Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.350/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_350/2013

Urteil vom 25. Juli 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Beschimpfung; Rückzug der Einsprache,

Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 28. Februar 2013.

Sachverhalt:

A.

 Die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten verurteilte X.________ mit Strafbefehl
vom 29. August 2012 wegen mehrfacher Beschimpfung zu einer bedingten Geldstrafe
von 30 Tagessätzen zu Fr. 145.-- und einer Busse von Fr. 800.--. Hiergegen
erhob X.________ Einsprache. Am 1. Oktober 2012 ging ihm die Vorladung für die
auf den 25. Oktober 2012 terminierte Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht
Bremgarten mit dem Hinweis zu, die Einsprache gelte bei unentschuldigtem
Nichterscheinen als zurückgezogen.

B.

 Am 11. Oktober 2012 konstituierte sich Rechtsanwalt Y.________ als Verteidiger
von X.________ und ersuchte um Verschiebung der Hauptverhandlung, da er am
Verhandlungstermin anderweitig besetzt sei. Er erwarte von der Gerichtskanzlei
einen Terminvorschlag und die Gerichtsakten zur Einsicht mit der Möglichkeit,
gegebenenfalls Anträge und Beweisergänzungen stellen zu können.
Am 15. Oktober 2012 wies der Gerichtspräsident des Bezirksgerichts Bremgarten
das Verschiebungsgesuch mit der Begründung ab, der Verhandlungstermin stehe
bereits seit zwei Wochen fest. Sofern sich X.________ nun kurzfristig
entschlossen habe einen Verteidiger beizuziehen, sei er gehalten, einen solchen
zu nehmen, der am Verhandlungstermin teilnehmen könne.
X.________ teilte dem Bezirksgericht am 21. Oktober 2012 mit, dass er sich
aufgrund des abgelehnten Verschiebungsgesuchs gezwungen sehe, der
Hauptverhandlung fernzubleiben, und ersuchte erneut um Verschiebung des
Verhandlungstermins.

C.

 Anlässlich der Hauptverhandlung vom 25. Oktober 2012 stellte der
Gerichtspräsident das Nichterscheinen von X.________ und dessen Verteidigers
fest und verfügte die Verfahrensabschreibung infolge Rückzugs der Einsprache.
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau am
28. Februar 2013 ab.

D.

 X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, der obergerichtliche
Entscheid und die Verfügung des Gerichtspräsidiums Bremgarten seien aufzuheben
und letzteres anzuweisen, das Strafverfahren wieder aufzunehmen. Dem
Gerichtspräsidenten des Bezirksgerichts Bremgarten sei der Fall wegen
Befangenheit zu entziehen. Seiner Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu
erteilen.

E.

 Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft verzichten auf Vernehmlassungen.

Erwägungen:

1.

 Anfechtungsobjekt ist der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau als
letzte kantonale Instanz (vgl. Art. 80 Abs. 1 BGG). Soweit der Beschwerdeführer
für den Fall einer Rückweisung den Ausstand des Bezirksgerichtspräsidenten
verlangt, kann darauf mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht
eingetreten werden.

2.

2.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und
seines Anspruchs auf ein faires Verfahren. Ihm sei das Recht verweigert worden,
sich im Strafverfahren durch einen Wahlverteidiger vertreten zu lassen, da die
kantonalen Gerichte das Verschiebungsgesuch infolge Terminkollision seines
Wahlverteidigers abgelehnt haben. Zudem sei ihm keine Akteneinsicht gewährt
worden, weshalb sein Nichterscheinen entgegen der Auffassung der Vorinstanz als
entschuldigt zu gelten habe.

2.2. Die Vorinstanz erwägt, der Beschwerdeführer bringe keine wichtigen Gründe
vor, die sein Nichterscheinen zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung vom 25.
Oktober 2012 entschuldigten. Er habe der ordnungsgemässen Vorladung trotz
Hinweises auf die Rechtsfolge im Falle des Nichterscheinens keine Folge
geleistet. Aus der erstinstanzlichen Verfügung vom 15. Oktober 2012 gehe
hervor, dass am Verhandlungstermin trotz des Verschiebungsgesuches seines
Wahlverteidigers festgehalten werde. Dessen Verhinderung habe die gerichtlich
angeordnete Erscheinungspflicht des Beschwerdeführers zur erstinstanzlichen
Hauptverhandlung nicht entfallen lassen. Der Beschwerdeführer habe
grundsätzlich das Recht, in jeder Phase des Strafverfahrens einen
Wahlverteidiger beizuziehen. Hieraus resultiere - unter Berücksichtigung des
Beschleunigungsgebots - aber kein Anspruch auf Verschiebung der bereits
terminierten Hauptverhandlung. Ihm sei der Termin bereits frühzeitig bekannt
und deshalb zuzumuten gewesen, einen anderen Verteidiger zu mandatieren, der an
der Verhandlung hätte teilnehmen können. Dem Beschwerdeführer sei zuzustimmen,
dass das Akteneinsichtsgesuch unbehandelt geblieben sei. Dies habe jedoch
keinen Einfluss auf sein (Prozess-) Verhalten gehabt, denn er habe mitgeteilt,
der Verhandlung aufgrund der Ablehnung des Verschiebungsgesuchs fernzubleiben.

2.3. Gemäss Art. 129 Abs. 1 StPO ist die beschuldigte Person berechtigt, in
jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand mit
ihrer Vertretung zu betrauen (Wahlverteidigung). Art. 129 StPO kodifiziert
damit als bundesrechtliche Verfahrensvorschrift einen bereits in Art. 32 Abs. 2
BV, Art. 6 Abs. 3 EMRK sowie Art. 14 Abs. 3 Buchstabe b IPBPR garantierten
fundamentalen Grundsatz eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Aus dem
eindeutigen Wortlaut der Norm ergibt sich, dass grundsätzlich eine (Wahl-)
Verteidigung nie ausgeschlossen werden darf ( Niklaus Ruckstuhl, in: Basler
Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 2 zu Art. 129 StPO) und
die beschuldigte Person in der Auswahl (und im Wechsel) ihrer Verteidigung frei
ist (vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des
Strafprozessrechts, BBl 2005 S. 1178 Ziff. 2.3.4.2). Das Bundesgericht hat sich
in mehreren jüngeren Entscheiden, denen namentlich auch ein Urteil der
Vorinstanz zugrunde lag, ausführlich zum Recht auf freie Anwaltswahl im Rahmen
der amtlichen Verteidigung geäussert (vgl. Urteile 6B_500/2012 vom 4. April
2013 E. 1.2.3 und E. 1.3.3; 1B_387/2012 vom 24. Januar 2013 E. 1.1 und E. 4.3,
zur amtlichen Publikation vorgesehen; 1B_291/2012 vom 28. Juni 2012 E. 1.4.1
und E. 2.3.1 ff.; je mit Hinweisen). Es bejaht einen drohenden, nicht wieder
gutzumachenden Rechtsnachteil und eine Verletzung des Anspruchs auf freie
Anwaltswahl, wenn dem Wunsch der beschuldigten Person keine Rechnung getragen
wird. Diese Grundsätze gelten ohne Einschränkung auch für die (private)
Wahlverteidigung.

2.4. Der angefochtene Entscheid verletzt das Recht des Beschwerdeführers auf
freie Anwaltswahl. Das Festhalten am Hauptverhandlungstermin hatte zur Folge,
dass der Beschwerdeführer sich nicht durch den Verteidiger seiner Wahl hat
vertreten lassen können. Strafprozessuale Grundsätze oder Parteirechte übriger
Verfahrensbeteiligter, die die Ablehnung des Verschiebungsgesuchs und die damit
verbundene erhebliche Beschränkung der freien Anwaltswahl rechtfertigen, sind
nicht ersichtlich. Insbesondere erweist sich die Mandatierung des
Wahlverteidgers nicht als trölerisch oder rechtsmissbräuchlich. Die
vorinstanzlichen Erwägungen, dem Beschwerdeführer wäre - insbesondere unter
Beachtung des Beschleunigungsgebots - zumutbar gewesen, in der bis zur
Hauptverhandlung verbleibenden Zeit einen anderen Verteidiger zu mandatieren,
sind mit dem Gesetzeswortlaut von Art. 129 Abs. 1 StPO nicht vereinbar. Zudem
verkennt die Vorinstanz, dass das Beschleunigungsgebot (Art. 29 Abs. 1 BV, Art.
5 Abs. 1 StPO und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) nicht Selbstzweck ist, sondern (in
erster Linie) dem Schutz der beschuldigten Person vor unnötig langer
Verfahrensdauer dient und nur in Ausnahmefällen oder bei Missbrauch eine
Beschränkung der Beschuldigtenrechte rechtfertigen kann. Der angefochtene
Entscheid ist bundesrechtswidrig. Die Rüge erweist sich als begründet.

2.5. Inwieweit der gerügten Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
gemäss Art. 29 Abs. 2 BV vorliegend noch eigenständige Bedeutung zukommt, kann
offenbleiben. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das Recht, angehört zu
werden, formeller Natur ist und seine Verletzung ungeachtet der
Erfolgsaussichten in der Sache grundsätzlich zur Aufhebung des angefochtenen
Entscheids führt (vgl. BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390; 127 V 431 E. 3d/aa S. 437
f.).

3.
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung ist mit dem Entscheid in der Sache
gegenstandslos geworden.

4.

 Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Der
Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 28. Februar 2013 ist
aufzuheben und die Sache in Anwendung von Art. 107 Abs. 2 Satz 2 BGG zur
Durchführung der Hauptverhandlung an das erstinstanzliche Gericht
zurückzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu
erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem Beschwerdeführer sind keine Kosten der
Rechtsvertretung erwachsen. Besondere Verhältnisse oder Auslagen weist er nicht
nach, weshalb keine Parteientschädigung zuzusprechen ist (Art. 68 Abs. 1 und 2
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der Entscheid
des Obergerichts des Kantons Aargau vom 28. Februar 2013 wird aufgehoben und
die Sache zur Durchführung der Hauptverhandlung an das Bezirksgericht
Bremgarten zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, und dem Bezirksgericht Bremgarten schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 25. Juli 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held

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