Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Strafrechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 6B.149/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
6B_149/2013

Urteil vom 27. August 2013

Strafrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Gerichtsschreiber Held.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Reber,
Beschwerdeführer,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Wiederherstellungsgesuch (Strafbefehl; Diebstahl); Grundsatz von Treu und
Glauben, fair trial,

Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern,
Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 3. Januar 2013.

Sachverhalt:

A.

 Y.________ stellte am 30. April 2012 Strafantrag gegen ihren ehemaligen
Lebensgefährten X.________ wegen Hausfriedensbruchs und Diebstahls respektive
Sachentziehung. Mit Nichtanhandnahmeverfügung vom 16. August 2012 stellte die
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern das Verfahren wegen Hausfriedensbruchs ein
und kündigte in Ziffer 4 des Dispositivs die Einleitung eines
Strafbefehlverfahrens wegen Diebstahls an. Mit Strafbefehl vom 21. August 2012
sprach sie gegen X.________ eine bedingte Geldstrafe von Fr. 100.-- sowie eine
Verbindungsbusse von Fr. 250.-- aus und auferlegte ihm die Verfahrenskosten.

B.

 X.________ holte weder die Nichtanhandnahmeverfügung noch den Strafbefehl, die
ihm per Gerichtsurkunde zugestellt worden waren, innert Frist bei der Post ab.
Die Staatsanwaltschaft verschickte beide Verfügungen nochmals per A-Post. Die
Nichtanhandnahmeverfügung gelangte X.________ am 31. August 2012 zur Kenntnis.
Er erhob am 2. September 2012 gegen Ziffer 4 des Dispositivs Beschwerde beim
Obergericht des Kantons Bern, auf welche dieses mit Beschluss vom 13. September
2012 nicht eintrat.
X.________ nahm am 21. September 2012 vom Strafbefehl und obergerichtlichen
Nichteintretensentscheid Kenntnis. Er erhob gleichentags durch seinen
beigezogenen Verteidiger "vorsorglich" Einsprache gegen den Strafbefehl.

C.

 Am 4. Oktober 2012 stellte er ein Gesuch um Wiederherstellung der
Einsprachefrist, das die Staatsanwaltschaft am 11. Oktober 2012 abwies. Die
hiergegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht am 3. Januar 2013 unter
Auferlegung der Verfahrenskosten ab, soweit es darauf eintrat.

D.

 X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das Urteil des
Obergerichts vom 3. Januar 2013 sei aufzuheben, das Gesuch um Wiederherstellung
der Rechtsmittelfrist gutzuheissen und diese im Strafbefehl vom 21. August 2012
wiederherzustellen. Eventualiter sei festzustellen, dass die Einsprache
rechtzeitig erhoben wurde. Subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

E.

 Die Staatsanwaltschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Obergericht hat
sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.

1.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Gebots von Treu und Glauben
und des Grundsatzes des Anspruchs auf ein faires Verfahren. Die Vorinstanz
verfalle in überspitzten Formalismus, wenn sie seine Eingabe gegen die
Nichtanhandnahmeverfügung als unbeachtlich einstufe. Er habe nicht mit einem
Strafbefehl rechnen müssen, da er erst mit Zugang des angefochtenen
obergerichtlichen Entscheids auf den Strafbefehl und dessen (separate)
Anfechtung hingewiesen worden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei die 10-tägige
Einsprachefrist aber bereits abgelaufen gewesen. Es sei offensichtlich, dass er
eigentlich Einsprache gegen den Strafbefehl habe erheben wollen. Die Vorinstanz
hätte seine Eingabe als gegen den bereits erlassenen Strafbefehl gerichtet
umdeuten müssen.

1.2. Die Vorinstanz erwägt, die Einsprache vom 21. September 2012 gegen den
Strafbefehl sei aufgrund der Zustellfiktion nach Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO
verspätet. Gründe zur Wiederherstellung der Frist im Sinne von Art. 94 Abs. 1
StPO lägen nicht vor. Der Beschwerdeführer habe seit seiner polizeilichen
Einvernahme vom 14. Mai 2012 gewusst, dass gegen ihn ein Strafverfahren laufe.
Er habe der Nichtanhandnahmeverfügung entnehmen können, dass hinsichtlich des
Diebstahlvorwurfs ein Strafbefehlsverfahren gegen ihn eingeleitet werde.
Aufgrund des laufenden Verfahrens hätte er mit weiteren Zustellungen rechnen
und besorgt sein müssen, diese rechtzeitig in Empfang zu nehmen. Deshalb sei
unerheblich, ob er geglaubt habe, die Einleitung des Strafbefehlsverfahrens mit
seiner Beschwerde im Keim ersticken zu können, und ob er konkret gewusst habe,
dass ihm ein Strafbefehl zugestellt werde. Daran ändere auch der im
Nichteintretensbeschluss gemachte Hinweis auf die Möglichkeit der Einsprache
gegen den Strafbefehl nichts. Der Hinweis sei theoretischer Natur gewesen und
das Obergericht habe nicht gewusst, dass der Strafbefehl bereits erlassen
wurde. Die auf dem Strafbefehl enthaltene Rechtsmittelbelehrung genüge, um den
Beschwerdeführer über seine Weiterzugsmöglichkeiten aufzuklären.

1.3.

1.3.1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen, und es kann
eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden
Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 II 136 E. 1.4 S.
140). Unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde
(Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) prüft es grundsätzlich nur die geltend gemachten
Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE
133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.3.2. Aus dem Prinzip von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV, Art. 9 BV und
Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) leitet die Rechtsprechung ein Recht auf
Vertrauensschutz ab. Daraus ergibt sich, dass den Parteien aus einer
unrichtigen Rechtsmittelbelehrung grundsätzlich keine Nachteile erwachsen
dürfen, wenn sie sich nach Treu und Glauben auf die fehlerhafte
Rechtsmittelbelehrung verlassen durften. Dies gilt nicht für die Partei, welche
die Unrichtigkeit erkannte oder bei gebührender Aufmerksamkeit hätte erkennen
müssen. Allerdings vermag nur eine grobe prozessuale Unsorgfalt der betroffenen
Partei oder ihres Anwalts eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung aufzuwiegen
(vgl. BGE 135 III 374 E. 1.2.2.1 S. 376 mit Hinweisen). Dieser Grundsatz gilt
nicht nur für das Verfahren vor Bundesgericht (Art. 49 BGG), sondern auch für
das kantonale Verfahren (vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a StPO; Urteil 6B_295/2011 vom
26. August 2011 E. 1.3 mit Hinweis).
Ob der Prozesspartei eine als grob zu wertende Unsorgfalt vorzuwerfen ist,
beurteilt sich nach den konkreten Umständen und ihren Rechtskenntnissen. Ist
sie rechtsunkundig und auch nicht rechtskundig vertreten, darf sie nicht der
anwaltlich vertretenen Partei gleichgestellt werden, es sei denn, sie verfüge
namentlich aus früheren Verfahren über entsprechende Erfahrungen. Eine
Überprüfung der in der Rechtsmittelbelehrung enthaltenen Angaben kann von einer
Prozesspartei im Übrigen nur verlangt werden, wenn diese über die Kenntnisse
verfügt, die es ihr überhaupt ermöglichen, die massgebende Gesetzesbestimmung
ausfindig zu machen und gegebenenfalls auszulegen (vgl. BGE 138 I 49 E. 8.3.2
S. 53 f; 135 III 374 E. 1.2.2.2 S. 376 f.; je mit Hinweisen).

1.4.

1.4.1. Die Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft enthält folgende
Rechtsmittelbelehrung: "Gegen diese Verfügung kann nach Art. 393 ff. StPO
innert 10 Tagen seit Eröffnung schriftlich und begründet Beschwerde bei der
Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17,
Postfach 7475, 3001 Bern, erhoben werden (Art. 310 Abs. 2 i.V.m. Art. 322 Abs.
2 StPO) ".

1.4.2. Die Rechtsmittelbelehrung ist in dieser Form unzutreffend und
missverständlich. Die Ankündigung, es werde wegen des Vorwurfs des Diebstahls
das "Strafbefehlsverfahren eingeleitet" (Ziffer 4 des Dispositivs), ist nicht
anfechtbar. Der Beschwerdeführer war lediglich hinsichtlich Ziffer 3, mit der
ihm die Ausrichtung einer Entschädigung versagt wurde, beschwerdelegitimiert.
Beim rechtsunkundigen Beschwerdeführer konnte und durfte der Eindruck
entstehen, er könne sämtliche Ziffern der Verfügung anfechten und die
bevorstehende "Einleitung des Strafbefehlsverfahrens" (respektive den Abschluss
der Untersuchung mittels Strafbefehls) im Falle einer Gutheissung seiner
Beschwerde durch die Vorinstanz verhindern. Es konnte nicht erwartet werden,
dass er anhand der zitierten Gesetzesartikel (Art. 393 ff. StPO und Art. 310
Abs. 2 StPO) die Rechtsmittelbelehrung auf ihre Richtigkeit überprüfte und
erkannte, dass er nur eingeschränkt beschwerdelegitimiert war. Dies hätte
juristische Kenntnisse erfordert. Unter den gegebenen Umständen kann ihm nicht
vorgeworfen werden, er habe sich grob unsorgfältig verhalten, als er auf die
falsche Rechtsmittelbelehrung vertraute. Er durfte davon ausgehen, dass seitens
der Staatsanwaltschaft bis zum rechtkräftigen Entscheid der Vorinstanz über die
Beschwerde keine weiteren Verfahrenshandlungen erfolgten.

1.4.3. Die vom Beschwerdeführer unmittelbar nach Zugang des
Nichteintretensbeschlusses der Vorinstanz durch seinen Verteidiger erhobene
Einsprache erfolgte demnach fristgerecht. Der angefochtene Entscheid verletzt
Art. 5 Abs. 3 BV, Art. 9 BV und Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO. Ob die
Voraussetzungen für die Wiederherstellung der Einsprachefrist im Sinne von Art.
94 StPO erfüllt sind, ist somit ohne Bedeutung.

2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der Beschluss der Vorinstanz vom 3. Januar
2013 aufzuheben. Die Sache ist an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66
Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Der Kanton Bern hat dem Beschwerdeführer eine
angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Obergerichts des Kantons
Bern vom 3. Januar 2013 aufgehoben und die Sache an die Staatsanwaltschaft des
Kantons Bern zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern,
Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. August 2013

Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Mathys

Der Gerichtsschreiber: Held

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