Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.730/2013
Zurück zum Index Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2013
Retour à l'indice Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2013


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_730/2013

Urteil vom 10. Dezember 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Denys, Oberholzer,
Gerichtsschreiber Moses.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Aschwanden,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Franziskanerhof, Barfüssergasse 28,
4502 Solothurn,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Nichteintreten auf eine Berufung wegen Verspätung (Fristablauf am
Pfingstmontag)

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn,
Strafkammer, vom 1. Juli 2013.

Sachverhalt:

A.

 Der Amtsgerichtspräsident von Bucheggberg-Wasseramt verurteilte X.________ am
7. Februar 2013 zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu Fr. 70.-
wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Gegen dieses
Urteil meldete X.________ am 19. Februar 2013 fristgerecht die Berufung an. Das
begründete Urteil wurde ihm am 29. April 2013 zugestellt. X.________ übergab
die schriftliche Berufungserklärung der Post am 21. Mai 2013. Das Obergericht
des Kantons Solothurn trat auf das Rechtsmittel am 1. Juli 2013 nicht ein. Es
erachtete die Berufungserklärung vom 21. Mai 2013 als verspätet.

B.

 Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, den Beschluss vom 1. Juli
2013 aufzuheben und die Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn
anzuweisen, auf die Berufung einzutreten.

C.

 Das Obergericht des Kantons Solothurn beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung. X.________ wurde das
Replikrecht gewährt.

Erwägungen:

1.

 Die Berufung ist gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO innert 20 Tagen seit der
Zustellung des begründeten Urteils schriftlich zu erklären. Fällt der letzte
Tag der Frist auf einen Samstag, einen Sonntag oder einen vom Bundesrecht oder
vom kantonalen Recht anerkannten Feiertag, so endet sie am nächstfolgenden
Werktag. Massgebend ist das Recht des Kantons, in dem die Partei oder ihr
Rechtsbeistand den Wohnsitz oder den Sitz hat (Art. 90 Abs. 2 StPO).

1.1. Das erstinstanzliche Urteil wurde dem Beschwerdeführer am 29. April 2013
zugestellt. Der Beschwerdeführer reichte die Berufungserklärung am Dienstag
nach Pfingstmontag, den 21. Mai 2013 ein. Die Vorinstanz erwägt, dass die
Berufungsfrist am Pfingstsonntag, den 19. Mai 2013 abgelaufen sei und die
Berufungserklärung somit spätestens am darauffolgenden Pfingstmontag, welcher
im Kanton Solothurn nicht zu den Feiertagen zählt, hätte eingereicht werden
müssen. Obwohl am Pfingstmontag die kantonale Verwaltung und die Schalter der
Post im Kanton Solothurn geschlossen waren, hätte der Beschwerdeführer die
Berufung rechtzeitig einreichen können. So hätte er diese an der Schanzenpost
in Bern oder an der Hauptpost in Aarau fristgerecht aufgeben oder im Beisein
von Zeugen in einen beliebigen Briefkasten der Post werfen können. Das
Obergericht erachtete das Rechtsmittel daher als verspätet und trat darauf
nicht ein. Der Beschwerdeführer rügt, dass der Pfingstmontag ein vom kantonalen
Recht anerkannter Feiertag sei, womit der erste Werktag nach Pfingstsonntag der
darauffolgende Dienstag sei. Ausserdem übersehe die Vorinstanz, dass der
Pfingstmontag auch im Nachbarkanton Bern als Feiertag behandelt wird und die
Beschaffung von (unabhängigen) Zeugen am Pfingstwochenende die Wahrnehmung
prozessualer Rechte erheblich erschweren würde.

1.2. Nach § 4 des solothurnischen Gesetzes vom 24. Mai 1964 über die
öffentlichen Ruhetage (BGS 512.41) können die Einwohnergemeinden den
Pfingstmontag als lokalen Ruhetag bezeichnen. Ein Rechtsakt, welcher den
Pfingstmontag in der Wohnsitzgemeinde des Beschwerdeführers als lokalen Ruhetag
bezeichnet, besteht nicht, und das kantonale Einführungsgesetz zur
Schweizerischen Strafprozessordnung und zur Schweizerischen
Jugendstrafprozessordnung vom 10. März 2010 (EG StPO, BSG 321.3) enthält keine
Fristbestimmungen. Daraus ergibt sich, dass das kantonale Recht den
Pfingstmontag am Wohnsitz des Beschwerdeführers nicht ausdrücklich als Feiertag
anerkennt.

1.3.

1.3.1. Art. 29 Abs. 1 BV verbietet überspitzten Formalismus als besondere Form
der Rechtsverweigerung. Ein solcher liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose
Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich
gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener
Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und
den Bürgern und Bürgerinnen den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl
sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und
rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen
Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit
Art. 29 Abs. 1 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben,
wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen
Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die
Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder
verhindert (BGE 135 I 6 E. 2.1; 130 V 177 E. 5.4.1, je mit Hinweisen).

1.3.2. Das Bundesgericht verneinte verschiedentlich überspitzten Formalismus,
wenn die kantonale Behörde Fristablauf an einem Tag annahm, den das kantonale
Recht nicht als Feiertag anerkannte. Dies auch, wenn am betreffenden Tag
Verwaltung und Geschäfte geschlossen waren und niemand arbeitete (Urteile
1P.322/2006 vom 25. Juli 2006 und 1P.184/2001 vom 18. Juni 2001 [Stephanstag im
Kanton Solothurn]; Urteil 1P.469/1999 vom 14. Oktober 1999 [Pfingstmontag im
Kanton Zug]; Urteil 1P.481/1994 vom 26. Oktober 1994 [Pfingstmontag im Kanton
Wallis]; Urteil 1P.440/1992 vom 7. September 1992 [Ostermontag im Kanton Zug]).
In einem Genfer Entscheid erachtete das kantonale Gericht eine erst nach Ablauf
der Appellationsfrist am Berchtoldstag (2. Januar) eingereichte
Appellationserklärung als verspätet. Das Bundesgericht wies eine dagegen
gerichtete Beschwerde ab. Obwohl die Büros der kantonalen Verwaltung an jenem
Tag geschlossen waren, erwog es, dass die Poststelle von Montbrillant von 12
bis 20 Uhr geöffnet war. Diese befinde sich in angemessener Entfernung der
Kanzlei des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers. Die Appellationserklärung
hätte somit fristgerecht erfolgen können (Urteil 1P.259/1996 vom 8. Juli 1996
E. 3c, in: Pra 1996 Nr. 217). In einem anderen Fall bestätigte das
Bundesgericht ein Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, wonach ein in der
Stadt Zürich wohnhafter Beschwerdeführer am Berchtoldstag - unabhängig davon,
ob dieser dort als Feiertag gilt - die Möglichkeit gehabt hätte, seine Eingabe
rechtzeitig an der Zürcher Sihlpost aufzugeben. Diese sei am Berchtoldstag von
10 bis 22.30 Uhr geöffnet gewesen und 2,5 bis 3 Kilometer vom Wohnort des
Beschwerdeführers entfernt (Urteil 1P.456/2006 vom 24. Oktober 2006 E. 2.3).
Die Frage, ob eine Eingabe an einem nicht offiziell anerkannten Feiertag der
Post oder direkt dem zuständigen Gericht gegen Empfangsbestätigung faktisch
überreicht werden konnte, blieb in der erwähnten Rechtsprechung zum Teil
unbeantwortet (Urteile 1P.184/2001 E. 2c/bb; 1P.481/1994 E. 2b; 1P.440/1992 E.
2b). Überspitzter Formalismus wurde mit dem Argument verneint, dass der
jeweilige Tag im entsprechenden Kanton nicht gesetzlich als Feiertag anerkannt
ist. Zusätzlich wurde berücksichtigt, dass für den Beschwerdeführer die
Möglichkeit bestand, seine Eingabe bei einer offenen und in angemessener
Entfernung sich befindlichen Poststelle aufzugeben. Diese Rechtsprechung ist zu
präzisieren. Art. 29 Abs. 1 BV verbietet die strikte Anwendung von
Formvorschriften, welche die Verwirklichung des materiellen Rechts in
unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (siehe oben, E. 1.3). Dies ist der
Fall, wenn die Behörde Fristablauf an einem Tag annimmt, an welchem für die
Partei oder für ihren Vertreter keine Möglichkeit bestand, die Eingabe der
Behörde selbst oder zu ihren Händen einer offenen und in vernünftiger Distanz
sich befindlichen Poststelle oder Postagentur gegen Empfangsbestätigung zu
übergeben. Die Möglichkeit, die Eingabe in einen beliebigen Postbriefkasten im
Beisein von Zeugen einzuwerfen, genügt nicht. Einerseits kann sich die
Beschaffung von Zeugen als schwierig erweisen, andererseits unterliegen diese
nicht dem Post- oder Amtsgeheimnis, womit der Betroffene seines Anspruchs auf
Geheimhaltung verlustig ginge. Schliesslich wird die Aussage der Zeugen einer
Beweiswürdigung unterzogen, deren Ausgang für den Betroffenen nicht
voraussehbar ist.

1.3.3. Die Vorinstanz erwägt, dass der Beschwerdeführer sich der Schanzenpost
in Bern oder der Hauptpost in Aarau hätte bedienen können, um die Berufung
rechtzeitig einzureichen. Diese Poststellen befinden sich ausserhalb des
Kantons Solothurn und sind 38 bzw. 56 Kilometer vom Wohnort des
Beschwerdeführers entfernt. Diese Distanz kann nicht als angemessen angesehen
werden. Die Gelegenheit, die Berufung am Pfingstmontag direkt beim Obergericht
einzureichen, wurde im angefochtenen Beschluss nicht erwähnt. Dem
Beschwerdeführer war es somit nicht möglich, seine Berufung rechtzeitig und in
angemessener Distanz von seinem Wohnort nachweislich einzureichen. Der
angefochtene Beschluss erweist sich somit als überspitzt formalistisch. Er ist
aufzuheben und die Sache ist zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

2.

 Die Beschwerde ist gutzuheissen. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine
Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Solothurn hat dem
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Mit dem Entscheid in der
Sache ist das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos geworden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der angefochtene Beschluss des Obergerichts
des Kantons Solothurn vom 1. Juli 2013 wird aufgehoben und die Sache zur neuen
Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Der Kanton Solothurn hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Solothurn,
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Dezember 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Moses

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben