Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.558/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_558/2013

Urteil vom 13. Dezember 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft, Hauptabteilung Sissach, Hauptstrasse 2,
4450 Sissach,
Beschwerdeführerin,

gegen

X.________,
vertreten durch Advokat Markus Trottmann,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Anrechnung der Untersuchungshaft, Haftentschädigung,

Beschwerde gegen den Beschluss des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung
Strafrecht, vom 15. April 2013.

Sachverhalt:

A.

 Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft führte gegen X._________ ein
Strafverfahren wegen Schändung und Vergewaltigung sowie Widerhandlungen gegen
das Ausländergesetz. Am 17. September 2012 stellte sie das Verfahren
hinsichtlich der Sexualdelikte ein, entliess den amtlich bestellten Verteidiger
und verweigerte X._________ Entschädigungs- und Genugtuungszahlungen.
Die wegen der Nebenfolgen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht
Basel-Landschaft teilweise gut. Es wies die Staatsanwaltschaft an, X._________
Frist zur Geltendmachung seiner Genugtuungs- und Entschädigungsansprüche zu
setzen.

B.

 Mit Strafbefehl vom 31. Januar 2013 wurde X._________ wegen mehrfacher,
teilweise versuchter Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz zu 60
Tagessätzen zu Fr. 30.-- sowie zu einer Busse von Fr. 500.-- unter Anrechnung
von 34 Tagen Untersuchungshaft verurteilt.

C.

 Am 27. Februar 2013 wies die Staatsanwaltschaft die wegen des Strafverfahrens
der Schändung und Vergewaltigung geltend gemachten Entschädigungs- und
Genugtuungsansprüche von X._________ unter Hinweis auf den rechtskräftigen
Strafbefehl ab.
Die hiergegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht teilweise gut. Es
sprach X._________ für die erstandene Untersuchungshaft eine Genugtuung von Fr.
2'700.-- zu und wies die Schadensersatzansprüche ab.

D.

 Die Staatsanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, Ziff. 1
des Beschlusses des Kantonsgerichts vom 15. April 2013 aufzuheben und ihre
Verfügung vom 27. Februar 2013 vollumfänglich zu bestätigen.

E.

 Das Kantonsgericht und X._________ beantragten die Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die zugesprochene Genugtuung für
die erstandene Untersuchungshaft von 34 Tagen. Die Haft sei dem
Beschwerdegegner bereits im Strafbefehl auf die Geldstrafe von 60 Tagessätzen
angerechnet worden. Die Vorinstanz verkenne, dass die Anrechnung der
Untersuchungshaft auf die Geldstrafe gemäss Art. 51 StGB zwingend sei, weshalb
für eine Genugtuung kein Platz sei.

1.2. Die Vorinstanz erwägt, dem Beschwerdegegner könne die Untersuchungshaft
nicht auf die Geldstrafe angerechnet werden. Eine Anrechnung auf Sanktionen
anderer Straftaten nach Art. 431 Abs. 2 StPO sei nur zulässig, wenn Natur und
Schwere der zur Verurteilung führenden Delikte ebenfalls die Anordnung von
Untersuchungshaft rechtfertigten. Andernfalls würde ein strafrechtlicher
Tatbestand gegen eine Genugtuung aufgerechnet, der nie Genugtuungsansprüche
hätte auslösen können. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da die Verstösse
gegen das Ausländergesetz keine Untersuchungshaft hätten rechtfertigen können
und eine solche offensichtlich unverhältnismässig und damit rechtswidrig im
Sinne von Art. 431 Abs. 1 StPO gewesen wäre.

1.3. Der Beschwerdegegner bringt in seiner Vernehmlassung vor, die Möglichkeit
der Anrechnung erlittenen Freiheitsentzuges auf eine Strafe ändere nichts an
der durch die Haft erlittenen schweren Verletzung der persönlichen
Verhältnisse. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten lasse sich allenfalls
rechtfertigen, Untersuchungshaft gegen Entschädigungs-, nicht aber gegen
Genugtuungsansprüche aufzurechnen. Die Argumentation der Beschwerdeführerin
hätte zur Folge, dass die zugesprochene Genugtuungssumme von Fr. 2'720.-- mit
der bedingten Geldstrafe von Fr. 1'020.-- "verrechnet" würde. Dies sei
offensichtlich rechtsstaatlich nicht haltbar.

1.4. Entscheide über Ansprüche auf Entschädigungen und schwere Verletzungen der
persönlichen Verhältnisse im Sinne von Art. 429 Abs. 1 StPO unterliegen der
Beschwerde in Strafsachen (BGE 139 IV 206 E. 1).

1.5. Gemäss Art. 51 StGB rechnet das Gericht die Untersuchungshaft, die der
Täter während dieses oder eines anderen Verfahrens ausgestanden hat, auf die
Strafe an, wobei ein Tag Haft einem Tagessatz Geldstrafe oder vier Stunden
gemeinnütziger Arbeit entspricht. Nach dem Wortlaut der Bestimmung ist für die
Anrechnung der Haft weder Tat- noch Verfahrensidentität erforderlich (vgl. auch
BGE 133 IV 150 E. 5.1 S. 154 ff.; Urteil 1B_179/2011 vom 17. Juni 2011 E. 4.2;
je mit Hinweisen). Die Untersuchungshaft ist sowohl auf unbedingte als auch auf
bedingte Geld- oder Freiheitsstrafen anzurechnen (vgl. BGE 135 IV 126 E. 1.3.8
S. 129 f.; Urteil 6B_75/2009 vom 2. Juni 2009 E. 4.3-4.4). Die
Entschädigungsfrage stellt sich grundsätzlich erst, wenn keine umfassende
Anrechnung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft an eine andere Sanktion im
Sinne von Art. 51 StGB mehr möglich ist. Der Grundsatz der Subsidiarität der
wirtschaftlichen Entschädigung ist vom Betroffenen hinzunehmen (vgl. Urteile
6B_169/2012 vom 25. Juni 2012 E. 6; 1B_179/2011 vom 17. Juni 2011 E. 4.2 mit
Hinweisen).

1.6. Die Beschwerde erweist sich als begründet. Die Vorbringen der Vorinstanz
und des Beschwerdegegners widersprechen dem eindeutigen Wortlaut von Art. 51
StGB und der dazu ergangenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl.
vorstehend E. 1.5). Eine Haftanrechnung setzt lediglich voraus, dass eines von
mehreren Strafverfahren zu einer Verurteilung führt. Nicht erforderlich ist,
dass die der Verurteilung zugrunde liegende Straftat ebenfalls die Anordnung
von Untersuchungshaft hätte rechtfertigen können. Art. 51 StGB sieht als
Ausfluss des Grundsatzes der Subsidiarität der wirtschaftlichen Entschädigung
ebenfalls die vorbehaltlose Haftanrechnung auf (bedingte) Geldstrafen und
gemeinnützige Arbeit vor. Der Einwand, dass dadurch "ein strafrechtlicher
Tatbestand gegen eine Genugtuung aufgerechnet [werde], der nie
Genugtuungsansprüche hätte auslösen können" geht an der Sache vorbei. Art. 429
Abs. 1 lit. c StPO und Art. 431 StPO sehen - unter dem Vorbehalt, dass die Haft
nicht gemäss Art. 51 StGB angerechnet werden kann - Genugtuungen sowohl für 
rechtmässig als auch  rechtswidrig angeordnete Haft vor.
Der Einwand des Beschwerdegegners, die "Verrechnung" der zugesprochenen
Genugtuungssumme von Fr. 2'720.-- mit der bedingten Geldstrafe von Fr. 1'020.--
sei offensichtlich rechtsstaatlich nicht haltbar, geht fehl. Er verkennt, dass
gemäss Art. 51 Abs. 1 Satz 2 StGB im Falle der Haftanrechnung auf eine
Geldstrafe ausschliesslich die Anzahl und nicht die Höhe der Tagessätze bzw.
das Produkt aus beiden massgebend ist. Dies entspricht dem Grundsatz, dass die
Strafe nach dem Verschulden des Täters zu bemessen ist (Art. 47 Abs. 1 StG).
Dem kann bei Geldstrafen nur über die Anzahl der Tagessätze Genüge getan werden
(vgl. Art. 34 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 StGB), da ansonsten wirtschaftlich
besser gestellte Täter bei Geldstrafen bevorzugt, hingegen bei Haftanrechnungen
und Genugtuungen benachteiligt würden. Eine Haftentschädigung kommt demnach
erst in Betracht, wenn die Anzahl der Hafttage diejenige der Tagessätze
übersteigt. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der Beschluss der Vorinstanz vom 15. April
2013 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.
Der Beschwerdegegner unterliegt mit seinem Antrag auf Abweisung der Beschwerde,
weshalb er grundsätzlich kostenpflichtig wird (Art. 66 Abs. 1 BGG). Jedoch ist
sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im
bundesgerichtlichen Verfahren gutzuheissen, da er zur Wahrnehmung seines
Anspruchs auf rechtliches Gehörs eines Rechtsbeistands bedurfte und seine
Bedürftigkeit erstellt scheint. Sein Antrag auf Abweisung der Beschwerde kann
nicht als aussichtslos bezeichnet werden (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG).
Advokat Markus Trottman ist aus der Bundesgerichtskasse angemessen zu
entschädigen. Dem Kanton Basel-Landschaft ist keine Entschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Kantonsgerichts Basel vom
15. April 2013 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung des
Beschwerdegegners wird gutgeheissen. Für das bundesgerichtliche Verfahren wird
ihm Advokat Markus Trottmann, Basel, als unentgeltlicher Rechtsvertreter
beigegeben.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dem Vertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 13. Dezember 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held

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