Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.2/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
8C_2/2013

Urteil vom 19. April 2013
I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung,
Bundesrichter Maillard,
Gerichtsschreiberin Hofer.

Verfahrensbeteiligte
B.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Christos Antoniadis,
Beschwerdeführerin,

gegen

Zürich Versicherungsgesellschaft AG,
Postfach, 8085 Zürich Versicherung,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (kantonales Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 13. November 2012.

Sachverhalt:

A.
B.________ erhob am 10. Oktober 2012 bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft
AG (nachfolgend: Zürich) Beschwerde gegen den - nicht beigelegten -
Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2012. Die Beschwerde wurde von der Zürich
zuständigkeitshalber an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
überwiesen.
Das Sozialversicherungsgericht forderte B.________ am 16. Oktober 2012 auf, die
Beschwerdeschrift innert einer nicht erstreckbaren Frist von 10 Tagen zu
verbessern und den angefochtenen Einspracheentscheid einzureichen, ansonsten
auf die Beschwerde nicht eingetreten werde. Am 30. Oktober 2012 reichte
B.________ eine verbesserte Beschwerdeschrift ein, ohne indessen den
angefochtenen Einspracheentscheid nachzureichen. Das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich trat mit Entscheid vom 13. November 2012 androhungsgemäss
auf die Beschwerde nicht ein.

B.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Zürich und
das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde richtet sich gegen den vorinstanzlichen
Nichteintretensentscheid. Das Bundesgericht hat daher nur zu prüfen, ob die
Vorinstanz zu Recht auf das bei ihr erhobene Rechtsmittel nicht eingetreten ist
(BGE 132 V 74 E. 1.1 S. 76 mit Hinweis).

2.
2.1 Gemäss Art. 61 lit. b ATSG (SR 830.1) muss die Beschwerde eine gedrängte
Darstellung des Sachverhaltes, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung
enthalten. Genügt sie diesen Anforderungen nicht, so setzt das
Versicherungsgericht der Beschwerde führenden Person eine angemessene Frist zur
Verbesserung und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Beschwerde
nicht eingetreten wird.

2.2 Laut § 18 des Gesetzes des Kantons Zürich vom 7. März 1993 über das
Sozialversicherungsgericht (GSVGer; LS 212.81) hat die Beschwerdeschrift eine
kurze Darstellung des Sachverhalts, ein klares Rechtsbegehren und dessen
Begründung zu enthalten. Die Beweismittel sollen bezeichnet und soweit möglich
eingereicht werden. Der angefochtene Entscheid ist beizulegen (Abs. 2). Genügt
die Eingabe den Anforderungen nicht, setzt das Gericht eine angemessene Frist
zur Verbesserung an, mit der Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht
eingetreten werde (Abs. 3).

2.3 Die in Art. 61 lit. b ATSG statuierten Mindestanforderungen sind auf das
Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten direkt anwendbar; nur
darüber hinausgehende Fragen (z.B. Ausgestaltung des Gerichts,
Verhandlungssprache, Kriterien zur Bemessung der Parteientschädigung oder
Unterzeichnung der Entscheide) verbleiben in der Kompetenz der Kantone (vgl.
UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 12 zu Art. 61 ATSG). Insofern
erlangt § 18 GSVGer keine eigenständige Bedeutung, da er keinen über Art. 61
lit. b ATSG hinausgehenden Inhalt aufweist (vgl. Urteil 8C_556/2009 vom 1. März
2010, E. 3.2 mit Hinweisen; BARBARA KOBEL, in: Zünd/Pfiffner Rauber [Hrsg.],
Kommentar zum Gesetz über das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, 2.
Aufl. 2009, N. 1 zu § 18 GSVGer).

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, die Beschwerdeführerin habe zwar eine
verbesserte Beschwerdeschrift eingereicht, es indessen unterlassen, den
angefochtenen Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2012 nachzureichen. Damit sei
sie den Auflagen des Gerichts ungenügend nachgekommen, weshalb androhungsgemäss
auf die Beschwerde nicht einzutreten sei.

3.2 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 61 lit. b ATSG und
einen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 1 BV (überspitzter Formalismus,
Rechtsverweigerung). Für die strikte Anwendung der Formvorschriften bestehe
kein schutzwürdiges Interesse, da der Vorinstanz sowohl der Leistungserbringer
wie auch die streitige Anordnung aufgrund der Beschwerdeschrift und des
Übermittlungsschreibens der Beschwerdegegnerin bekannt gewesen seien.

4.
4.1 Überspitzter Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung liegt
vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne
dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle
Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften
überspannte Anforderungen stellt und dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger
Weise versperrt (BGE 135 I 6 E. 2.1 S. 9 mit Hinweisen). Wohl sind im
Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und
rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen
Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit
Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben,
wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen
Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die
Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder
verhindert (BGE 132 I 249 E. 5 S. 253; 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183).

4.2 Eine kantonale Beschwerdeinstanz verletzt grundsätzlich kein Bundesrecht,
wenn sie durch einen Nichteintretensentscheid die fehlende Einreichung des
angefochtenen Entscheids innert gesetzter Frist ahndet, es sei denn, das
Erfordernis, den angefochtenen Einspracheentscheid einzureichen, stelle in der
konkreten Verfahrenssituation einen blossen Selbstzweck dar (BGE 116 V 353 E.3c
S. 358). § 18 Abs. 2 Satz 3 GSVGer dient dazu, dem angerufenen Gericht
Gewissheit zu verschaffen, über welchen Streitgegenstand welcher
Verfügungsinstanz dieses zu urteilen hat. Sind diese in der Regel ohne weiteres
dem angefochtenen Entscheid zu entnehmenden Informationen nicht bekannt, hat
das Gericht eine Nachfrist zur Verbesserung unter Androhung des Nichteintretens
anzusetzen. Die kantonale Vorschrift enthält insoweit eine
Gültigkeitsvoraussetzung, als auf eine Beschwerde nur dann eingetreten werden
kann, wenn bekannt ist, gegen welchen Leistungserbringer und gegen welche
Anordnung sich die Beschwerde richtet (KOBEL, a.a.O., N. 21 zu § 18 GSVGer).
Überspitzter Formalismus liegt vor, wenn die kantonale Beschwerdeinstanz einen
Nichteintretensentscheid fällt, obwohl der Zweck der Einreichung des
angefochtenen Entscheids bereits auf andere Weise erreicht war (BGE 116 V 353
E. 3b und c S. 358).

5.
5.1 Als Rechtsfrage frei zu prüfen ist, ob die Vorinstanz das Verbot des
überspitzten Formalismus verletzte, indem sie auf die Beschwerde vom 10./30.
Oktober 2012 nicht eingetreten ist.

5.2 Die fälschlicherweise an die Zürich adressierte Eingabe der
Beschwerdeführerin vom 10. Oktober 2012 enthielt die Überschrift "Einsprache
gegen den Entscheid vom 1. Oktober 2012 - 272/11-........". Nach Art. 58 Abs. 3
ATSG hat die Behörde, die sich als unzuständig erachtet, die Beschwerde ohne
Verzug dem zuständigen Versicherungsgericht zu überweisen. Die
Beschwerdegegnerin leitete die Eingabe der Versicherten am 12. Oktober 2012 in
diesem Sinne an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich weiter. Das
Begleitschreiben enthielt die Referenznummer "272/11-........" und den Hinweis
"Ereignis vom 7. April 2011". Zudem legte die Zürich das am gleichen Datum an
die Beschwerdeführerin gerichtete Schreiben bei, in welchem sie den Empfang der
Beschwerde gegen ihren Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2012 bestätigte.
Damit waren der Vorinstanz der zuständige Unfallversicherer, das Datum des
streitigen Einspracheentscheids und die Referenznummer bekannt. Der
angefochtene Entscheid hätte sich folglich ohne weiteres aus den von Amtes
wegen beizuziehenden und vom Unfallversicherer einzureichenden massgeblichen
Akten (§ 21 Abs. 1 GSVGer) entnehmen lassen. Unter diesen Umständen ist es
überspitzt formalistisch, auf die Beschwerde mangels Einreichung des
angefochtenen Einspracheentscheids nicht einzutreten. An diesem Ergebnis vermag
nichts zu ändern, dass bei anders gelagerten verfahrensrechtlichen Situationen
die Einreichung des angefochtenen Entscheids im Sinne der Mitwirkungspflicht
durchaus geboten sein und bei einem Verstoss dagegen Nichteintreten nach sich
ziehen kann.

5.3 Die Sache ist unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Beschwerde materiell prüfe und darüber
entscheide.

6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende Beschwerdegegnerin hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 13. November 2012
aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2000.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. April 2013

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Hofer

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