Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.229/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_229/2013

Urteil vom 25. Juli 2013

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Solothurn,
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdeführerin,

gegen

K.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Ariane Bessire,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 19. März 2012.

Sachverhalt:

A.

A.a. Der 1953 geborene K.________ meldete sich am 9. Januar 2008 bei der
IV-Stelle des Kantons Solothurn zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 10.
Februar 2009 verneinte diese einen Leistungsanspruch. Auf die dagegen erhobene
Beschwerde trat das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid
vom 23. März 2009 nicht ein.

A.b. Am 20. Mai 2010 meldete sich der Versicherte bei der IV-Stelle erneut zum
Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 10. März 2011 verneinte sie den Anspruch
auf berufliche Eingliederungsmassnahmen und auf eine Invalidenrente. Die
dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn in dem Sinne gut, dass es die Verfügung aufhob und die Sache an die
IV-Stelle zurückwies, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre und hierauf
neu entscheide (Dispositiv-Ziffer 1); es verpflichtete die IV-Stelle, dem
Versicherten eine Parteientschädigung von Fr. 2'171.10 (inkl. Auslagen und
Mehrwertsteuer; Dispositiv-Ziffer 2) und an die gesamten Verfahrenskosten einen
Betrag von Fr. 600.- zu bezahlen (Dispositiv-Ziffer 3; Entscheid vom 19. März
2012).

B.
In Nachachtung des kantonalen Rückweisungsentscheids vom 19. März 2012 führte
die IV-Stelle ergänzende medizinische Abklärungen durch und verneinte mit
unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 17. Januar 2013 den
Anspruch des Versicherten auf berufliche Eingliederungsmassnahmen und auf eine
Invalidenrente.

C.
Mit Beschwerde vom 21. März 2013 beantragt die IV-Stelle, Dispositiv-Ziffern 2
und 3 des kantonalen Entscheides vom 19. März 2012 seien aufzuheben; sie sei
von jeglicher Kostentragungspflicht, insbesondere von der Pflicht zur Bezahlung
einer Parteientschädigung sowie von Verfahrenskosten zu befreien; eventuell sei
sie zu einer teilweisen Kostenübernahme nach richterlichem Ermessen zu
verpflichten; die Kosten für das Verfahren vor dem kantonalen Gericht seien dem
Versicherten und/oder seinem Rechtsvertreter zu überbinden.

Der Versicherte schliesst auf Abweisung der Beschwerde; eventuell sei das
amtliche Honorar seines Rechtsvertreters für das Vorverfahren im Rahmen der
unentgeltlichen Rechtspflege festzusetzen; subeventuell sei die Sache an die
Vorinstanz zur Festlegung des amtlichen Honorars im Rahmen der unentgeltlichen
Rechtspflege zurückzuweisen; ferner verlangt er die unentgeltliche Rechtspflege
für das bundesgerichtliche Verfahren.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt Gutheissung der
Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Die auf die unangefochten in Rechtskraft erwachsene Verfügung vom 17. Januar
2013 hin erhobene Beschwerde richtet sich gegen die Kosten- und
Entschädigungsfolgen gemäss dem vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid vom 19.
März 2012. Eine diesbezügliche direkte Anfechtung innert damaliger
Rechtsmittelfrist war der Beschwerdeführerin prozessual verwehrt. Die
Anfechtung der Kosten- und Entschädigungsregelung ist grundsätzlich erst mit
Beschwerde gegen den Endentscheid möglich. Entscheidet die Instanz, an welche
die Sache zurückgewiesen wurde, in der Hauptsache voll zugunsten der Beschwerde
führenden Person, so steht dieser innerhalb der Frist gemäss Art. 100 BGG ab
Rechtskraft des Endentscheids der direkte Weg ans Bundesgericht offen (BGE 137
V 57 E. 1.1 S. 59, 133 V 645 E. 2.1 f. S. 647 f.). Mit Verfügung der IV-Stelle
vom 17. Januar 2013 erging der materielle Endentscheid in dieser Sache, wobei
der Leistungsanspruch des Versicherten vollumfänglich abgewiesen wurde. Die am
21. März 2013 direkt beim Bundesgericht eingereichte Beschwerde gegen die
Kosten- und Entschädigungsregelung (Dispositiv-Ziffern 2 und 3) im kantonalen
Rückweisungsentscheid vom 19. März 2012 erfolgte unbestrittenermassen innert
der 30-tägigen Beschwerdefrist (Art. 100 Abs. 1 BGG) ab Eintritt der
Rechtskraft der Verfügung vom 17. Januar 2013.

2.
Auch der Beschwerdegegner konnte den vorinstanzlichen Entscheid vom 19. März
2012 mangels eines für ihn nicht wieder gutzumachenden Nachteils nicht
anfechten. Die Frage der Kosten- und Entschädigungsregelung wird vom
Bundesgericht endgültig beurteilt, weshalb dem Beschwerdegegner die Möglichkeit
eingeräumt werden muss, hierzu Stellung zu nehmen. Auf seine diesbezüglichen
Vorbringen ist daher vollumfänglich einzutreten (vgl. E. 5.2 hienach; BGE 138 V
106 E. 2 S. 110; Urteil 8C_15/2013 vom 24. Mai 2013 E. 1).

3.
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG geltend
gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Trotzdem prüft es - vorbehältlich offensichtlicher Fehler - nur
die in seinem Verfahren geltend gemachten Rechtswidrigkeiten (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen,
wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne
von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art.
105 Abs. 2 BGG).

4.

4.1. Das Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht muss einfach, rasch,
in der Regel öffentlich und für die Parteien kostenlos sein; einer Partei, die
sich mutwillig oder leichtsinnig verhält, können jedoch eine Spruchgebühr und
die Verfahrenskosten auferlegt werden (Art. 61 lit. a ATSG). Abweichend von
Art. 61 lit. a ATSG ist das Beschwerdeverfahren bei Streitigkeiten um die
Bewilligung oder die Verweigerung von IV-Leistungen vor dem kantonalen
Versicherungsgericht kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem
Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von 200-1000 Franken
festgelegt (Art. 69 Abs. 1bis IVG). Bei einer Rückweisung zu ergänzenden
Abklärungen, die von Bundesrechts wegen als vollständiges Obsiegen gilt, bleibt
auch unter der Geltung von Art. 69 Abs. 1bis IVG kein Raum für eine kantonale
Regelung zur teilweisen Kostenauferlegung an die obsiegende Partei (BGE 137 V
57).
Die Begriffe der Mutwilligkeit und des Leichtsinns gehören dem Bundesrecht an.
Ihre Tatbestände können als erfüllt betrachtet werden, wenn eine Partei
Tatsachen wider besseres Wissen als wahr behauptet oder ihre Stellungnahme auf
einen Sachverhalt abstützt, von dem sie bei der ihr zumutbaren Sorgfalt wissen
müsste, dass er unrichtig ist. Mutwillig ist ferner das Festhalten an einer
offensichtlich gesetzwidrigen Auffassung. Leichtsinnige oder mutwillige
Prozessführung liegt aber so lange nicht vor, als es der Partei darum geht,
einen bestimmten, nicht als willkürlich erscheinenden Standpunkt durch das
Gericht beurteilen zu lassen. Dies gilt auch dann, wenn das Gericht die Partei
im Laufe des Verfahrens von der Unrichtigkeit ihres Standpunktes überzeugen und
zu einem entsprechenden Verhalten (Beschwerde- oder Klagerückzug) veranlassen
will. Die Erhebung einer aussichtslosen Beschwerde darf einer leichtsinnigen
oder mutwilligen Beschwerdeführung nicht gleichgesetzt werden. Das Merkmal der
Aussichtslosigkeit für sich allein lässt einen Prozess noch nicht als
leichtsinnig oder mutwillig erscheinen. Vielmehr bedarf es zusätzlich des
subjektiven - tadelnswerten - Elements, dass die Partei die Aussichtslosigkeit
bei der ihr zumutbaren vernunftgemässen Überlegung ohne weiteres erkennen
konnte, den Prozess aber trotzdem führt. Mutwillige Prozessführung kann ferner
darin begründet liegen, dass eine Partei eine ihr in dieser Eigenschaft
obliegende Pflicht (Mitwirkungs- oder Unterlassungspflicht) verletzt (BGE 128 V
323 E. 1b S. 324; Urteil 8C_903/2008 vom 27. März 2009 E. 4.1, zusammengefasst
in Anwaltsrevue 6-7/2009 S. 333).

4.2. Nach Art. 61 lit. g ATSG hat im kantonalen Verfahren die obsiegende
Beschwerde führende Person Anspruch auf Ersatz der Parteikosten. Diese werden
vom Versicherungsgericht festgesetzt und ohne Rücksicht auf den Streitwert nach
der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses bemessen
(Art. 61 lit. g ATSG). Unnötige Kosten indessen hat gemäss dem
Verursacherprinzip zu bezahlen, wer sie verursacht hat (vgl. auch Art. 66 Abs.
3 und Art. 68 Abs. 4 BGG). Dementsprechend kann keine Parteientschädigung
beanspruchen, wer zwar im Prozess obsiegt, sich aber den Vorwurf gefallen
lassen muss, er habe es wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht selber zu
verantworten, dass ein unnötiger Prozess geführt worden sei (Urteil 9C_148/2011
vom 29. April 2011 E. 2).

5.

5.1.

5.1.1. Im angefochtenen Rückweisungsentscheid vom 19. März 2012 erwog die
Vorinstanz, die vom Versicherten bei ihr am 29. Juni 2011 eingereichten
Berichte der Dres. med. R.________, FMH Radiologie, vom 13. Januar 2011 und
M.________, Leitender Arzt Orthopädische Klinik, Spital X.________, vom 24.
Februar 2011 seien, obwohl beide vor Erlass der Verfügung der IV-Stelle vom 10.
März 2011 erstellt, nicht in die Entscheidfindung der Letzteren einbezogen
worden. Diese neu eingereichten Berichte enthielten gewisse Anhaltspunkte, die
auf eine Veränderung des Gesundheitszustandes hinweisen könnten. Es seien daher
ergänzende Abklärungen erforderlich.

5.1.2. Die IV-Stelle macht geltend, mit Erlass ihres Vorbescheids vom 10.
Januar 2011 habe der Beschwerdeführer um die in Aussicht gestellte Abweisung
seines Leistungsbegehrens gewusst und sei deshalb gehalten gewesen, alle seinen
Standpunkt belegenden Beweismittel offenzulegen. Es sei nicht nachvollziehbar,
dass der bereits damals anwaltlich vertretene Versicherte die Berichte der
Dres. med. R.________ vom 13. Januar 2011 und M.________ vom 24. Februar 2011
nicht im Verwaltungsverfahren, das erst mit Verfügung vom 10. März 2011
abgeschlossen worden sei, eingereicht habe. Damit habe er die
Mitwirkungspflicht verletzt und das kantonale Gerichtsverfahren verursacht,
weshalb eine mutwillige Prozessführung vorgelegen habe. Somit habe die
Vorinstanz Bundesrecht verletzt, wenn sie die IV-Stelle im
Rückweisungsentscheid vom 19. März 2012 verpflichtet habe, die Gerichtskosten
zu tragen und dem Versicherten eine Parteientschädigung zu bezahlen.

5.2. Der Versicherte bringt vor, weder ihm noch seinem damaligen Anwalt könne
der Vorwurf der Verletzung der Mitwirkungspflicht gemacht werden. Denn er habe
die Berichte der Dres. med. R.________ vom 13. Januar 2011 und M.________ vom
24. Februar 2011 erst am 29. Juni 2011 - nach Erhebung der vorinstanzlichen
Beschwerde vom 28. März 2011 - eingereicht, weil sie erst am 8. April 2011
vorgelegen hätten. Letzteres wird weder von der IV-Stelle, der die
Beschwerdeantwort des Versicherten zur Kenntnis zugestellt wurde (hierzu vgl.
BGE 138 III 252 E. 2.2 S. 255, 133 I 98 E. 2.2 S. 99), noch vom BSV in der
Vernehmlassung vom 11. Juni 2013 bestritten, weshalb darauf abzustellen ist.
Unter diesen Umständen kann dem Versicherten eine Verletzung der
Mitwirkungspflicht nicht vorgeworfen werden. Auch anderweitig kann von
mutwilliger oder leichtsinniger Prozessführung des Versicherten nicht die Rede
sein, wenn die Vorinstanz die Sache in Gutheissung der Beschwerde zu weiteren
Abklärungen an die IV-Stelle zurückwies.

6.
Die unterliegende IV-Stelle trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68
Abs. 2 BGG). Das Gesuch des Versicherten um unentgeltliche Rechtspflege ist
damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 600.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdegegners für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. Juli 2013
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Leuzinger

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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