Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.22/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]         
8C_22/2013 {T 0/2}     

Urteil vom 4. Juli 2013

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Luzern,
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

D.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Starkl, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Rentenaufhebung; aufschiebende Wirkung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
vom 3. Dezember 2012.

Sachverhalt:

A.
D.________, geboren 1959, erhielt am 20. Februar 2002 gestützt auf das
polydisziplinäre Gutachten des medizinischen Begutachtungsinstituts X.________
vom 16. November 2001 ab 1. Juli 1998 eine halbe Invalidenrente zugesprochen.
Die IV-Stelle Luzern wies das Gesuch, mit welchem D.________ infolge
verschlechtertem Gesundheitszustand eine ganze Rente beantragen liess, am 4.
Februar 2003 ab. Auf Einsprache hin hob sie diese Verfügung am 28. Mai 2003
wieder auf und ordnete weitere Abklärungen an. Unter Berücksichtigung des
Berichts des Dr. med. M.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
vom 25. April 2005 hielt die IV-Stelle mit Verfügung vom 20. Juni 2005,
bestätigt mit Einspracheentscheid vom 24. Januar 2006, an der halben Rente
fest. Gestützt auf den Bericht der Frau Dr. med. G.________, Fachärztin für
Allgemeine Medizin, vom 27. September 2008 bestätigte die IV-Stelle am 5.
Dezember 2008 die halbe Rente. Im Rahmen einer weiteren Revision von Amtes
wegen holte die IV-Stelle erneut einen Bericht bei Frau Dr. med. G.________ vom
25. Januar 2012 ein und stellte am 3. April 2012 gestützt auf die
Übergangsbestimmungen der IV-Revision 6a die Aufhebung der Rente in Aussicht.
D.________ liess am 15. Mai 2012 dagegen Einwände erheben und ankünden, einen
weiteren Arztbericht ins Recht zu legen. Nachdem sie diesen auch innert
Fristverlängerung bis 14. Juni 2012 nicht nachgereicht hatte, verfügte die
IV-Stelle am 5. Juli 2012 die Aufhebung der Rente und entzog einer allfälligen
Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
(heute: Kantonsgericht Luzern) mit Entscheid vom 3. Dezember 2012 in dem Sinne
gut, als es die Verfügung vom 5. Juli 2012 aufhob und die Sache an die
IV-Stelle zurückwies, damit diese nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen neu
über den Rentenanspruch verfüge. Zudem stellte es fest, dass D.________ während
des Abklärungsverfahrens weiterhin Anspruch auf eine halbe Invalidenrente habe.

C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, es seien Ziff. 1 - 4 des kantonalen Entscheids aufzuheben und die
Verfügung vom 5. Juli 2012 zu bestätigen. Zudem sei ihrer Beschwerde die
aufschiebende Wirkung zu erteilen.
Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde. D.________ lässt auf
Nichteintreten, eventualiter auf Abweisung und subeventualiter auf Rückweisung
schliessen; zudem sei der Beschwerde der IV-Stelle keine aufschiebende Wirkung
zu erteilen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliesst sich den
Begehren der IV-Stelle an.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide, das
heisst gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), und
gegen Teilentscheide, die nur einen Teil der gestellten Begehren behandeln,
wenn diese unabhängig von den anderen beurteilt werden können, oder die das
Verfahren nur für einen Teil der Streitgenossen und Streitgenossinnen
abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen selbständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide ist hingegen die Beschwerde nur zulässig, wenn sie die
Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 BGG), einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).
Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen wird, sind Zwischenentscheide, die nur unter den
genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden können (BGE 133
V 477 E. 4.2 S. 481). Anders verhält es sich nur dann, wenn der unteren
Instanz, an welche zurückgewiesen wird, kein Entscheidungsspielraum mehr
verbleibt und die Rückweisung nur noch der Umsetzung des oberinstanzlich
Angeordneten dient (BGE 135 V 141 E. 1.1 S. 143; 134 II 124 E. 1.3 S. 127).
Bei Beschwerden gegen vorsorgliche Massnahmen kann nur die Verletzung
verfassungsmässiger Rechte gerügt werden (Art. 98 BGG).
Das Bundesgericht prüft die Verletzung von Grundrechten und verfassungsmässigen
Rechten nicht von Amtes wegen, sondern nur insoweit, als eine solche Rüge in
der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG). Hier
muss die Beschwerdeschrift die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste
Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche
Rechtssätze inwiefern durch den angefochtenen Erlass oder Entscheid verletzt
worden sind. Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und,
soweit möglich, belegte Rügen; auf rein appellatorische Kritik am angefochtenen
Entscheid tritt es nicht ein (BGE 134 II 244 E. 2.2 S. 246).

2.
Die IV-Stelle macht geltend, angesichts der Anordnungen der Vorinstanz liege
faktisch ein Endentscheid im Sinne von Art. 90 ff. BGG vor.

2.1. Gemäss Ziff. 1 des vorinstanzlichen Dispositivs hob die Vorinstanz die
Verfügung vom 5. Juli 2012 auf und wies die Sache an die IV-Stelle zu neuem
Entscheid nach erfolgten Abklärungen im Sinne der Erwägungen zurück; Ziff. 1
enthält somit keine materielle Anweisung, die den Ermessensspielraum der
IV-Stelle materiell einschränken würde.
In Ziff. 2 des Dispositivs wird statuiert, die Versicherte habe während des
Abklärungsverfahrens weiterhin Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. Diese
Bestimmung kann im Kontext der entsprechenden Erwägung (Entscheid über Entzug
oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung) nur so verstanden werden,
als dass die halbe Invalidenrente der Versicherten während der Dauer des
Abklärungsverfahrens weiterhin auszubezahlen ist; eine materiell endgültige
Anordnung kann diese Anweisung nicht darstellen (vgl. E. 3.2).
Schliesslich kann der Hinweis im vorinstanzlichen Entscheid, wonach Art. 88bis
Abs. 2 lit. a IVV (Frist für die Wirksamkeit der Revision) beim Erlass der
neuen Verfügung erneut zu berücksichtigen sei, entgegen seinem Wortlaut nicht
als materielle Vorgabe verstanden werden: Die entsprechende Aussage findet sich
bei den Ausführungen über die aufschiebende Wirkung (E. 5 des kantonalen
Entscheids) und der zuständige Richter hat explizit darauf hingewiesen, dass er
als Einzelrichter nur für jene Streitigkeiten zuständig ist, welche ohne
verbindliche Vorgabe in der Sache an die Verwaltung zurückgewiesen werden (E. 7
des kantonalen Entscheids mit Hinweis auf § 8a Abs. 3 lit. d der bis 31. Mai
2013 in Kraft gestandenen Geschäftsordnung für das Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern vom 16. Mai 1973, SRL 43; vgl. E. 4).

2.2. Nach dem Gesagten kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden, soweit
die IV-Stelle einen materiellen Antrag - etwa im Sinne der Bestätigung der
Rentenaufhebung - stellt (vgl. zum Ganzen BGE 133 V 477).

3.

3.1. Entscheide über die aufschiebende Wirkung sind Entscheide über
vorsorgliche Massnahmen im Sinne von Art. 98 BGG (SVR 2012 IV Nr. 40 S. 151 E.
4.1 mit Hinweisen, 9C_652/2011). Somit kann diesbezüglich nur die Verletzung
verfassungsmässiger Rechte gerügt werden (Art. 98 BGG). Vorliegend hat die
Vorinstanz entgegen der Verfügung der IV-Stelle im Sinne einer vorsorglichen
Massnahme die Auszahlung der bisherigen Rente während des Abklärungsverfahrens
angeordnet.
Nach der Rechtsprechung dauert - unter Vorbehalt einer allfällig
missbräuchlichen Provozierung eines möglichst frühen Revisionszeitpunktes durch
die Verwaltung - der mit der revisionsweise verfügten Herabsetzung oder
Aufhebung einer Rente oder Hilflosenentschädigung verbundene Entzug der
aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde bei Rückweisung der Sache an die
Verwaltung auch noch für den Zeitraum dieses Abklärungsverfahrens bis zum
Erlass der neuen Verwaltungsverfügung an (BGE 106 V 18); diese Rechtsprechung
hat das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht mit einlässlicher
Begründung im Jahr 2003 (BGE 129 V 370) und das Bundesgericht im Jahr 2010 (SVR
2011 IV Nr. 33 S. 96 mit Hinweisen, 8C_451/2010) bestätigt. Eine Aufhebung des
von der Verwaltung angeordneten Entzugs der aufschiebenden Wirkung ist demnach
in Ausnahmefällen zulässig. Ob eine solche Ausnahme vorliegt, hat das
erstinstanzliche Gericht zu prüfen und gestützt auf Art. 29 Abs. 2 BV (und Art.
61 lit. h ATSG) wenigstens in den Grundzügen zu begründen (BGE 136 I 184 E.
2.2.1 S. 188, 229 E. 5.2 S. 236).

3.2. Wird eine rechtsmissbräuchliche Provozierung eines möglichst frühen
Revisionszeitpunktes bejaht, so ist die diesfalls angeordnete Auszahlung der
bisherigen Leistung keine abschliessende Entscheidung über den Anspruch auf
diese, sondern entfaltet nur im Rahmen des weiteren Abklärungsverfahrens seine
vorläufige Wirkung. Denn als vorsorgliche Massnahme kann der Entzug resp. die
Wiedererteilung der aufschiebenden Wirkung keine darüber hinausgehenden Folgen,
insbesondere materieller Art, zeitigen; es geht alleine darum, ob die verfügte
Anordnung sofort vollstreckt werden kann oder nicht (vgl. BGE 129 V 370 E. 2.2
S. 371). Somit wirkt sich die Bejahung des Rechtsmissbrauchs im Rahmen der
Beurteilung der aufschiebenden Wirkung auch nur auf diese aus, jedoch nicht auf
die Beantwortung materieller Ansprüche (Zeitpunkt der [allfälligen]
Rentenherabsetzung/-aufhebung).

4.
Die IV-Stelle rügt nebst der Verletzung von Bundesrecht infolge unzutreffender
Anwendung von Bestimmungen des ATSG bezüglich der vorsorglichen Massnahmen
(Entzug resp. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung) auch die Verletzung
von Art. 9 BV (Willkürverbot) sowie die Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV
(Anspruch auf den verfassungsmässigen Richter). In diesen Punkten ist demnach
auf die Beschwerde einzutreten.

4.1. Soweit die IV-Stelle eine Verletzung des Art. 30 Abs. 1 BV geltend macht,
ist ihr Einwand unbehelflich, da der Entscheid vom 3. Dezember 2012 mangels
endgültiger Anordnungen (vgl. E. 2.1) keinen Endentscheid darstellt und damit
in Übereinstimmung mit § 8a Abs. 3 lit. d der Geschäftsordnung für das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern vom 16. Mai 1973 (in Kraft gewesen bis
31. Mai 2013; SRL 43) von einem Einzelrichter gefällt werden durfte.

4.2. Ebenso wenig verletzt der Entscheid vom 3. Dezember 2012 das Willkürverbot
von Art. 9 BV. Denn die Vorinstanz hat ihre Einschätzung, wonach der IV-Stelle
eine rechtsmissbräuchliche Erwirkung eines möglichst frühen
Revisionszeitpunktes vorzuwerfen sei, in ihrer E. 5 einlässlich und mit
sachlichen Argumenten begründet. Im Rahmen der in diesem Verfahren zulässigen
Kognition besteht unter den gegebenen Umständen kein Anlass, diese Beurteilung
zu beanstanden. Da die Schlussfolgerung der Vorinstanz (Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung und damit vorläufige Auszahlung des bisherigen
Rentenanspruchs während des Abklärungsverfahrens) weder in der Begründung noch
im Ergebnis unhaltbar ist, ist die Beschwerde der IV-Stelle abzuweisen, soweit
darauf einzutreten ist.

5.
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der
Beschwerde gegenstandslos.

6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die unterliegende IV-Stelle hat die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Versicherte hat Anspruch auf
eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt
für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. Juli 2013

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Die Gerichtsschreiberin: Riedi Hunold

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