Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.655/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_655/2013

Urteil vom 10. September 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Amt für Freiheitsentzug und Betreuung des Kantons Bern, Abteilung Straf- und
Massnahmenvollzug, Schermenweg 5, Postfach 5059, 3001 Bern,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Hafturlaub,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern,
Strafabteilung, 1. Strafkammer, vom 31. Mai 2013.

Sachverhalt:

A. 
Das Kreisgericht II Biel-Nidau verurteilte X.________ am 29. Januar 1999 wegen
mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern, mehrfacher Schändung, mehrfacher
sexueller Nötigung, mehrfacher Pornographie sowie Verletzung der Fürsorge- und
Unterhaltspflichten zu einer Zuchthausstrafe von 9 Jahren. Es schob den Vollzug
der Strafe zugunsten einer Verwahrung auf und beschloss am 10. Dezember 2007,
diese nach neuem Recht weiterzuführen. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel an
das Obergericht des Kantons Bern und das Bundesgericht blieben ohne Erfolg
(vgl. Urteil 6B_879/2008 vom 9. April 2009).
Das Strafgericht des Kantons Zug verurteilte X.________ am 11. April 2005 wegen
Pornographie zu einer Freiheitsstrafe von 30 Tagen.

B. 
Nach Aufenthalten in den Anstalten Thorberg und Bostadel befindet sich
X.________ seit dem Jahr 2002 in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Während
des Vollzugs wurden ihm zwischen 2005 und Mitte 2011 insgesamt 17 begleitete
Ausgänge von sechs bis neun Stunden bewilligt. Begleitet wurde er zunächst von
einer, in der Folge von zwei Personen, eine davon aus dem Sicherheitsdienst des
Personals der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Sämtliche Ausgänge verliefen
klaglos.
Am 6. Februar 2012 stellte X.________ ein Urlaubs- bzw. Ausgangsgesuch für den
12. April 2012. Die Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug (ASMV) wies das
Gesuch mit Verfügung vom 23. März 2012 ab. Die dagegen gerichtete Beschwerde
des Eingewiesenen wies die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern (POM)
am 12. Februar 2013 ab, soweit sie darauf eintrat. Das Obergericht des Kantons
Bern wies die Beschwerde von X.________ am 31. Mai 2013 insbesondere mit dem
Hinweis auf Fluchtgefahr ab.

C. 
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________ sinngemäss die Aufhebung des
obergerichtlichen Entscheids. Er bestreitet eine Rückfall- und eine
Fluchtgefahr und weist auf den positiven Verlauf der ihm bisher gewährten
Urlaube hin. Die Verweigerung des begleiteten Ausgangs stelle eine
unverhältnismässige, widerrechtliche und menschenrechtsverletzende Verschärfung
seiner Haftbedingungen dar auf der Grundlage von Straftaten, die andere
begangen hätten.
Erwägungen:

1. 
Der Entscheid über die Nichtgewährung von Hafturlaub bzw. von Ausgängen
betrifft eine Strafsache gemäss Art. 78 Abs. 2 lit. b BGG. Die Beschwerde in
Strafsachen ist zulässig. Der Beschwerdeführer ist zur Beschwerde legitimiert.
Er ist durch den vorinstanzlichen Entscheid in seinen rechtlich geschützten
Interessen betroffen (Art. 81 Abs. 1 BGG). Das aktuelle Rechtsschutzinteresse
ist zu bejahen (vgl. Urteil 1P.708/2005 vom 30. November 2005 E. 1; s.a. Urteil
6B_577/2011 vom 12. Januar 2012 E. 1). Auf die Beschwerde ist grundsätzlich
einzutreten.
Nicht einzutreten ist darauf, soweit der Beschwerdeführer die Rechtmässigkeit
der Verwahrung, insbesondere deren Weiterführung, in Frage stellt (Beschwerde,
S. 5, 6, 11, 13). Ebenfalls nicht einzutreten ist auf sein Vorbringen, im Jahr
2005 zu Unrecht wegen Pornographie verurteilt worden zu sein (Beschwerde, S. 7,
10, 12). Diese Fragen gehören nicht zum Streitgegenstand.

2. 
Art. 84 Abs. 6 StGB enthält eine Rahmenvorschrift zum Hafturlaub. Danach ist
dem Gefangenen zur Pflege der Beziehungen zur Aussenwelt, zur Vorbereitung
seiner Entlassung oder aus besonderen Gründen in angemessenem Umfang Urlaub zu
gewähren, soweit sein Verhalten im Vollzug dem nicht entgegensteht und keine
Gefahr besteht, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht. Art. 84 Abs. 6
StGB gilt für die Beziehungen des Eingewiesenen im Massnahmenvollzug zur
Aussenwelt sinngemäss, sofern nicht Gründe der stationären Behandlung
weitergehende Einschränkungen gebieten (Art. 90 Abs. 4 StGB). Die Einzelheiten
der Urlaubs- bzw. Ausgangsgewährung richten sich nach kantonalem Recht.
Gemäss Art. 54 des Gesetzes über den Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons
Bern vom 25. Juni 2003 (SMVG; 341.1) kann Eingewiesenen begleiteter oder
unbegleiteter Ausgang oder Urlaub gewährt werden. Nach den Richtlinien für die
Urlaubsgewährung 09.3 des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und
Innerschweiz vom 2. November 2007 können der eingewiesenen Person Ausgang und
Urlaub gewährt werden, wenn keine Gefahr besteht, dass sie flieht oder weitere
Straftaten begeht, sie den Vollzugsplan einhält und bei den
Eingliederungsmassnahmen aktiv mitwirkt, ihre Einstellung und Haltung im
Vollzug sowie ihre Arbeitsleistung zu keinen Beanstandungen Anlass gibt, Grund
zur Annahme besteht, dass sie rechtzeitig und geordnet in die Institution
zurückkehrt, sie sich an die ihr auferlegten Weisungen hält und sie das in sie
gesetzte Vertrauen während des Urlaubs nicht missbraucht.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darf Fluchtgefahr nicht bereits
angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht.
Es braucht vielmehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der Inhaftierte, wenn
er in Freiheit wäre, sich dem Vollzug der Strafe durch Flucht entzöge. Es
müssen konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Hierfür sind die gesamten Verhältnisse des Eingewiesenen in
Betracht zu ziehen (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 123 I 31 E. 3d S. 36; Urteil
1B_378/2009 vom 13. Januar 2010 E. 4.1; Urteil 1P.470/2004 vom 15. Oktober 2004
E. 4; vgl. auch Urteil 6B_742/2010 vom 30. September 2010 E. 2.1).

3.

3.1. Die Vorinstanz verneint die gesetzlichen Voraussetzungen für begleitete
Ausgänge im Sinne von Art. 84 Abs. 6 i.V.m Art. 90 Abs. 4 StGB. Sie geht von
einer gegenwärtig akzentuierten Fluchtgefahr des Beschwerdeführers aus
(Entscheid, S. 11 f. unter Hinweis auf die Ausführungen im Entscheid der POM,
S. 8 ff.). Sie verkennt nicht, dass die bisherigen begleiteten Ausgänge
problemlos verliefen und sich eine Fluchtgefahr bislang nicht manifestierte.
Sie weist allerdings darauf hin, dass zwischenzeitlich eine bedenkliche
Entwicklung des Beschwerdeführers eingesetzt hat und damit von einer
veränderten Sachlage auszugehen ist. Eine deliktorientierte Therapie finde
nicht mehr statt. Der Beschwerdeführer erachte sich selbst als erfolgreich
therapiert. Er sei deshalb der Auffassung, zu Unrecht in der Verwahrung zu sein
und seine Schuld verbüsst zu haben, wobei er eine zunehmende Verbitterung und
ein Ohnmachtsgefühl verspüre sowie eine Wut auf die Behörden, die seine
Einschätzung nicht teilten (vgl. Entscheid, S. 10, 11 unter Hinweis auf die
Ausführungen des Entscheids der POM, S. 8 ff.).

3.2. Die Vorinstanz schliesst ohne Willkür auf eine derweil eingetretene heikle
Entwicklung des Beschwerdeführers und damit auf eine veränderte Ausgangslage im
Hinblick auf die Beurteilung der Fluchtgefahr. Ihre diesbezüglichen
Feststellungen, wonach sich der Beschwerdeführer als "austherapiert" und
"geheilt" betrachtet, er eine deliktorientierte Therapie nicht mehr für nötig
hält, sich als zu Unrecht verwahrt beurteilt und er seiner Situation deshalb
mit zunehmender Verbitterung und erhöhter Frustration gegenübersteht, lassen
sich ohne weiteres auf die Akten stützen (vgl. Therapieverlaufsberichte vom 4.
Juli 2011 und 23. August 2012, act. 1110 sowie 1172; Kurzprotokoll zur Anhörung
des Beschwerdeführers durch die konkordatliche Fachkommission zur Beurteilung
der Gemeingefährlichkeit von Straftätern am 13. März 2013 [Kofako], act. 1256
f.). Sie ergeben sich auch aus der dem Bundesgericht eingereichten
Beschwerdeeingabe, worin sich der Beschwerdeführer als "politischen Gefangenen"
bezeichnet und davon spricht, in Strafgefangenschaft leben zu müssen, obschon
er die Strafe längst verbüsst habe (Beschwerde, 3, 7, 11 ff.).

3.3. Die Vorinstanz zieht für die Beurteilung der Fluchtgefahr nur zulässige
Elemente heran. Sie prüft die Umstände umfassend. Aufgrund der veränderten
Sachlage, insbesondere des Abbruchs der deliktorientierten Therapie und des
wachsenden Unmuts über die als Unrecht erachtete Verwahrung, schliesst sie
unter Berücksichtigung der nicht abschätzbaren Fortdauer der Massnahme ohne
Rechtsverletzung auf eine gegenwärtig akzentuierte Fluchtgefahr des
Beschwerdeführers. Dass sie den vergangenen 17 problemlos verlaufenen
begleiteten Ausgängen keine (positive) Aussagekraft in Bezug auf die
Beurteilung der Fluchtgefahr beimisst, ist entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers (Beschwerde, S. 3, 5, 11) nicht zu beanstanden. Die heutige
Situation ist mit den damals massgeblichen Verhältnissen im Zeitpunkt der
jeweiligen Urlaubsgewährungen, auch der letzten beiden, nicht vergleichbar,
zumal davon auszugehen ist, dass die Verbitterung und Frustration des
Beschwerdeführers mit der Fortdauer der Verwahrung zunehmend grösser wird. Dass
der Beschwerdeführer für das Fehlverhalten anderer Mitinsassen büssen muss
(Beschwerde, S. 11, 14), trifft nicht zu. Wohl gab die
Vollzugsunregelmässigkeit eines Mitinsassen im Sommer 2011 Anlass zu einer
(allgemeinen) Überprüfung der Vollzugslockerungen. Modalitäten des Vollzugs
unterliegen indes der kontinuierlichen Anpassung an die Vollzugsrealitäten, so
dass mit entsprechenden Abänderungen gerechnet werden muss (vgl. Urteil 6B_368/
2008 vom 4. September 2008 E. 3.1). Dass das Gesuch des Beschwerdeführers um
begleiteten Ausgang abgelehnt wurde, gründet somit nicht auf einer
"Pauschalbestrafung" (so aber Beschwerde, S. 11, 14), sondern einzig auf der
individuellen (Neu-) Einschätzung seiner Fluchtgefahr unter Abwägung der sich
insofern widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen.

3.4. Aufgrund der willkürfrei bejahten Fluchtgefahr verneint die Vorinstanz die
gesetzlichen Voraussetzungen für die Bewilligung begleiteter Ausgänge ohne
Rechtsverletzung. Der angefochtene Entscheid steht im Einklang mit Bundesrecht.
Ob allenfalls eine zusätzliche Fesselung die gegenwärtig akzentuierte
Fluchtgefahr bei begleiteten Ausgängen bannen könnte, muss das Bundesgericht
nicht prüfen, da der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde klar zum Ausdruck
bringt, dass er eine Fesselung von vornherein für nicht zumutbar hält
(Beschwerde, S. 14).

3.5. Bei Bejahung der Fluchtgefahr erübrigen sich Ausführungen zur
Rückfallgefahr bzw. zum psychiatrischen Gutachten vom 7. November 2007 und zur
Person des Gutachters. Auf die entsprechende Kritik in der Beschwerde (S. 8
ff.) ist nicht einzugehen.

4. 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Ausnahmsweise kann auf eine Kostenauflage verzichtet werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern,
Strafabteilung, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. September 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill

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