Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.229/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_229/2013

Urteil vom 4. Juli 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Oberholzer,
Gerichtsschreiberin Kratz-Ulmer.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Advokat Roman Felix,
Beschwerdeführer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft, Emma Herwegh-Platz 2a, 4410
Liestal,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Einstellungsverfügung, Entschädigung,

Beschwerde gegen den Beschluss des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung
Strafrecht,
vom 22. Januar 2013.

Sachverhalt:

A.
X.________ fuhr am 16. Juli 2012, um 23.40 Uhr, mit seinem Motorrad auf der
Autobahn H2 in Lausen/BL in Fahrtrichtung Sissach. Auf der Höhe des dortigen
Baustellenbereichs bremste der vor ihm fahrende Personenwagen aufgrund eines
entgegenkommenden Geisterfahrers bis zum Stillstand ab. X.________ erkannte die
Gefahr zu spät und konnte trotz eingeleiteter Vollbremsung eine leichte
Auffahrkollision mit dem Heck des still stehenden Personenwagens nicht mehr
verhindern.

B.
Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft stellte das Strafverfahren gestützt auf
Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO wegen einfacher Verkehrsregelverletzung gegen den
Beschuldigten ein. Sie auferlegte ihm die Verfahrenskosten und sprach ihm keine
Entschädigung zu.
Die von X.________ gegen die Kostenauflage und die fehlende Entschädigung
erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Beschluss vom
22. Januar 2013 im Sinne der Erwägungen teilweise gut, auferlegte ihm mit
anderer rechtlicher Begründung jedoch gleichwohl die Kosten und verweigerte ihm
eine Entschädigung.

C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, der angefochtene
Beschluss sei aufzuheben. Das Strafverfahren sei in Abänderung der
staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung gemäss Art. 319 Abs. 1 lit. b
StPO eventualiter gemäss Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO einzustellen, die Kosten
des Verfahrens seien dem Staat aufzuerlegen, und ihm sei eine Entschädigung von
Fr. 1'843.55 zuzusprechen.

D.
Das Kantonsgericht und die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft
beantragen, die Beschwerde sei kostenfällig abzuweisen.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt, ihm könne aufgrund der Akten nicht vorgeworfen
werden, er habe seine Aufmerksamkeit nicht dem vorausfahrenden Personenwagen
gewidmet. Unter normalen Umständen hätte er auch bei einer Vollbremsung des
Vorderfahrzeugs rechtzeitig bremsen können. Er sei jedoch durch den
entgegenkommenden Geisterfahrer für einen kurzen Moment abgelenkt gewesen. Er
habe nicht mit dem entgegenkommenden Falschfahrer rechnen müssen. Ein
Verschulden an der Kollision treffe einzig den Geisterfahrer. Die
Verfahrenseinstellung hätte gestützt auf Art. 319 Abs. 1 lit. b StPO erfolgen
müssen. Die Vorinstanz verletze daher Bundesrecht. Ihm könnten mangels
Verschulden der Verfahrenseinleitung auch nicht die Verfahrenskosten auferlegt
werden. Es sei im Übrigen nicht nachvollziehbar, weshalb er den Unfall nur mit
geringfügigem Verschulden verursacht, gleichzeitig jedoch sein Verschulden an
der Einleitung des Verfahrens nicht mehr gering sei. Sein prozessuales
Verschulden könne höchstens als äusserst gering bezeichnet werden. Dies werde
bereits dadurch belegt, dass die Polizisten zuerst abgeklärt hätten, ob
überhaupt ein Verfahren zu eröffnen sei (Beschwerde, S. 4 ff.).

1.2. Die Vorinstanz erwägt, dem Beschwerdeführer könne kein strafrechtliches
Verschulden im Zusammenhang mit einem Kosten- bzw. Entschädigungsentscheid
gemäss Art. 426 und Art. 430 StPO vorgehalten werden. Die Begründung der
staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung sei unzulässig, da sie sich auf
ein strafrechtliches Verschulden stütze. Dies verletze die Unschuldsvermutung
(Urteil, S. 7 f.). Die Staatsanwaltschaft habe jedoch gleichwohl das Verfahren
unter Auferlegung der Kosten einstellen dürfen. Gemäss Art. 31 SVG muss der
Führer sein Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten
nachkommen kann. Nach Art. 3 Abs. 1 VRV hat er die Aufmerksamkeit der Strasse
und dem Verkehr zuzuwenden. Zu den allgemeinen Vorsichtspflichten gehöre auch,
nur so schnell zu fahren, dass er innerhalb der überblickbaren Strecke halten
kann (Art. 4 Abs. 1 VRV). Diese Verkehrsregeln stellten unabhängig einer
allfälligen Strafbarkeit nach Art. 90 SVG allgemeine Verhaltensnormen und deren
Verletzung eine Sorgfaltspflichtverletzung dar. Der Beschwerdeführer verkenne,
dass er unabhängig von Falschfahrern immer mit einer Vollbremsung des
Vorderfahrzeugs rechnen müsse. Bei genügendem Abstand und genügender
Aufmerksamkeit hätte der Beschwerdeführer die Kollision verhindern können und
müssen. Es sei daher davon auszugehen, dass er die im Strassenverkehr gebotene
Aufmerksamkeitspflicht nicht aufgebracht und zumindest fahrlässig dagegen
verstossen habe. Massgeblich sei das Verschulden bezüglich der
Verfahrenseinleitung und nicht das Verschulden am Unfall selbst. In Bezug auf
die Einleitung des Verfahrens könne das Verschulden des Beschwerdeführers nicht
als gering eingestuft werden. Die Auflage der Verfahrenskosten trotz
Einstellung des Verfahrens sei daher rechtmässig (Urteil, S. 8 ff.).

1.3. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst eine Kostenauflage
bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens gegen die Unschuldsvermutung
gemäss Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK, wenn dem Angeschuldigten in
der Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt vorgeworfen wird, es
treffe ihn ein strafrechtliches Verschulden. Damit käme die Kostenauflage einer
Verdachtsstrafe gleich. Dagegen ist es mit Verfassung und Konvention vereinbar,
einem nicht verurteilten Angeschuldigten die Kosten zu überbinden, wenn er in
zivilrechtlich vorwerfbarer Weise, d.h. im Sinne einer analogen Anwendung der
sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze, eine geschriebene oder
ungeschriebene Verhaltensnorm klar verletzt und dadurch das Strafverfahren
veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 120 la 147 E. 3b; 119 la
332 E. 1b; 116 la 162 E. 2c-e; je mit Hinweisen).

1.4. Die Vorinstanz begründet die Kostenauflage mit "allgemeinen
Verhaltensnormen" im Strassenverkehr und erwähnt insbesondere Art. 31 SVG
(Beherrschen des Fahrzeugs), Art. 3 Abs. 1 VRV (Bedienung des Fahrzeugs) sowie
Art. 4 Abs. 1 VRV (angemessene Geschwindigkeit). Diese Vorschriften mögen
allgemeine Verhaltensnormen sein, sie stellen jedoch gleichzeitig
Verkehrsregeln dar, deren Verletzung durch Art. 90 SVG strafrechtlich zu ahnden
ist. Kommt die Vorinstanz zum Schluss, das Verfahren sei rechtmässig nach Art.
319 lit. e StPO in Verbindung mit Art. 52 StGB eingestellt worden, kann sie
dieselben Strafnormen, die zu keiner Verurteilung geführt haben, nicht zur
Begründung einer Sorgfaltspflichtverletzung des Beschuldigten heranziehen. Das
Bundesgericht verlangt vielmehr, dass der Beschuldigte die Verhaltensnorm klar
verletzt und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung
erschwert hat. Vorliegend führte die geringfügige Verletzung der Verkehrsregeln
jedoch gerade dazu, dass die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren einstellte.

1.5. Die Kostenauflage verletzt Bundesrecht. Ob dem Beschwerdeführer ein
Entschädigungsanspruch zusteht, wie von ihm verlangt (Beschwerde, S. 6 f.),
wird die Vorinstanz erneut zu entscheiden haben, da ihre Begründung, dem
Beschwerdeführer gestützt auf Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO einen
Entschädigungsanspruch zu verweigern (Urteil, S. 10), ebenfalls Bundesrecht
verletzt. Nach dieser Bestimmung kann die Strafbehörde die Entschädigung oder
Genugtuung nur herabsetzen oder verweigern, wenn die beschuldigte Person
rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen
Durchführung erschwert hat, was vorliegend nicht der Fall ist.

1.6. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der Beschluss des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft vom 22. Januar 2013 ist aufzuheben und die Sache zur neuen
Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4
BGG). Der Kanton Basel-Landschaft hat dem Beschwerdeführer eine angemessene
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Beschluss des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft vom 22. Januar 2013 wird aufgehoben und die Sache zur neuen
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Basel-Landschaft hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
von Fr. 3'000.-- auszurichten.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft,
Abteilung Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. Juli 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Die Gerichtsschreiberin: Kratz-Ulmer

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