Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.458/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_458/2013

Urteil vom 4. November 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Peter,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Verletzungen von Strassenverkehrsregeln, Verletzung des rechtlichen Gehörs,
falsche Anwendung von Art. 399 StPO,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Luzern, 4.
Abteilung, vom 4. April 2013.

Sachverhalt:

A.

 Das Bezirksgericht Willisau verurteilte X.________ am 28. Januar 2013 wegen
ungenügenden Rechtsfahrens zu einer Busse von Fr. 150.--. Das Dispositiv des
mündlich nicht eröffneten Urteils ging X.________ am 30. Januar 2013 zu. Mit
separaten Eingaben vom gleichen Tag verlangte er beim Bezirksgericht die
schriftliche Urteilsbegründung und reichte "Berufserklärung" ein. Die
schriftliche Urteilsbegründung wurde ihm am 11. Februar 2013 zugestellt.

B.

 Am 21. März 2013 verfasste die Verfahrensleitung des Obergerichts des Kantons
Luzern eine Aktennotiz bezüglich eines mit dem Verteidiger von X.________
geführten Telefongesprächs folgenden Inhalts:

"Der Beschuldigte meldete am 30.01.2013 nach Zustellung des Dispositivs dem
Bezirksgericht Willisau Berufung an. Gleichentags erklärte er mit separater
Eingabe dem Bezirksgericht Berufung ein mit den Anträgen, das Urteil sei
vollumfänglich aufzuheben und er sei vollumfänglich freizusprechen. Eine
Berufungserklärung nach Zustellung des begründeten Urteil ging beim Obergericht
nicht ein.
Die Unterzeichnende nahm am 13. 03.2013 mit dem Verteidiger telefonischen
Kontakt auf und machte ihn auf die Unstimmigkeit aufmerksam. Der Verteidiger
erklärte, dass er Auffassung sei, er habe Berufung erklärt habe, mithin das
Berufungsverfahren seinen Gang nehme. Er sei "etwas falsch gelaufen", und er
müsse die Sache nochmals klären. Er versprach noch telefonisch Bericht zu
geben, was bis heute unterblieb."
Am 4. April 2013 trat das Obergericht auf die Berufung nicht ein.

C.

 X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantrag, der Beschluss des
Obergerichts vom 4. April 2013 sei aufzuheben, die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen und diese anzuweisen, auf die Berufung vom 30. Januar 2013
einzutreten. X.________ ersucht um aufschiebende Wirkung der Beschwerde.

D.

 Die Oberstaatsanwaltschaft hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das
Kantonsgericht Luzern (vormals Obergericht des Kantons Luzern) beantragt die
Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt eine bundesrechtswidrige Anwendung von Art. 399
StPO. Vom Erfordernis der Zweistufigkeit des Berufungsverfahrens könne im Sinne
einer Ausnahme abgesehen werden, wenn für die anwaltlich vertretene Partei nach
Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens bereits klar sei, dass sie das
Urteil nicht akzeptieren werde und sie vor dem erstinstanzlichen Gericht neben
der Berufungsanmeldung zugleich die Berufungserklärung unter Nennung der Rügen
gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO vornehme. Damit bringe sie zum Ausdruck, dass sie
an der Berufung festhalte, und versetze die Berufungsinstanz in die Lage, das
Berufungsverfahren durchzuführen.

1.2. Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer sei der Pflicht der
zweimaligen Willenskundgebung im Berufungsverfahren nicht nachgekommen. Das
erstinstanzliche Gericht habe seine als "Berufungserklärung" titulierte Eingabe
zu recht als Berufungsanmeldung entgegengenommen. Der Beschwerdeführer habe
versäumt, seinen Willen, am Rechtsmittel festhalten zu wollen, nochmals vor dem
Berufungsgericht kundzutun. Dies hätte ihm aufgrund der klaren
Rechtsmittelbelehrungen im Urteilsdispositiv und im begründeten Urteil klar
sein müssen. Die Eingabe vor dem erstinstanzlichen Gericht entbinde ihn nicht,
auch vor der Berufungsinstanz aktiv zu werden.

1.3.

1.3.1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen, und es kann
eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden
Begründung abweisen (BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
Unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art.
42 Abs. 1 und 2 BGG) prüft es grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen,
sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II
249 E. 1.4.1 S. 254).

1.3.2. Die StPO sieht für die Einlegung der Berufung ein zweistufiges Verfahren
vor. Nach Art. 399 Abs. 1 StPO ist die Berufung dem erstinstanzlichen Gericht
innert 10 Tagen seit Eröffnung des Urteils schriftlich oder mündlich zu
Protokoll anzumelden. Nach Ausfertigung des begründeten Urteils übermittelt das
erstinstanzliche Gericht die Anmeldung zusammen mit den Akten dem
Berufungsgericht (Art. 399 Abs. 2 StPO). Die Partei, die Berufung angemeldet
hat, reicht dem Berufungsgericht gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO innert 20 Tagen
seit Zustellung des begründeten Urteils eine schriftliche Berufungserklärung
ein. Die am Prozess beteiligten Parteien, welche mit dem erstinstanzlichen
Urteil nicht einverstanden sind, müssen mithin in der Regel zweimal ihren
Willen kundtun, das Urteil nicht zu akzeptieren, nämlich einmal im Rahmen der
Anmeldung der Berufung bei der ersten Instanz nach Eröffnung des Dispositivs
(siehe Art. 84 StPO zur Eröffnung sowie Art. 81 Abs. 4 StPO zum Inhalt des
Dispositivs) und ein zweites Mal nach Eingang des begründeten Urteils durch
eine Berufungserklärung beim Berufungsgericht (BGE 138 IV 157 E. 2.1 f.; Urteil
des Bundesgerichts 6B_444/2011 vom 20. Oktober 2011 E. 2.5).

1.4.

1.4.1. Der Einwand des Beschwerdeführers, einer "erneuten" Berufungserklärung
vor der Vorinstanz habe es nicht bedurft, da er vor dem erstinstanzlichen
Gericht sowohl Berufung angemeldet als auch erklärt habe, erweist sich als
sachlich und rechtlich unzutreffend. Er verkennt, dass nach bundesgerichtlicher
Rechtsprechung ein blosses Motivierungs- und Zustellungsbegehren einer
Berufungsanmeldung nicht gleichzusetzen ist (vgl. Urteile 6B_674/2012 vom 11.
April 2013 E. 1.7; 6B_170/2012 vom 7. Mai 2012 E. 1.4.2; so auch Markus Hug,
in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur schweizerischen
Strafprozessordnung [StPO], 2010, N. 4 zu Art. 399 StPO). Dies ergibt sich aus
dem eindeutigen Wortlaut von Art. 82 Abs. 2 StPO, der explizit zwischen dem
Verlangen einer nachträglichen Urteilsbegründung (lit. a) und der Ergreifung
eines Rechtsmittels (lit. b) unterscheidet.
Die erste Instanz hat in Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
demnach auch nicht das Motivierungsgesuch, sondern zutreffend die als
"Berufungserklärung" titulierte Eingabe des Beschwerdeführers als
Berufungsanmeldung entgegengenommen (erstinstanzliches Urteil, S. 2 Ziff. 5).
Sie weist folglich in der Rechtsmittelbelehrung explizit auf die Pflicht des
Beschwerdeführers hin, dem Berufungsgericht innerhalb von 20 Tagen seit
Zustellung des begründeten Urteils eine  schriftliche Berufungserklärung
einzureichen. Dem ist der Beschwerdeführer nicht nachgekommen.
Soweit er unter Berufung auf BGE 138 IV 157 (E. 2) geltend macht, von der
Verpflichtung, die Erklärung vor zweiter Instanz zu wiederholen, könne im Sinne
einer Ausnahme der gesetzlichen Regelung abgesehen werden, wenn vor erster
Instanz nebst der Berufungsanmeldung zugleich die Berufungserklärung unter
Nennung der Rügen gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO erklärt werde und die Partei
damit zum Ausdruck bringe, dass sie ungeachtet der Urteilsbegründung am
Rechtsmittel festhalte, geht seine Argumentation in mehrfacher Hinsicht fehl.
Zum einen hat er beim erstinstanzlichen Gericht nur eine Berufungs  anmeldung
 und keine Berufungs erklärungeingereicht; zum anderen kann nach der zitierten
bundesgerichtlichen Rechtsprechung nur ausnahmsweise auf eine Berufungs 
anmeldung beim erstinstanzlichen Gericht verzichtet werden, wenn das Urteil
weder mündlich noch schriftlich im Dispositiv eröffnet, sondern direkt in
begründeter Form zugestellt wurde. Dies war vorliegend nicht der Fall, denn der
Beschwerdeführer machte seine Eingaben bereits vor dem Versand der
Urteilsbegründung. Ein Verzicht auf die schriftliche  Erklärung beim
Berufungsgericht ist grundsätzlich nicht möglich.

1.4.2. Fehlt es an einer (schriftlichen) Berufungserklärung, ist auf die
Berufung ohne weiteren Schriftenwechsel nicht einzutreten. Die zutreffenden
Erwägungen des angefochtenen Entscheids stehen jedoch im Widerspruch zum
Aktenvermerk der Verfahrensleitung vom 21. März 2013. Dieser ist zu entnehmen,
dass die Verfahrensleitung, nachdem sie erkannt hatte, dass es an einer
Berufungserklärung mangelte, mit dem Verteidiger des Beschwerdeführers
telefonisch Kontakt aufnahm, um abzuklären, wie es sich mit dem
Berufungsbegehren verhalte. Dieser sei der Auffassung, Berufung erklärt zu
haben, weshalb das Berufungsverfahren "seinen Gang nehme". In ihrer
Vernehmlassung präzisiert die Verfahrensleitung ihre Aktennotiz dahin gehend,
der Verteidiger habe anlässlich des Telefonats "sein Festhalten an der Berufung
deutlich gemacht", wovon in der Folge auch die Vorinstanz ausgegangen sei.
Warum die Verfahrensleitung das Prozessverhalten des anwaltlich vertretenen
Beschwerdeführers als unklar einstufte und ob sie entgegen der
erstinstanzlichen Erwägungen und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl.
vorstehend E. 1.4.1, 2. Absatz) die beiden Eingaben des Beschwerdeführers beim
Bezirksgericht als Berufungsanmeldung und -erklärung gewertet hat, kann
dahingestellt bleiben. Aus der Aktennotiz und der Vernehmlassung ergibt sich,
dass der Beschwerdeführer respektive sein Verteidiger entgegen der Ausführungen
im angefochtenen Urteil zwei Mal zum Ausdruck gebracht hat, mit dem
erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden zu sein. Dass die Sache nochmals
durch das Berufungsgericht beurteilt werden solle, hat er zunächst schriftlich
gegenüber dem erstinstanzlichen Gericht und später innert der noch laufenden
20-tägigen Frist von Art. 399 Abs. 3 S. 1 StPO telefonisch gegenüber der
Vorinstanz als Berufungsgericht bekräftigt. Auch wenn unverständlich ist, warum
der Verteidiger sich entgegen seiner Ankündigung und in Kenntnis, dass "etwas
falsch gelaufen sei", nicht mehr meldete und versäumte, die Berufungserklärung 
schriftlich nachzureichen, war für die Verfahrensleitung aufgrund des
Telefonats offensichtlich, dass der Beschwerdeführer die Durchführung des
Berufungsverfahrens wünschte. Wenn sie die bereits bei den Akten liegende und
inhaltlich den gesetzlichen Anforderungen einer Berufungserklärung gemäss Art.
399 Abs. 3 StPO genügende Eingabe an das erstinstanzliche Gericht trotz der
mündlichen Bekräftigung, an der Berufung festzuhalten, für nicht ausreichend
erachtete, hätte sie dies dem Verteidiger angesichts der unklaren Situation
kundtun und ihm eine Frist zur Einreichung einer schriftlichen
Berufungserklärung setzen müssen. Unter den konkreten Umständen durfte der
Beschwerdeführer nach Treu und Glauben davon ausgehen, das Berufungsverfahren
werde (trotz des Formfehlers) ohne weitere Prozessverfügungen seitens der
Verfahrensleitung durchgeführt. Der angefochtene Entscheid ist deshalb
aufzuheben.

2.

 Da die Beschwerde gutzuheissen ist, muss die Rüge der Verletzung des
rechtlichen Gehörs nicht mehr behandelt werden. Mit dem Entscheid in der Sache
wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.

3.

 Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und
4 BGG). Der Kanton Luzern hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Luzern vom 4. April 2013 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an das
Kantonsgericht Luzern zurückgewiesen.

2. 
Es werden keine Kosten erhoben.

3. 
Der Kanton Luzern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 2. Abteilung,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. November 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held

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