Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.227/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_227/2013

Urteil vom 3. Oktober 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Denys, Oberholzer,
Gerichtsschreiber Briw.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Bleuler,
Beschwerdeführer,

gegen

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8001 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Verwahrung (Art. 64 Abs. 1 StGB); willkürliche Beweiswürdigung,

Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, vom 8. Januar 2013.

Sachverhalt:

A.

 Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X.________ am 23. September 2008 des
versuchten Mordes, der Sachbeschädigung sowie des Raufhandels schuldig und
ordnete die Rückversetzung in den Vollzug der mit obergerichtlichem Urteil vom
23. September 2004 ausgefällten Zuchthausstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten
wegen versuchter schwerer Körperverletzung an (X.________ war am 9. Juli 2005
bedingt entlassen worden). Unter Einbezug der Reststrafe verurteilte ihn das
Obergericht zu einer 15-jährigen Gesamtfreiheitsstrafe und verwahrte ihn.

 Das Kassationsgericht des Kantons Zürich hob am 6. September 2010 das
obergerichtliche Urteil vom 23. September 2008 betreffend die Verwahrung sowie
die Kosten- und Entschädigungsfolgen auf und wies die Sache zur Neubeurteilung
an das Obergericht zurück. Das Obergericht überwies die Sache am 13. Januar
2011 zuständigkeitshalber an das Bezirksgericht Bülach.

B.

 Das Bezirksgericht Bülach holte am 30. Dezember 2011 ein psychiatrisches
Gutachten zur Frage der Therapierbarkeit und Legalprognose ein. Es ordnete am
8. Mai 2012 (in Ergänzung des obergerichtlichen Urteils vom 23. September 2008)
die Verwahrung gemäss Art. 64 Abs. 1 StGB an.

 Mit Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich beantragte X.________, von
der Verwahrung abzusehen und eine stationäre therapeutische Massnahme
anzuordnen. Das Obergericht bestätigte am 8. Januar 2013 den
bezirksgerichtlichen Verwahrungsentscheid.

C.

 X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, die Verwahrung
aufzuheben und eine therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 Ziff. 1 StGB
anzuordnen. Es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt die vorinstanzliche Erwägung als unhaltbar, es
sei nicht belegt, dass sich durch eine stationäre therapeutische Massnahme
Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit über eine Dauer von fünf Jahren
deutlich verringern liessen.

1.2. Die Vorinstanz beurteilt die Behandlungsprognose gestützt auf ein
psychiatrisches Gutachten vom 25. Juni 2007 (sowie ein Ergänzungsgutachten vom
17. Januar 2011 desselben Gutachters) und ein zweites psychiatrisches Gutachten
vom 30. Dezember 2011 sowie die bezirksgerichtliche Befragung des
Zweitgutachters (erstinstanzliches Urteil S. 18), ferner anhand von zwei
Therapieberichten des PPD betreffend die Jahre 2011 und 2012. Das
Zweitgutachten berücksichtigte die früheren Gutachten und den Therapiebericht
vom 25. November 2011.

 Wie der Beschwerdeführer einräumt, setzt sich die Vorinstanz mit diesen
Beweismitteln eingehend auseinander. Er will deshalb in seiner Beschwerde die
gesamte vorinstanzliche Beweiswürdigung in ihrer Entwicklung verfolgen, um
zeigen zu können, dass die Vorinstanz "ab einer bestimmten Phase in Willkür
verfallen ist" (Beschwerde S. 5). Eine willkürliche Beweiswürdigung vermag er
nicht darzulegen.

1.3. Nach dem Hauptargument des Beschwerdeführers konnte die Vorinstanz "nur
auf dem Weg des Ignorierens der beiden Therapieberichte" schliessen, eine
Massnahme gemäss Art. 59 StGB erweise sich als nicht hinreichend
erfolgversprechend (Beschwerde S. 10).

 Der Beschwerdeführer verkennt die Tragweite von Therapieberichten. Therapeuten
gelten nach ständiger Praxis wegen ihrer Nähe zum Betroffenen als befangen.
Therapieberichte entkräften ein umfassendes Gutachten nicht ( HEER, in: Basler
Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013, NN. 48 und 60a zu Art. 56 StGB).

 Art. 56 Abs. 4 StGB schreibt vor, dass bei Straftaten gemäss Art. 64 Abs. 1
StGB (vgl. BGE 139 IV 57) die Begutachtung durch einen Sachverständigen
vorzunehmen ist, der den Täter weder behandelt noch in anderer Weise betreut
hat. Diese Vorschrift ist massgebend.

1.4. Die Verwahrung ist unzulässig, wenn eine Massnahme nach Art. 59 StGB
Erfolg verspricht. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit über die Dauer von fünf Jahren eine deutliche Verringerung
der Gefahr weiterer Straftaten im Sinne von Art. 64 Abs. 1 StGB besteht (BGE
134 IV 315 E. 3.4.1 und 3.4.2). Gutachten sind grundsätzlich frei zu würdigen,
jedoch darf das Gericht in Fachfragen nicht ohne triftige Gründe von ihnen
abweichen (BGE 128 I 81 E. 2 S. 86; 136 II 539 E. 3.2; 139 II 185 E. 9.2 S.
197).

1.4.1. Nach dem psychiatrischen Gutachten vom 25. Juni 2007 erschien die
Legalprognose als "ungünstig" und die Rückfallgefahr für vergleichbare Delikte
gegen die körperliche Integrität anderer als "deutlich erhöht". Das
psychiatrische Gutachten vom 30. Dezember 2011 stufte das Rückfallrisiko für
Gewalthandlungen mit 76% innert sieben Jahren und 82% innert zehn Jahren ein
und bezeichnete die Rückfallgefahr für erneute Gewalthandlungen als "deutlich
ausgeprägt" (Urteil S. 26).

 Die Therapeuten erachteten das aktuelle Rückfallrisiko dagegen nur noch als
"moderat" (Urteil S. 27). Nach der Vorinstanz gingen die sie aufgrund der
Schilderungen des Beschwerdeführers von unzutreffenden Tatabläufen aus. Der
Beschwerdeführer wirkte entgegen dem Therapiebericht 2012 manipulativ auf die
Therapie ein. Im Gutachten 2011 wurde der Therapiebericht 2011 als zu
unkritisch bezeichnet. Deshalb ist es nach der Vorinstanz umso
unverständlicher, dass der Therapiebericht 2012 noch wohlwollender ausfiel und
offenbar an einer Behandlung festgehalten wurde, welche nicht die vom
Beschwerdeführer begangenen Tatabläufe zum Inhalt hatte (Urteil S. 28). Das
bestätigte die Bedenken im Gutachten 2007, wonach es für die dissoziale
Persönlichkeitsstörung des Beschwerdeführers "keine gut wirksame
Behandlungsmethode" gibt und die Störung als "generell zumindest nur schwer
behandelbar" gilt (Urteil S. 28).

1.4.2. Das Gutachten 2011 erachtete die Ansicht des Gutachtens 2007 als nicht
nachvollziehbar und empfahl eine Massnahme gemäss Art. 59 StGB (Urteil S. 19
f.). An der erstinstanzlichen Verhandlung relativierte der Zweitgutachter diese
in seinem Gutachten vertretene Ansicht und erklärte, dass die Verminderung der
Rückfallgefahr nicht garantiert werden könne. Da man aus heutiger Sicht eine
unzureichende Behandelbarkeit nicht nachweisen könne, müsse man jedoch eine
Therapie versuchen. Die Frage, ob über den Fünfjahreshorizont hinaus eine
grosse Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Therapie bestehe, verneinte er
und fügte an, dass er skeptisch sei, ob dies gelingen werde. Wie die
Erstinstanz feststellte, bewertete selbst der Zweitgutachter die
Erfolgsaussichten einer Therapie zurückhaltend, vage und ungewiss
(erstinstanzliches Urteil S. 18 und 21; Urteil S. 20).

 Zur Aussage des Zweitgutachters vor Bezirksgericht hält die Vorinstanz fest,
einerseits sei ein Beweis der Nichtbehandelbarkeit zur Verneinung einer
therapeutischen Massnahme weder möglich noch nötig. Der Empfehlung des
Gutachters liege eine falsche Prämisse zugrunde. Andererseits verneine er eine
grosse Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Therapie über den
Fünfjahreshorizont hinaus (Urteil S. 29). Die Vorinstanz kommt zum Ergebnis,
der überblickbare Therapieverlauf von rund zweieinhalb Jahren und die
erheblichen Abweichungen in den Therapieberichten zu den Legalprognosen der
beiden Gutachten eigneten sich nicht als Beleg für eine therapeutische
Massnahme gemäss Art. 59 StGB.

1.4.3. Der Beschwerdeführer kritisiert, die Vorinstanz vertrete eine
unwissenschaftliche Therapieauffassung, wonach der Therapeut den Probanden zum
Anerkennen des in den Augen des Gerichts richtigen Sachverhalts zu
konditionieren habe (Beschwerde S. 9). Die Kritik ist nicht begründet.
Strafrechtliche Therapie muss die tatsächliche Problematik bearbeiten.
Illusionäre Therapieformen können die kriminogenen Defizite nicht beheben,
sondern womöglich verfestigen. Es macht einen gravierenden Unterschied für den
Behandlungsauftrag, nämlich "der Gefahr weiterer Straftaten zu begegnen" (Art.
56 Abs. 1 lit. a und Art. 59 Abs. 1 lit. b StGB), ob der Beschwerdeführer sich
nach seinen Behauptungen bei der Anlasstat in einer Notwehrsituation wähnen
konnte, oder ob er sich - wie tatsächlich geschehen - auf das regungslos am
Boden liegende Opfer setzte und diesem die Kehle aufschlitzte (Urteil S. 28).
Eine deliktpräventive, günstige Wirkung ist mit einer manipulativ zum Inhalt
der Therapie gemachten Deliktkonstruktion nicht zu erreichen (Urteil S. 26).

1.4.4. Eine willkürliche Würdigung ist nicht ersichtlich. Das Gutachten 2011
geht (wie jenes von 2007) von einer deutlichen Rückfallgefahr aus und verneint
über den Fünfjahreshorizont eine grosse Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen
Therapie (ungeachtet seiner Kritik am Gutachten 2007). Damit ist die für die
Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme gemäss Art. 59 StGB
vorausgesetzte hinreichende Wahrscheinlichkeit einer deutlichen Verringerung
der Gefahr weiterer Straftaten nicht gegeben. Zutreffend geht die Vorinstanz
von einer bis heute mangelnden Einsicht des Beschwerdeführers aus, so dass er -
wie im Erstgutachten ausgeführt - therapeutisch kaum erreichbar bzw.
beeinflussbar erscheint (Urteil S. 29).

2.

 Die Beschwerde ist abzuweisen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist
gutzuheissen. Es sind keine Kosten zu erheben und der Rechtsvertreter aus der
Bundesgerichtskasse zu entschädigen (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Dr. Max Bleuler, wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Oktober 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Briw

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