Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.393/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_393/2013

Urteil vom 17. Dezember 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Gerichtsschreiber Borner.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andres Büsser,
Beschwerdeführer,

gegen

Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich, Amtsleitung, Feldstrasse 42, 8090
Zürich,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Massnahmeerstehungsfähigkeit,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 3.
Abteilung, 3. Kammer, vom 28. Februar 2013.

Sachverhalt:

A. 
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X.________ am 18. März 2004
wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu einer Zuchthausstrafe von vier
Jahren und schob den Vollzug der Strafe zugunsten einer Verwahrung auf.

Das Verfahren, die Massnahme nach neuem Recht weiterzuführen, ist noch hängig.
Am 18. Januar 2012 wurde X.________ auf eigenen Wunsch in die
Justizvollzugsanstalt Lenzburg versetzt.

B. 
Am 23. Dezember 2011 ersuchte X.________, er sei aus gesundheitlichen Gründen
aus der Massnahme zu entlassen. Am 9. Mai 2012 beantragte er, nebst der
Sicherstellung der angeordneten Ernährungsvorschriften und bewegungs- und
atemtherapeutischen Pflege sei seine Haft- bzw. Massnahmeerstehungsfähigkeit
fachärztlich zu prüfen.

Das Amt für Justizvollzug (JVA) wies das Gesuch vom 9. Mai 2012 am 18. Juni
2012 ab. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel wiesen die Justizdirektion und das
Verwaltungsgericht ab.

C. 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt im Hauptpunkt, der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 28. Februar 2013 sei
aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Erstinstanz
zurückzuweisen, damit sie die Massnahmeerstehungsfähigkeit des
Beschwerdeführers durch ein unabhängiges polydisziplinäres medizinisches
Gutachten überprüfen lasse.

Die Justizdirektion, das Verwaltungsgericht und das JVA haben auf eine
Vernehmlassung zu E. 2.4 verzichtet (act. 13, 14 und 16).

Erwägungen:

1. 
Die Vorinstanz beurteilte die Massnahmeerstehungsfähigkeit des
Beschwerdeführers unter anderem gestützt auf den Amtsbericht des Anstaltsarztes
vom 30. Mai 2012:

"Von Seiten der generalisierten Arteriosklerose bestehen im Moment keine akuten
Probleme. Der Insasse wird regelmässig angiologisch nachkontrolliert, zuletzt
am 11.03.2012. Das empfohlene Prozedere ist die bestmögliche Kontrolle und
Optimierung der kardiovaskulären Risikofaktoren. Diesbezüglich befindet sich
Herr X.________ beim Gesundheitsdienst JVA in guten Händen. Die notwendige
Medikation kann regelmässig überwacht werden, die Ernährung (in erster Linie
möglichst nicht fett- und kohlenhydratlastig) wahrscheinlich sogar besser als
in Eigenverantwortung gehandhabt werden, desgleichen das notwendige Gehtraining
von optimal 2 x 30 Min. täglich. Die ebenso wichtige Sistierung des
Nikotinabusus kann dagegen nur durch Herrn X.________ erfolgen, wurde aber
bisher leider nicht umgesetzt. Auch im Zusammenhang mit der bestehenden
chronischen Bronchitis wäre der sofortige Nikotinstop die allerwichtigste
Massnahme. Die Hospitalisation am 08.05.2012 erfolgte nicht wegen eines
"Zusammenbruches aufgrund falscher Ernährung" sondern wegen einer
Infektexazerbation der chronischen Bronchitis. Was die medizinische Behandlung
betrifft, kann dem Insassen auch hier vom Gesundheitsdienst die gesamte
therapeutische Palette geboten werden, das heisst, nebst den Medikamenten, die
notwendige Inhalationsbehandlung sowie (falls nötig) eine physiotherapeutische
Atemtherapie.

Zusammenfassend kann bestätigt werden, dass alle therapeutischen und
pflegerischen Massnahmen, wie vom Rechtsvertreter des Insassen gefordert, unter
Haftbedingungen gewährleistet werden können. Eine weitergehende Prüfung der
Hafterstehungsfähigkeit spezialärztlich durch Kardiologen, Angiologen und
Pulmologen erachte ich als deutlich übertriebenen Aufwand, um zu den gleichen
Schlussfolgerungen zu gelangen. Eine solche Beurteilung kann aber von den
Behörden selbstverständlich jederzeit angeordnet werden" (kantonale Akten, act.
9/159).

Dem Anstaltsarzt standen unter anderem folgende Arztberichte - die meisten
davon inklusive Prozedere und Medikation - zur Verfügung:

- Kantonsspital Aarau, Interdisziplinäres Notfallzentrum, 15. Mai 2012 (a.a.O.,
act. 162/4)
- Kantonsspital Aarau, Interdisziplinäres Notfallzentrum, 8. Mai 2012 (a.a.O.,
act. 162/5)
- UniversitätsSpital Zürich, Klinik für Angiologie, 11. März 2012 (a.a.O., act.
162/6), 24. Januar 2012 (a.a.O., act. 162/8), 13. Januar 2012 (a.a.O., act. 162
/10), 13. Dezember 2011 (a.a.O., act. 162/11), 17. November 2011 (a.a.O., act.
162/13 f.)
- Justizvollzugsanstalt Pöschwies, behandelnder Arzt, 16. Januar 2012 (a.a.O.,
act. 162/9)
- UniversitätsSpital Zürich, Klinik für Kardiologie, 25. November 2011,
(a.a.O., act. 162/12)
- boso, Blutdruck- und Pulsmesswerte, 30. September 2011 10:00 Uhr bis 1.
Oktober 2011 11:00 Uhr (a.a.O., act. 162/15)
- UniversitätsSpital Zürich, Klinik für Neurologie, 17. Juni 2011 (a.a.O., act.
162/16)
- InselSpital Bern, Klinik und Poliklinik für Allgemeine Innere Medizin, 31.
Mai 2007 (a.a.O., act. 162/17)
- InselSpital Bern, Klinik und Poliklinik für Gastroenterologie, 22. Mai 2007
(a.a.O., act. 162/18)
- UniversitätsSpital Zürich, Klinik für Pneumologie, 27. Juli 2006 (a.a.O.,
act. 162/19 f.)
- UniversitätsSpital Zürich, Augenklinik, 3. Februar 2006 (a.a.O., act. 162/21)
- InselSpital Bern, Klinik und Poliklinik für Allgemeine Innere Medizin, 10.
Oktober 2005 (a.a.O., act. 162/22)
- Dr. med. A.________, Orthopädische Chirurgie FMH, 6. April 2005 (a.a.O., act.
162/23).

2. 
Die Vorinstanz erwägt, die Erkrankungen des Beschwerdeführers und deren
Behandlungsempfehlungen gingen aus den verschiedenen Berichten der Spitäler
hervor und seien inhaltlich unbestritten. Die Möglichkeiten, die Behandlungen
in der JVA Lenzburg vorzunehmen, ergäben sich aus dem Bericht des
Anstaltsarztes. Zwar habe der Beschwerdeführer beantragt, es müsse ein
auswärtiges Gutachten zur Massnahmeerstehungsfähigkeit eingeholt werden. Diese
sei für sich noch kein abklärbarer Sachverhalt, sondern vielmehr die
Schlussfolgerung bei einer genügenden Übereinstimmung zwischen dem
Behandlungsbedarf und den -möglichkeiten. Diese beiden Punkte habe der
Beschwerdeführer nicht näher substanziiert. Er führe beispielsweise nicht aus,
welche Behandlungen seines Erachtens zusätzlich zu den bereits festgestellten
nötig wären und welchen Nutzen er daraus ziehen könnte. Ebenso wenig mache er
geltend, dass er bisher einen bestimmten Facharzt habe konsultieren wollen und
ihm dies verwehrt worden sei oder inwiefern die nötigen Behandlungen in der JVA
Lenzburg nicht umgesetzt werden könnten. Er stelle die fachärztliche
Qualifikation und die medizinische Betreuungsmöglichkeiten bloss allgemein in
Frage.

Aufgrund der zahlreichen Arzt- und Spitalberichte stelle sich die Frage, welche
gesundheitlichen Probleme des Beschwerdeführers noch nicht offen lägen. Die
Beschwerde äussere sich dazu nicht. Die detaillierte Medikation, die
Vorschriften für das Essen und die Anforderungen an das Verhalten (etwa die
Auflage, mit dem Rauchen aufzuhören) deuteten vielmehr darauf hin, dass der
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers abgeklärt sei. Wenn er bloss auf sein
wiederholtes Kollabieren verweise, sei dies für sich noch kein genügendes Indiz
für eine fehlende Massnahmeerstehungsfähigkeit. Es bestünden keinerlei
Anhaltspunkte dafür, dass er nicht auch in Freiheit kollabiert wäre. Er mache
auch nicht geltend, nach einem Kollaps könne er nicht rasch genug in ein Spital
überstellt werden, und wie ein Leben in Freiheit seine gesundheitlichen
Probleme verbessern würde oder welche zusätzlichen Therapien ihm dann möglich
wären. In diesem Zusammenhang führe er auch nicht aus, inwiefern die zweifellos
krankheitsspezifischen Zusammenbrüche auf die ungenügende Behandlung
zurückzuführen sein sollten. Schliesslich äussere er sich auch nicht zur Frage
des Inhalts des Gutachtens bzw. der vom Gutachter zu prüfenden und würdigenden
Umstände.

Ein Gutachten sei generell nur einzuholen, um substanziiert behauptete
Tatsachen zu verifizieren, nicht aber, um erst den zu behauptenden Sachverhalt
zu erstellen, der mit diesem Beweismittel bestätigt werden sollte. Aufgrund der
mangelnden Substanziierung erscheine das Anordnen eines Gutachtens als
unverhältnismässig und in der Fragestellung zu unklar (angefochtener Entscheid
S. 11 f. Ziff. 7.2 und 7.3).

2.1. Der Beschwerdeführer argumentiert, er vertrete nicht die Auffassung, es
bestehe ein prinzipieller verfassungsrechtlicher Anspruch auf ein Gutachten um
des Gutachtens willen. Ihm stehe aber aufgrund des Gehörsanspruchs (Art. 29
Abs. 2 BV) und des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 29 Abs. 1 BV und
Art. 6 EMRK) eine unabhängige Begutachtung zur Klärung von Fragen zu, für deren
Beantwortung die entscheidende Behörde auf sachverständige Meinung angewiesen
sei.

Abgesehen vom ärztlichen Austrittsbericht der Justizvollzugsanstalt Pöschwies
wurden sämtliche Abklärungen von unabhängigen Medizinern vorgenommen (vgl. E. 1
letzter Teil). Die meisten enthalten klare Angaben zum weiteren Prozedere und
zur Medikation. Dass und inwiefern diese Empfehlungen in Lenzburg nicht
umgesetzt würden, macht der Beschwerdeführer nicht geltend. Insbesondere legt
er auch nicht dar, welche Fragen angesichts der vorinstanzlichen Begründung
einer gutachterlichen Abklärung bedürften. Die angerufenen
Verfassungsbestimmungen sind nicht verletzt.

2.2. Gleich verhält es sich mit seinem Einwand, die Vorinstanz habe den
Untersuchungsgrundsatz willkürlich verletzt (§ 7 VRG/ZH). Der Beschwerdeführer
legt nicht dar, welche Untersuchungen über die bisherigen Abklärungen (E. 1)
hinaus notwendig wären.

Seine Rüge, der Anstaltsarzt sei befangen (§ 5a VRG/ZH), begründet er mit
dessen Stellung als Gutachter. Da jener einen Amtsbericht und kein Gutachten
verfasste, gehen die Rügen an der Sache vorbei.

2.3. Der Beschwerdeführer rügt eine Gehörsverletzung (Art. 29 Abs. 2 BV), weil
die Vorinstanz seinen Antrag auf Rückweisung der Sache an die Rekursbehörde
bzw. Erstinstanz verwehrt habe mit der Begründung, die Verletzung sei bereits
geheilt. Zudem sei die vorinstanzliche Feststellung, er habe in der Beschwerde
vom 5. November 2012 keinen kassatorischen Antrag gestellt, aktenwidrig.

Letzterer Vorwurf geht an der Sache vorbei. Wenn die Vorinstanz ausführt, der
Beschwerdeführer habe nicht um Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und
Rückweisung wegen des rechtlichen Gehörs ersucht (angefochtener Entscheid S. 6
Ziff. 2.3 am Ende), betrifft dies den Entscheid der Justizdirektion bzw. den
Rekurs vom 9. Juli 2012 an diese. Dass der Beschwerdeführer im Rekurs einen
kassatorischen Antrag wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gestellt hätte,
macht er nicht geltend.

Die Justizdirektion verfügte über eine umfassende Kognition. Sie stellte dem
Beschwerdeführer die fraglichen Akten zu und räumte ihm die Möglichkeit zur
Stellungnahme ein. Deshalb erachtete die Vorinstanz die Verletzung des
rechtlichen Gehörs als geheilt und eine Rückweisung der Sache an die
Justizdirektion als formalistischen Leerlauf (a.a.O., S. 6 Ziff. 2.3). Dies ist
nicht zu beanstanden (BGE 137 I 195 E. 2.3.2).

2.4. Der Beschwerdeführer bringt vor, er habe bereits vor der Vorinstanz
moniert, dass ihm die Justizdirektion, obwohl sie eine Verletzung des
rechtlichen Gehörs anerkannt hatte, die gesamten Verfahrenskosten auferlegt und
eine Parteientschädigung verweigert habe. Die Vorinstanz habe sich mit dieser
Rüge überhaupt nicht befasst. Darin liege eine Rechtsverweigerung und eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Die Rüge ist begründet. Unter anderem hatte die Verletzung des rechtlichen
Gehörs den Beschwerdeführer veranlasst zu rekurrieren. Auf die Rüge des
Beschwerdeführers, die Justizdirektion habe dies bei den Kostenfolgen nicht
berücksichtigt, hätte die Vorinstanz eingehen müssen.

3. 
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Im Übrigen ist sie abzuweisen,
soweit darauf eingetreten werden kann.

Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Soweit
er obsiegt, ist das Gesuch gegenstandslos und der Kanton Zürich
entschädigungspflichtig (Art. 68 Abs. 1 BGG). Im Übrigen ist es wegen
Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Der
finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei der Festsetzung der
Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, das Urteil des Verwaltungsgerichts
des Kantons Zürich vom 28. Februar 2013 aufgehoben und die Sache zur neuen
Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde
abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird, soweit es nicht gegenstandslos
geworden ist, abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4. 
Der Kanton Zürich hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 500.-- zu entschädigen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 3.
Abteilung, 3. Kammer, und der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons
Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 17. Dezember 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Borner

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