Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.263/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_263/2013

Urteil vom 19. August 2013

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
U.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Josef Mock Bosshard,
Beschwerdeführer,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Leistungskürzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 7.
März 2013.

Sachverhalt:

A.
U.________, geboren 1963, war bei der E.________ AG als Bauarbeiter beschäftigt
und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) für die Folgen
von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am
frühen Morgen des 21. Oktober 2010 begab er sich mit dem Auto zur Arbeit. Auf
dem Weg von S.________ nach B.________ um etwa 05.30 Uhr kam es zu einer
Auseinandersetzung mit einem anderen Autofahrer. Nach Angaben des Versicherten
wollte er einen vor ihm fahrenden BMW überholen, dessen Lenker habe ihn jedoch
nicht gewähren lassen. Der Beifahrer des BMW-Lenkers zeigte dem Versicherten
den "Stinkefinger", weil er sich über sein zu dichtes Aufschliessen und
Betätigen der Lichthupe geärgert habe. Ausgangs der nächsten Ortschaft
(G.________) bremste der BMW-Fahrer den Versicherten bei einer Verkehrsinsel
aus, sein Beifahrer stieg aus und verpasste dem Versicherten durch die
geöffnete Fensterscheibe mehrere Schläge ins Gesicht. Der wegen Nasenbluten und
Hämatomen aufgesuchte Arzt diagnostizierte multiple Kontusionen, die
Röntgenuntersuchung ergab jedoch keinen Befund. Er versorgte den Versicherten
mit Nasentamponaden und Schmerzmitteln und verschrieb Physiotherapie. In der
Folge wurde eine Orbitawandfraktur festgestellt und es wurde eine
Septumkorrektur und Kieferhöhlenrevision (wegen eines Aspergilloms)
vorgenommen. Die SUVA kürzte die Taggelder wegen grobfahrlässigen Herbeiführens
des Unfalls um 20 % (Verfügung vom 27. September 2011 und Einspracheentscheid
vom 25. September 2012).

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 7. März 2013 ab.

C.
U.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides seien ihm die
gesetzlichen Leistungen zuzusprechen.
Während die SUVA auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist
die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht
eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich
nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.
Gemäss Art. 37 Abs. 2 UVG werden in der Versicherung der Nichtberufsunfälle -
in Abweichung von Art. 21 Abs. 1 ATSG - die Taggelder, die während der ersten
zwei Jahre nach dem Unfall ausgerichtet werden, gekürzt, wenn der Versicherte
den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt hat (Satz 1).

3.
Der Beschwerdeführer wurde mit Strafentscheid des Regionalgerichts Y.________
vom 23. Februar 2012 wegen einfacher Verkehrsregelverletzung, mehrfach begangen
(unter anderem) durch zu nahe aufgeschlossenes Fahren mit Personenwagen und
missbräuchliche Verwendung der Lichthupe, zu einer Übertretungsbusse
verurteilt. Er macht indessen geltend, dass er erst nachdem ihm der
Stinkefinger gezeigt worden sei die Lichthupe betätigt habe. Es fehle an einem
adäquaten Kausalzusammenhang zwischen seinem Verhalten und den ihm zugefügten
Faustschlägen, weshalb die Taggeldkürzung unzulässig sei.

4.

4.1. Nach ständiger Rechtsprechung handelt grobfahrlässig, wer jene elementaren
Vorsichtsgebote unbeachtet lässt, die jeder verständige Mensch in der gleichen
Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte, um eine nach dem
natürlichen Lauf der Dinge voraussehbare Schädigung zu vermeiden (BGE 118 V 105
E. 2a S. 306). Das Verhalten muss, um - durch Verletzung elementarster
Vorsichtsgebote - Rechtsnachteile zu gewärtigen, Unverständnis, Kopfschütteln
und Tadel auslösen, eine moralische Verurteilung nach sich ziehen und die
Grenze des Tolerierbaren überschreiten (SVR 2003 UV Nr. 3 S. 7, U 195/01 E. 1;
Riemer-Kafka, Die Pflicht zur Selbstverantwortung, Leistungskürzungen und
Leistungsverweigerungen zufolge Verletzung der Schadensverhütungs- und
Schadensminderungspflicht im schweizerischen Sozialversicherungsrecht, Freiburg
1999, S. 131).

4.2. Bei Fehlverhalten im Strassenverkehr ist grobe Fahrlässigkeit im Sinne von
Art. 37 Abs. 2 UVG in der Regel dann anzunehmen, wenn in ursächlichem
Zusammenhang mit dem Unfall eine elementare Verkehrsvorschrift oder mehrere
wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt wurden. Der Begriff der groben
Fahrlässigkeit nach Art. 37 Abs. 2 UVG ist in diesen Fällen weiter zu fassen
als derjenige der groben Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Ziff. 2
SVG, welcher ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges
Verhalten voraussetzt (BGE 118 V 305 E. 2b S. 307; seit 1. Januar 2013: Art. 90
Abs. 2 SVG).

4.3. Eine grobe Fahrlässigkeit rechtfertigt eine Kürzung der Leistungen des
Unfallversicherers nur dann, wenn zwischen dem Verhalten und dem Unfallereignis
oder seinen Folgen ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang vorliegt (
BGE 126 V 353 E. 5b i.f. S. 361; 121 V 45 E. 2c S. 48; 118 V 305 E. 2c S. 307).
Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind nach der
Rechtsprechung alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg
nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise beziehungsweise
nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann. Als adäquate Ursache
eines Erfolges hat ein Ereignis dann zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen
Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist,
einen Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses
Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint (BGE 129 V
177 E. 3.1 und 3.2 S. 181; vgl. dazu wie auch zu den nachfolgenden Erwägungen
Kramer, Die Kausalität im Haftpflichtrecht: Neue Tendenzen in Theorie und
Praxis, ZBJV 123/1987 S. 289 ff.).

5.

5.1. Gemäss Einspracheentscheid der SUVA hat der Beschwerdeführer mit dem zu
nahen Aufschliessen auf das Vorderfahrzeug eine elementare Sorgfaltspflicht
verletzt, dessen Fahrer und Beifahrer damit provoziert und sich selber in eine
gefährliche Situation begeben. Dem pflichtete die Vorinstanz bei, ohne sich
näher dazu zu äussern. Die SUVA geht auch von einem adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen diesem Verhalten und den eingesteckten Schlägen
aus, zumal dieser nur dann zu verneinen sei, wenn die Reaktion der Insassen des
Vorderfahrzeuges ausserhalb des möglicherweise zu Erwartenden gelegen habe. Das
kantonale Gericht führt dazu aus, dass die unbestrittenen und wiederholten
Provokationen geeignet gewesen seien, den vorausfahrenden Lenker sowie dessen
Beifahrer aufgrund der wiederholt herbeigeführten gefährlichen Situationen zu
Handgreiflichkeiten zu reizen. Der Beschwerdeführer habe damit rechnen müssen,
dass die Personen im vorausfahrenden Fahrzeug aggressiv reagieren könnten und
die Situation eskalieren könnte.

5.2. Streitig ist die Kürzung der Versicherungsleistungen wegen
grobfahrlässiger Herbeiführung des Unfalls im Sinne von Art. 37 Abs. 2 UVG
durch die Verletzung von Verkehrsregeln. Es ist hier indessen nach dem -
allenfalls grobfahrlässigen - Fehlverhalten des Beschwerdeführers im
Strassenverkehr nicht zu einem Autounfall, sondern zu einer tätlichen
Auseinandersetzung gekommen. Zu prüfen ist, ob die dem Versicherten dabei
zugefügte Körperverletzung nach den Grundsätzen der adäquaten Kausalität seinem
Fehlverhalten im Strassenverkehr zuzurechnen ist. Was Verwaltung und Vorinstanz
dazu ausführen, vermag nicht zu überzeugen. Erfahrungsgemäss ist eine
Missachtung von Verkehrsregeln geeignet, zu einer Gefährdung der Sicherheit der
Verkehrsteilnehmer, zu Autounfällen und damit verbunden zu entsprechenden
Verletzungsfolgen zu führen. Die Missachtung der Regel über das Einhalten eines
ausreichenden Abstandes beim Hintereinanderfahren im Sinne von Art. 34 Abs. 4
SVG ist eine häufige Unfallursache (BGE 131 IV 133 E. 3.2.1 S. 137; Urteil
1C_424/2012 vom 15. Januar 2013 E. 4.1 und 4.2) und kann auch zu tödlichen
Verletzungen anderer Verkehrsteilnehmer führen (vgl. z.B. Urteile 6B_576/2007
vom 22. Januar 2008; 6S_127/2007 vom 6. Juli 2007). Wenn es hier infolge eines
Strassenverkehrsdelikts zu einer Schlägerei gekommen ist, ist die Abfolge der
Ereignisse im Einzelnen einer näheren Überprüfung zu unterziehen mit Blick auf
die jeweils mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwartenden
Verlaufsmöglichkeiten. Dabei fällt im vorliegend zu beurteilenden Fall auf und
ist entscheidwesentlich, dass das strafrechtlich als leichte
Verkehrsregelverletzung geahndete Fehlverhalten des Beschwerdeführers nach Lage
der Akten nicht zu einer ernstlichen Gefährdung der Insassen des
Vorderfahrzeuges geführt hat. Sie gaben an, dass sie sich "nicht sehr wohl"
gefühlt beziehungsweise "langsam aber sicher genervt" hätten. Ausschlaggebend
ist, dass es der Beschwerdeführer nicht so weit hat kommen lassen, dass er
andere Verkehrsteilnehmer in ihrer Sicherheit ernsthaft bedroht hätte oder es
gar zu einer Kollision, allenfalls mit Verletzungsfolgen, gekommen wäre.
Nachdem ein solcher erfahrungsgemäss durch die Verkehrsregelverletzung
begünstigter Schadenserfolg nicht eingetreten ist, lässt sich ein adäquater
Kausalzusammenhang mit dem tätlichen Angriff eines anderen Verkehrsteilnehmers
nicht begründen.

6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
Prozessausgang entsprechend der Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1
Satz 1 BGG); des Weiteren hat sie dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 7. März 2013 und der
Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) vom
25. September 2012 werden aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. August 2013

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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