Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.262/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_262/2013

Urteil vom 5. Juli 2013

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Biedermann,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 28. Februar 2013.

Sachverhalt:

A.
Der 1969 geborene A.________, gelernter Fahrzeugschlosser, arbeitete zuletzt
als Maschinenführer bei der X.________ AG, bis das Arbeitsverhältnis aus
wirtschaftlichen Gründen auf den 30. Juni 2009 gekündigt wurde. Am 4. April
2011 meldete er sich wegen seit dem 9. Dezember 2009 bestehenden
Rückenschmerzen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach
Abklärungen in medizinischer und erwerblicher Hinsicht gewährte ihm die
IV-Stelle Bern vom 8. August bis 30. Oktober 2011 berufliche Massnahmen im
Sinne einer Grundabklärung der Einsetz- und Belastbarkeit bei der
Eingliederungsstätte für Behinderte (VEBO). Daran anschliessend absolvierte der
Versicherte bis zum 29. Januar 2012 gleichenorts ein Arbeitstraining. Mit
Verfügung vom 11. Oktober 2012 verneinte die IV-Stelle nach durchgeführtem
Vorbescheidverfahren den Anspruch auf eine Rente mit der Begründung,
medizinisch hätten keine invalidenversicherungsrechtlichen Befunde erhoben
werden können, die eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit im bisherigen
Berufsumfeld begründen würden.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 28. Februar 2013 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache zur
weiteren Sachverhaltsabklärung und neuer Verfügung an die IV-Stelle
zurückzuweisen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann eine - für den Ausgang des
Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - Sachverhaltsfeststellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder wenn sie auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG
beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum
Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es
sich grundsätzlich um Entscheidungen über Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S.
397 ff.). Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E.
3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil 8C_670/2011 vom 10. Februar 2012 E. 3.2 mit
Hinweis).

1.2. Der Verzicht der Vorinstanz auf weitere Abklärungen oder Rückweisung der
Sache an die IV-Stelle zu diesem Zwecke im Besonderen verletzt etwa dann
Bundesrecht, wenn der festgestellte Sachverhalt unauflösbare Widersprüche
enthält oder wenn eine entscheidwesentliche Tatfrage, wie namentlich
Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person, auf
unvollständiger Beweisgrundlage beantwortet wird (Urteil 9C_617/2010 vom 10.
Februar 2011 E. 3.1 mit Hinweisen).

2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Die Vorinstanz hat die
gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung entwickelten
Grundsätze zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG) und die
Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG in Verbindung mit
Art. 28a Abs. 1 IVG; BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348) sowie zur Aufgabe von
Ärztinnen und Ärzten im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S.
261) und zum Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E.
3a S. 352) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.

3.1. Die Vorinstanz ging gestützt auf den als überzeugend und schlüssig
erachteten Bericht der med. pract. C.________, Ärztin beim Regionalen
Ärztlichen Dienst der IV-Stelle (RAD), vom 14. Dezember 2011 davon aus, der
Beschwerdeführer könne trotz gewisser gesundheitlicher Beschwerden die
bisherige beziehungsweise die vor der Arbeitslosigkeit ausgeübte Tätigkeit als
Maschinenführer, bei welcher fünf Mal pro Tag Gewichte von maximal 10 kg zu
heben/tragen waren und die zu 10 % sitzend und zu 90 % stehend verrichtet
werden musste, ganztags ohne Leistungsreduktion weiterhin ausüben. Es liege
kein invalidenversicherungsrechtlich relevanter Gesundheitsschaden vor.

3.2. Nach Auffassung des Beschwerdeführers hat das kantonale Gericht den
Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt, da die medizinischen Akten
unvollständig erhoben und damit der Untersuchungsgrundsatz verletzt wurde und
Beweisstücke vom kantonalen Gericht nicht oder unvollständig gewürdigt worden
seien. Damit sei auch sein Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.

4.
Wie das Bundesgericht in BGE 125 V 351 erkannt hat, haben Versicherungsträger
und Sozialversicherungsrichter die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an förmliche
Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das
Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass das Sozialversicherungsgericht alle
Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und
danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige
Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf es bei
einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen,
ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum es
auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich
des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob der Bericht für die
streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch
die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese)
abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in
der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die
Schlussfolgerungen des Experten begründet sind. Ausschlaggebend für den
Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels noch
die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als
Bericht oder Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352).
Hinsichtlich Beweiswert und Aufgabe eines RAD-Berichtes gilt Folgendes: Die
Funktion interner RAD-Berichte besteht darin, aus medizinischer Sicht -
gewissermassen als Hilfestellung für die medizinischen Laien in Verwaltung und
Gerichten, welche in der Folge über den Leistungsanspruch zu entscheiden haben
- den medizinischen Sachverhalt zusammenzufassen und zu würdigen, wozu
namentlich auch gehört, bei widersprüchlichen medizinischen Akten eine Wertung
vorzunehmen und zu beurteilen, ob auf die eine oder die andere Ansicht
abzustellen oder aber eine zusätzliche Untersuchung vorzunehmen sei. Sie
würdigen die vorhandenen Befunde aus medizinischer Sicht (SVR 2009 IV Nr. 50 S.
153, 8C_756/2008 E. 4.4; Urteil 9C_589/2010 vom 8. September 2010 E. 2).

5.

5.1.

5.1.1. Wie dargelegt, stützt sich das kantonale Gericht vorwiegend auf den
RAD-Bericht vom 14. Dezember 2011. Im angefochtenen Entscheid werden weiter die
Berichte des PD Dr. med B.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und
Traumatologie des Bewegungsapparates vom 8. Juli 2010, des Dr. med S.________,
Facharzt für Rheumatologie FMH vom 1. Dezember 2010, den Austrittsbericht der
Rehaklinik Y.________ vom 8. März 2011, den Bericht des Dr. med U.________,
Allgemeine Innere Medizin FMH vom 26. April 2011, diejenigen des Dr. med.
Z.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Taumatologie des
Bewegungsapparates FMH vom 14. April 2012, des Dr. med. L.________, Facharzt
für Allgemeine Innere Medizin FMH vom 22. Mai 2012 und des Dr. med. P.________,
Facharzt für Anästhesiologie vom 30. Juli 2012 zusammengefasst. In der
Würdigung beschränkt sich das Gericht indessen darauf, neben dem Abstellen auf
den RAD-Bericht, kurz auf diejenigen des Dr. med. S.________ vom 1. Dezember
2010 und des Dr. med. P.________ vom 30. Juli 2012 Bezug zu nehmen. So wird im
angefochtenen Entscheid zwar auch aus einem Bericht aus der
Wirbelsäulensprechstunde des PD Dr. med. B.________ vom 8. Juli 2010 zitiert,
wonach dieser Arzt der Meinung war, dass sich der Patient "nicht arbeitsfähig
fühlt", jedoch nicht erwähnt, dass die Rehaklinik Y.________ in ihrem
Austrittsbericht über einen stationären Aufenthalt vom 15. Februar bis 5. März
2011 ausdrücklich erwähnt, der Patient habe motiviert an den angebotenen
Therapien teilgenommen. Gemäss dem letztgenannten Zeugnis bestehe aus
ärztlicher Sicht für Arbeiten mit leichter körperlicher Belastung eine 50%ige
Arbeitsfähigkeit. Die im Entscheid erwähnten psychosozialen Einflüsse werden
nicht konkretisiert. Keiner der bisher mit dem Beschwerdeführer befassten Ärzte
stellte eine psychiatrische Diagnose.

5.1.2. Weder der von der Vorinstanz als massgebend erachteten RAD-Bericht noch
einer der anderen Arztberichte ist hinsichtlich der streitigen Belange
umfassend, beruht auf allseitigen Untersuchungen und ist in Kenntnis der
Vorakten (Anamnese) abgegeben worden. Entsprechend leuchtet vor allem der
RAD-Bericht in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der
medizinischen Situation nicht ein und die Schlussfolgerungen der Ärztin sind
nur mangelhaft begründet. Auf Widersprüche in den verschiedenen Arztberichten
geht die Verwaltungsärztin nicht ein. Obwohl bisher nicht abgeklärt werden
konnte, auf welchen Ursachen die geltend gemachten Rückenschmerzen
zurückzuführen sind, wurde der Beschwerdeführer bisher nicht gutachterlich
untersucht. Eine Abklärung in psychiatrischer Hinsicht fehlt gänzlich, obwohl
sich die RAD-Ärztin in ihrer Einschätzung, dass keine
invalidenversicherungsrechtlich relevante Gesundheitsschädigung vorliegt,
insbesondere auf "psychosoziale Gründe" beruft. So wird auch argumentiert, im
Alltag werde jegliche Aktivität vermieden, indessen wurde nicht abgeklärt, wie
der Alltag des Versicherten aussieht. Damit entspricht der RAD-Bericht nicht
den praxisgemässen Anforderungen an einen Arztbericht mit massgebendem
Beweiswert.

5.1.3. Gemäss angefochtenem Entscheid kann auf die Ergebnisse der beruflichen
Abklärung beziehungsweise des Arbeitstrainings in der VEBO vom 8. August 2011
bis 29. Januar 2012 nicht abgestellt werden. Das kantonale Gericht begründet
dies mit einer Diskrepanz zwischen objektiven Befunden und subjektiven
Schmerzangaben sowie nicht näher bezeichneten psychosozialen Einflüssen und
einer Dekonditionierung des Beschwerdeführers. Gemäss Bericht der VEBO vom 2.
März 2012 wurde im Verlaufe des Arbeitstrainings versucht, das Pensum von
anfänglich 50 % zu steigern. Wegen den auftretenden starken Rückenbeschwerden
war dies jedoch nicht möglich. Dass es sich bei den geltend gemachten Schmerzen
nicht bloss um subjektive Angaben handelte, zeigte sich im Sinne von nicht
beeinflussbaren vegetativen Zeichen wie Schweissausbrüchen, die bei
nachmittäglichen längeren Arbeiten auftraten. Auf die Widersprüche zwischen der
Darstellung im zusammenfassenden RAD-Bericht und der Zumutbarkeitsbeurteilung
der Rehaklinik Y.________ sowie der VEBO gingen weder die IV-Stelle noch das
kantonale Gericht näher ein.

5.2. Bei dieser Aktenlage greift der Schluss der Vorinstanz, es liege kein
invalidenversicherungsrechtlich relevanter Gesundheitsschaden vor, zu kurz. Der
rechtserhebliche Sachverhalt hinsichtlich des somatischen und psychischen
Gesundheitszustandes sowie der Arbeitsfähigkeit ist somit unvollständig erhoben
worden. Es bedarf mit Blick auf die Erkenntnisse aus der beruflichen Abklärung
beziehungsweise des Arbeitstrainings weiterer Abklärung. Da sich das kantonale
Gericht im angefochtenen Entscheid nicht auf eindeutige medizinische Unterlagen
stützen konnte, liegt eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes vor (Art. 43
Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG; BGE 125 V 193 E. 2 S. 195; 122 V 157 E. 1a S.
158). Die Sache wird zur Einholung eines polydisziplinären Gutachtens und zum
neuen Entscheid an das kantonale Gericht zurückgewiesen. Die Beschwerde ist
gutzuheissen.

6.
Bei diesem Verfahrensausgang wird die Beschwerdegegnerin kosten- und
entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG; Urteil
8C_727/2011 vom 1. März 2012 E. 5, nicht publ. in: BGE 138 V 147, aber in: SVR
2012 UV Nr. 20 S. 73).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 28. Februar 2013
wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 5. Juli 2013
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer

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