Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.32/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_32/2013

Urteil vom 19. Juni 2013

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

H.________,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
15. November 2012.

Sachverhalt:

A.
Der 1954 geborene H.________ meldete sich im Juni 2008 nach einem operierten
Plattenepithelkarzinom des linken Oberlappens mit adjuvanter Chemotherapie und
Teilnahme an einer Impfstudie bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau klärte die medizinischen und
wirtschaftlichen Verhältnisse ab und holte bei der Academy A.________ des
Spitals X.________ ein polydisziplinäres Gutachten (vom 25. Oktober 2011) ein,
welches als Hauptdiagnose eine Cancer-related Fatigue mit Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit um 50 % ab 31. Juli 2009 in der angestammten Tätigkeit als
Wirtschaftsprüfer festhielt. Seit Diagnosestellung des Karzinoms und für die
Zeit der operativen und chemotherapeutischen Behandlungen bestand gemäss den
Gutachtern vom 23. April 2008 bis 30. Juli 2009 eine vollständige
Arbeitsunfähigkeit. Die IV-Stelle verneinte einen Rentenanspruch mit der
Begründung, da die Cancer-related Fatigue organisch nicht nachgewiesen werden
könne, sei diese als syndromales Beschwerdebild rechtsprechungsgemäss
willentlich überwindbar. Eine Ausnahme hiervon liege nicht vor, weshalb sie das
Leistungsbegehren abwies (Verfügung vom 15. Februar 2012).

B.
Die dagegen geführte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau, soweit es darauf eintrat, mit Entscheid vom 15. November 2012 gut und
sprach dem Versicherten für die Zeit vom 1. April bis 31. Oktober 2009 eine
ganze, und ab 1. November 2009 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu.

C.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
Ferner ersucht sie um Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
Während H.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichten
Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Verfügung vom 2. April 2013 erteilte das Bundesgericht der Beschwerde
aufschiebende Wirkung.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG).

1.2. Im Rahmen der Invaliditätsbemessung - namentlich bei der Ermittlung von
Gesundheitsschaden, Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeitsprofil sowie bei der
Festsetzung von Validen- und Invalideneinkommen - sind zwecks Abgrenzung der
(für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlichen) Tatsachenfeststellungen von
den (letztinstanzlich frei überprüfbaren) Rechtsanwendungsakten der Vorinstanz
weiterhin die kognitionsrechtlichen Grundsätze heranzuziehen, wie sie in BGE
132 V 393 E. 3 S. 397 ff. für die ab 1. Juli bis 31. Dezember 2006 gültig
gewesene Fassung von Art. 132 des nunmehr aufgehobenen OG entwickelt wurden.
Soweit die Beurteilung der Zumutbarkeit von Arbeitsleistungen auf die
allgemeine Lebenserfahrung gestützt wird, geht es um eine Rechtsfrage; dazu
gehören auch Folgerungen, die sich auf medizinische Empirie stützen, zum
Beispiel die Vermutung, dass eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder
ein vergleichbarer ätiologisch unklarer syndromaler Zustand mit zumutbarer
Willensanstrengung überwindbar sei (BGE 131 V 49 mit Hinweisen; SVR 2008 IV Nr.
8 S. 24, I 649/06 E. 3.2 am Ende). Im Übrigen gilt in diesem Zusammenhang
Folgendes: Zu den vom Bundesgericht nur eingeschränkt überprüfbaren
Tatsachenfeststellungen zählt zunächst, ob eine anhaltende somatoforme
Schmerzstörung (oder ein damit vergleichbarer syndromaler Zustand) vorliegt,
und bejahendenfalls sodann, ob eine psychische Komorbidität oder weitere
Umstände gegeben sind, welche die Schmerzbewältigung behindern. Als Rechtsfrage
frei überprüfbar ist, ob eine festgestellte psychische Komorbidität hinreichend
erheblich ist und ob einzelne oder mehrere der festgestellten weiteren
Kriterien in genügender Intensität und Konstanz vorliegen, um gesamthaft den
Schluss auf eine nicht mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbare
Schmerzstörung und somit auf eine invalidisierende Gesundheitsschädigung zu
gestatten (SVR 2008 IV Nr. 23 S. 72, I 683/06 E. 2.2).

2.
Der Geltungsbereich der zunächst auf die somatoforme Schmerzstörung (ICD-10
F45.4) bezogenen Rechtsprechung nach BGE 130 V 352 wurde sukzessive auf weitere
pathogenetisch-ätiologisch unklare syndromale Beschwerdebilder ausgedehnt.
Zunächst wurde die Fibromyalgie (ICD-10 M79.0) unterstellt (BGE 132 V 65),
sodann die dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (ICD-10 F44.6;
SVR 2007 IV Nr. 45 S. 149, I 9/07 E. 4), das chronische Müdigkeitssyndrom (CFS)
und die Neurasthenie (SVR 2011 IV Nr. 26 S. 73, 9C_662/2009 E. 2.3; SVR 2011 IV
Nr. 17 S. 44, 9C_98/2010 E. 2.2.2; Urteil I 70/07 vom 14. April 2008 E. 5), die
Folgen von milden Verletzungen der Halswirbelsäule ("Schleudertrauma"; BGE 136
V 279) sowie die nichtorganische Hypersomnie (BGE 137 V 64).

3.

3.1. Die Beschwerde führende IV-Stelle vertritt die Auffassung, die
invalidisierende Wirkung des von den Gutachtern diagnostizierten Leidens einer
tumorassoziierten Fatigue (Cancer-related Fatigue [CrF]) beurteile
sich -entgegen den Erwägungen der Vorinstanz - sinngemäss nach der
Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und sei im
Lichte der dort herangezogenen Kriterien zu verneinen.

3.2. Krebsbedingte Fatigue ist ein multidimensionales Syndrom, unter dem die
Mehrheit der Krebspatientinnen und -patienten während der Therapie leidet. Die
CrF kann viele Jahre nach Therapieabschluss andauern und wird durch physische,
psychologische und auch soziale Faktoren beeinflusst. Alle Erklärungsmodelle
zur Ursache und Entstehung von Müdigkeits- und Erschöpfungssyndromen gehen von
komplexen und multikausalen Vorgängen aus. Bei der CrF können diese durch den
Tumor bedingt oder Folge der Therapie, aber auch Ausdruck einer genetischen
Disposition, begleitender somatischer oder psychischer Erkrankungen, wie auch
verhaltens- oder umweltbedingter Faktoren sein. So besteht Evidenz für
metabolische Ursachen, endokrinologische und neurophysiologische Veränderungen
und Cytokine. Chemo- und radiotherapeutische Behandlungsschemata scheinen eine
Rolle zu spielen, wobei der Toxizität der Behandlung selbst, als auch der
Akkumulation zerstörter Tumorzellprodukte ätiologische Bedeutung zukommt.
Diskutiert wird auch die These, dass die Energieanforderungen durch die
Tumorerkrankung oder durch die Begleitsymptomatik einen Einfluss haben oder die
möglicherweise durch den Tumornekrosefaktor mitbedingte Verminderung der
Skelettmuskelmasse eine Rolle spielen kann (Brummer/Fladung/Connemann,
Tumorassoziierte Fatigue, Onkologische Welt 5/2011, S. 223 ff.; Heim/Feyer, Das
tumorassoziierte Fatigue-Syndrom, Journal Onkologie 1/2011, S. 42-47). Es
werden verschiedene pathophysiologische Faktoren diskutiert und bei der häufig
stark verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit als Ursachen vornehmlich
Veränderungen in kortikalen und spinalen Zentren der Sensomotorik wie auch
solche des muskulären Erregungs- und Energiestoffwechsels beschrieben (Horneber
et. al., Tumor-assoziierte Fatigue, Epidemiologie, Pathogenese, Diagnostik und
Therapie, Deutsches Ärzteblatt, Jg. 109, Heft 9, 2. März 2012, S. 161-171).

3.3. Ursachen und Entstehung der CrF sind demnach nach derzeitigem
Forschungsstand nicht ganz geklärt. Es besteht in der medizinischen Fachwelt
aber Einigkeit darüber, dass sie komplex sind und, wie dargelegt, somatische,
emotionale, kognitive und psychosoziale Faktoren zusammenspielen. Die CrF kann
- auch wenn zugrunde liegende internistische oder psychiatrische Erkrankungen
behandelt worden sind - in 30 bis 40 % noch längere Zeit nach Therapieabschluss
andauern. Diese (hier vorliegende) chronische Fatigue wird in Zusammenhang mit
der Krankheitsverarbeitung oder langfristigen Anpassungsproblemen gebracht. Sie
wird aber auch als mögliche Spätfolge der Therapie im Bereich von Störungen des
Stoffwechsels oder der psychovegetativen Selbstregulation des Körpers gesehen.

3.4. Definitionsbedingt tritt diese Form der Fatigue zwingend in Zusammenhang
mit einer Krebserkrankung auf. Ein Hinweis auf die Einordnung in die
somatoformen Störungen findet sich in der medizinischen Literatur nicht. Damit
grenzt sich die tumorassoziierte Fatigue auch klar vom Chronic Fatigue Syndrome
(CFS; ICD-10 G93.3) als eigenständiges Krankheitsbild ab, wenngleich die CrF
noch nicht als eigene Krankheitsentität Eingang in die ICD (Internationale
statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme)
gefunden hat. Es bestehen aber von der Fatigue-Coalition definierte
Diagnosekriterien analog zu ICD-10-Kriterien (Heim/Feyer, a.a. O. S. 42).
Als Begleitsymptom onkologischer Erkrankungen und ihrer Therapie liegt der CrF
zumindest mittelbar eine organische Ursache zugrunde, weshalb es sich mit der
Vorinstanz nicht rechtfertigt, sozialversicherungsrechtlich auf die
tumorassoziierte Fatigue die zum invalidisierenden Charakter somatoformer
Schmerzstörungen entwickelten Grundsätze (BGE 130 V 352) analog anzuwenden.

4.
Gegen die vorinstanzliche Feststellung, der Beschwerdegegner sei in seiner
bisherigen Tätigkeit als Wirtschaftsprüfer bestmöglich eingegliedert, wendet
die Beschwerdeführerin ebenso wenig etwas ein wie gegen den dementsprechend
durch Prozentvergleich (zu dessen Zulässigkeit vgl. BGE 114 V 310 E. 3a S. 312;
104 V 135 E. 2b S. 137) ermittelten Invaliditätsgrad, wobei sich das kantonale
Gericht auf die Arbeitsfähigkeitsschätzung gemäss Gutachten vom 25. Oktober
2011 stützte. Damit bleibt es beim Anspruch auf eine ganze Rente für die Zeit
vom 1. April bis 31. Oktober 2009 basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100
% und auf eine halbe Rente ab 1. November 2009 bei einem 50%igen
Invaliditätsgrad.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. Juni 2013

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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