 E. 1
S. 216 mit Hinweisen).

2.

2.1. Das kantonale Gericht erwog, es sei nicht einzusehen, weshalb die
IV-Stelle nicht versucht habe, bezüglich der Wahl der Gutachterstelle eine
einvernehmliche Lösung mit dem Versicherten zu finden, oder dessen Vorschlag zu
befolgen, die Klinik Y.________ mit der Erstellung eines Verlaufsgutachtens zu
beauftragen. Mit den Verfahrensrechten, welche den versicherten Personen laut
bundesgerichtlicher Rechtsprechung im Rahmen einer administrativ angeordneten
Begutachtung zustünden, lasse sich das Vorgehen der IV-Stelle bei der
Gutachtensbeauftragung jedenfalls nicht vereinbaren. Weiter führte das
kantonale Gericht aus, mit der Zustellung einer Auswahl von
Bundesgerichtsurteilen, in denen die Überwindbarkeit festgestellter psychischer
Erkrankungen bejaht wurde, habe die IV-Stelle die Gutachterstelle in
unzulässiger Weise beeinflusst. Ein Hinweis auf die Qualitätsleitlinien für
psychiatrische Gutachten in der Eidgenössischen Invalidenversicherung der
Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie wäre nach Auffassung
der Vorinstanz zielführender gewesen. Aufgrund der festgestellten
Verfahrensmängel wies das kantonale Gericht die Sache an die IV-Stelle zurück
und verpflichtete diese, das bereits ergangene Gutachten des medizinischen
Abklärungsinstitutes X.________ aus den Akten zu entfernen und eine neue
medizinische Expertise in Auftrag zu geben. Das Gericht hielt weiter fest, es
spreche seiner Ansicht nach nichts dagegen, die Klinik Y.________ mit einer
Verlaufsbegutachtung zu beauftragen. Jedenfalls sei eine Einigung mit dem
Versicherten betreffend Wahl der Gutachterstelle anzustreben. Auf die
Zustellung einer Rechtsprechungsübersicht sei zu verzichten.

2.2. Die beschwerdeführende IV-Stelle wendet ein, das kantonale Gericht
verpflichte sie zu einem bundesrechtswidrigen Vorgehen. Laut angefochtenem
Entscheid müsse sie, entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 72bis IVV bezüglich
der Auswahl der Gutachterstelle, ein kontradiktorisches Einigungsverfahren
durchführen und das bundesrechtlich vorgeschriebene Zufallsprinzip ignorieren.
Mit der genannten Bestimmung sei es überdies nicht vereinbar, die Klinik
Y.________ mit einem Verlaufsgutachten zu beauftragen, da diese mit dem BSV
keine Vereinbarung im Sinne dieser Bestimmung getroffen habe. Zudem werde sie
gezwungen, ein kostenintensives und unnützes Abklärungsverfahren durchzuführen,
obwohl mit dem Gutachten des medizinischen Abklärungsinstitutes X.________ eine
beweiskräftige medizinische Expertise vorliege. Weiter verkennt das kantonale
Gericht laut IV-Stelle, dass die Qualitätsrichtlinien den auf SuisseMED (at) P
aufgeschalteten Gutachterstellen bereits bekannt seien, während eine Zustellung
einer Zusammenstellung bundesgerichtlicher Urteile ein probates Mittel sei, den
Gutachtern die von der Rechtsprechung verbindlich festgestellten Richtlinien
näher zu bringen.

3.

3.1. Gemäss Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das
Verfahren abschliessen. Ebenfalls zulässig ist nach Art. 91 Abs. 1 BGG die
Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren. Beim angefochtenen Entscheid handelt
es sich um einen anderen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid (BGE 133 V
477 S. 481 f. E. 4.2 und 5.1), gegen den die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nur zulässig ist, wenn er einen nicht
wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG), oder
wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und
damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Ist die Beschwerde nicht zulässig oder
wurde von ihr kein Gebrauch gemacht, bleibt ein Zwischenentscheid im Rahmen
einer Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, sofern er sich auf dessen
Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG).

3.2. Der Eintretensgrund von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG fällt hier ohne weiteres
ausser Betracht. Derweil kann ein Rückweisungsentscheid der beschwerdeführenden
IV-Stelle einmal dann einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken (Art.
93 Abs. 1 lit. a BGG), wenn er materiellrechtliche Anordnungen enthält, welche
ihren Beurteilungsspielraum wesentlich einschränken, ohne dass sie die ihres
Erachtens rechtswidrige neue Verfügung selber anfechten könnte (BGE 133 V 477
E. 5.2 S. 483; SVR 2012 AHV Nr. 15 S. 55, 9C_171/2012 E. 3.3.1). Dies trifft
hier nicht zu, da sich die Rechts- und Sachlage nicht als unverrückbar
präsentiert. Der angefochtene Entscheid schränkt den Entscheidungsspielraum der
IV-Stelle nicht in einem Masse ein, dass nur noch eine Umsetzung des vom
kantonalen Gericht Angeordneten in Frage käme. Zu prüfen bleibt somit, ob eine
ungerechtfertigte Rückweisung aus Sicht der IV-Stelle andere nachteilige
Konsequenzen haben kann, die sich im Rahmen einer Anfechtung des Endentscheids
(Art. 93 Abs. 3 BGG) letztinstanzlich nicht gänzlich beseitigen lassen (vgl.
BGE 137 III 380 E. 1.2.1 S. 382).

3.3. In BGE 138 V 271 E. 3 ff. S. 278 hat das Bundesgericht festgehalten, dass
eine Gutachtensanordnung in der Regel lediglich im erstinstanzlichen Verfahren
anfechtbar sei (vgl. auch BGE 139 V 339 E. 4.5 S. 343). In BGE 139 V 99 E. 2.2
S. 102 hat es diese Rechtsprechung bestätigt. Weiter hat es erwogen, die
IV-Stellen würden bei einer ungerechtfertigten Rückweisung (jedenfalls) einen
zusätzlichen Abklärungsaufwand sowie (gegebenenfalls) das Risiko tragen, dass
das neu eingeholte Administrativgutachten letztlich wiederum nicht als
genügende Beweisgrundlage angesehen werde. Rein tatsächliche Nachteile wie eine
Verlängerung und Verteuerung des Verfahrens allein reichten nicht aus, um einen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil anzunehmen. Der Entscheid einer
Beschwerdeinstanz, die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung an die
IV-Stelle zurückzuweisen, sei daher beim Bundesgericht regelmässig nicht
anfechtbar (BGE 139 V 99 E. 2.4 S. 103; Urteil 9C_305/2013 vom 2. August 2013
E. 3). Soweit sich die IV-Stelle gegen die vorinstanzliche Verpflichtung
wendet, ein neues Gutachten einzuholen, entsteht ihr somit kein nicht wieder
gutzumachender Nachteil.

3.4. Das Bundesgericht hat in BGE 139 V 349 die Praxis zur Auftragsvergabe
medizinischer Gutachten nach dem Zufallsprinzip wie folgt präzisiert: Bei
polydisziplinären MEDAS-Begutachtungen hat die Gutachterwahl immer nach dem
Zufallsprinzip zu erfolgen (Art. 72bis Abs. 2 IVV). Die Zufallszuweisung ist im
Falle stichhaltiger Einwendungen gegen bezeichnete Sachverständige allenfalls
zu wiederholen bzw. zu modifizieren, indem die Beteiligten beispielsweise
übereinkommen, an der ausgelosten MEDAS festzuhalten, dabei aber eine
Arztperson nicht mitwirken zu lassen. Bei erneuter Nichteinigkeit ist eine
Zwischenverfügung zu erlassen (BGE 139 V 349 E. 5.2.1 S. 354; Urteil 9C_475/
2013 vom 6. August 2013 E. 2.1). Weiter hat das Bundesgericht im publizierten
Entscheid erwogen, das Hinwirken auf eine Einigung sei nach Einführung der
Zuweisungsplattform SuisseMED (at) P nur teilweise hinfällig geworden. Denn
auch nach Einführung dieses Zuweisungsinstrumentariums hätten sich die
Beteiligten mit Einwendungen auseinanderzusetzen, die sich aus dem konkreten
Einzelfall ergeben würden (E. 5.2.2 und 5.2.2.1). Bei mono- und bidisziplinären
Begutachtungen sei im Falle aller zulässigen Einwendungen konsensorientiert
vorzugehen (E. 5.2.2.3). Mono- und bidisziplinäre Expertisen dürften indessen
nicht als Vehikel zur Umgehung des zufallsbasierten MEDAS-Zuweisungssystems
missbraucht werden. Sofern die Verwaltung von einer MEDAS eine bi- oder
monodisziplinäre Expertise einholen wolle, habe sie zwingend einen
Einigungsversuch einzuleiten. Scheitert dieser, ist zu verfügen (E. 5.4).

3.5. Die Vorbringen der IV-Stelle vermögen keine bundesgerichtliche Anhandnahme
einer Beschwerde gegen den Zwischenentscheid des kantonalen Gerichts zu
begründen. Insbesondere ist nicht ersichtlich, inwiefern die IV-Stelle durch
den angefochtenen Entscheid gezwungen sein sollte, eine rechtswidrige Verfügung
zu erlassen. Zwar wäre es wünschenswert gewesen, wenn sich das kantonale
Gericht mit der Tragweite von Art. 72bis IVV auseinandergesetzt hätte. Wie das
Bundesgericht in BGE 139 V 349 E. 5.2 S. 354 festhält, wird die Obliegenheit
von IV-Stelle und versicherter Person, eine einvernehmliche Gutachtenseinholung
anzustreben, von den Akteuren teilweise unterschiedlich verstanden. Die vom BSV
erwähnte, in diesem Urteil präzisierte Rechtsprechung zur Gutachtensvergabe
nach dem Zufallsprinzip erging indessen erst nach dem Erlass des angefochtenen
Entscheids. Da dieser keine Anordnungen enthält, welche den
Beurteilungsspielraum der IV-Stelle wesentlich einschränken würden, besteht in
diesem Verfahren kein Anlass, auf die Kritik des BSV an den vorinstanzlichen
Erwägungen näher einzugehen. Die in BGE 139 V 349 präzisierte Rechtsprechung
schliesst die Einholung eines Verlaufsgutachtens bei der Klinik Y.________
jedenfalls nicht aus (vgl. BGE 139 V 349 E. 3.2 in fine S. 352; vgl. auch
Handbuch für Gutachter- und IV-Stellen = Anhang V des Kreisschreibens über das
Verfahren in der Invalidenversicherung [KSVI], FN 7). Zu einer einvernehmlichen
Gutachtenseinholung kann eine Partei sodann ohnehin nicht verpflichtet werden,
da dafür stets eine übereinstimmende Willenskundgebung erforderlich ist, welche
indessen nicht verbindlich durchgesetzt werden kann, wie die Beschwerdeführerin
selber zu Recht festhält. Ein Rechtsanspruch auf konsensuale Bestimmung der
Gutachterstelle besteht somit nicht. Im Falle des Scheiterns einer Konsenssuche
bliebe die von der IV-Stelle zu treffende Verfügung davon unbeeinflusst. Auch
der vorinstanzlich angeordnete Verzicht auf die Zustellung einer Auswahl von
Bundesgerichtsentscheiden zur invalidisierenden Wirkung von psychischen
Störungen an die beauftragte Gutachterstelle vermag für die IV-Stelle keinen
nicht wieder gutzumachenden Nachteil zu begründen.

3.6. Zusammenfassend sind die Eintretensvoraussetzungen nicht erfüllt. Auf die
Beschwerde ist demnach nicht einzutreten.

4. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem anwaltlich vertretenen
Beschwerdegegner steht eine Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Januar 2014

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Hofer

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben