Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.263/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_263/2013

Urteil vom 24. Juni 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Oberholzer
Gerichtsschreiberin Andres.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Schütz,
Beschwerdeführerin,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Genugtuung (Überhaft); Willkür, rechtliches Gehör,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, vom 6. Februar 2013.

Sachverhalt:

A.

 Das Bezirksgericht Hinwil verurteilte X.________ am 22. September 2011 wegen
verschiedener Delikte zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten und ordnete eine
ambulante Massnahme an. Es stellte fest, dass die Strafe durch die Haft
vollumfänglich erstanden ist, verweigerte ihr jedoch eine Genugtuung infolge
Überhaft.

B.

 Auf Berufung von X.________ sprach ihr das Obergericht des Kantons Zürich am
6. Februar 2013 für die Überhaft von insgesamt 209 Tagen eine Genugtuung von
Fr. 20'900.-- aus der Staatskasse zu.

C.

 X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das angefochtene
Urteil sei aufzuheben, und es sei ihr eine Genugtuung von Fr. 60'000.--
zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

D.

 Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich haben sich
nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.

 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29
Abs. 2 BV). Sie habe in der Berufungsbegründung ausführlich dargelegt, weshalb
sie durch die Haft besonders betroffen gewesen sei (Suizidalität,
Disziplinierung einer Kranken, Haftfortsetzungen trotz schwerwiegender
Gefährdung der psychischen und physischen Gesundheit, Inhaftierung im
Hochsicherheitstrakt des Psychiatriezentrums Rheinau, medizinische Behandlung
auf falscher Grundlage, Beziehungsentzug zu den Kindern, Zerstörung der
Mutter-Kind-Beziehung). Dies sei durch die Akten belegt und begründe eine
massiv erhöhte Genugtuung. Weiter habe sie aufgezeigt, dass sich ihre geringe
Gefährlichkeit, ihre (Bagatell-) Delikte, ihre verkürzte Lebenserwartung sowie
ihre gesundheitlichen Probleme nach der Entlassung genugtuungserhöhend
auswirken müssten. Die Vorinstanz habe diese Begründung zwar zusammengefasst
wiedergegeben, sei jedoch bei der Bemessung der Genugtuung nicht darauf
eingegangen. Sie habe lediglich auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung
verwiesen und eine Genugtuung von Fr. 20'900.-- festgesetzt, was einem
Tagessatz von Fr. 100.-- entspreche.

 Die Beschwerdeführerin wendet ein, die Vorinstanz habe ihr Ermessen
unterschritten bzw. missbraucht, indem sie den konkreten Umständen kein
entscheidendes Gewicht beigemessen und die Art und Schwere der
wiedergutzumachenden Verletzung nicht ermittelt habe. Insgesamt sei eine
Genugtuung von Fr. 60'000.-- gerechtfertigt.

2.

 Das rechtliche Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV verlangt, dass die Behörde die
Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch
tatsächlich hört, prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Nicht
erforderlich ist, dass sie sich mit allen Parteistandpunkten einlässlich
auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr
kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Die
Begründung muss so abgefasst sein, dass sich der Betroffene über die Tragweite
des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die
höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die
Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und
auf die sich ihr Entscheid stützt (vgl. BGE 138 IV 81 E. 2.2 S. 84; 134 I 83 E.
4.1 S. 88 mit Hinweisen).
Die Genugtuung nach Art. 431 Abs. 2 StPO ist nach richterlichem Ermessen
festzulegen. Dabei kommt den Besonderheiten des Einzelfalles entscheidendes
Gewicht zu (vgl. Urteil 6B_111/2012 vom 15. Mai 2012 E. 4.2). Das Bundesgericht
greift bei Ermessensfragen nur korrigierend ein, wenn die Vorinstanz das
Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also ihr Ermessen überschritten,
missbraucht oder unterschritten hat (vgl. BGE 137 V 71 E. 5.1 S. 72 f.).

3.

 Die Vorinstanz sprach der Beschwerdeführerin eine Genugtuung für die Überhaft
von 209 Tagen zu (Art. 431 Abs. 2 StPO). Der vorinstanzlichen Begründung ist
jedoch nicht zu entnehmen, ob und wie sie die von der Beschwerdeführerin
geltend gemachten aussergewöhnlichen Umstände berücksichtigte. Da die
Beschwerdeführerin in ihrer Berufungsbegründung ausführlich dargelegt hatte,
weshalb sich die konkreten Umstände genugtuungserhöhend hätten auswirken müssen
(kantonale Akten, act. 198 S. 10 ff.), hätte sich die Vorinstanz damit
auseinandersetzen müssen. Lediglich die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu
zitieren und ohne weitere Ausführungen von einem Regelfall auszugehen, verletzt
das rechtliche Gehör. Das Bundesgericht kann nicht prüfen, ob die Vorinstanz
ihr Ermessen rechtskonform ausgeübt hat.

4.

 Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und
die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

 Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton
Zürich hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin angemessen zu
entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch der
Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Zürich vom 6. Februar 2013 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an
die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. Juni 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Die Gerichtsschreiberin: Andres

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