Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.9/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_9/2013

Urteil vom 24. Januar 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Chaix,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Linus Jaeggi,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Uri, Tellsgasse 3, Postfach 959, 6460 Altdorf,
Landgericht Uri, Strafrechtliche Abteilung, Rathausplatz 2, 6460 Altdorf.

Gegenstand
Verlängerung der Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 6. Dezember 2012 des Obergerichts des
Kantons Uri, Strafprozessuale Beschwerdeinstanz.

Sachverhalt:

A.
Das Landgericht Uri verurteilte X.________ am 24. Oktober 2012 wegen versuchten
Mordes (Art. 112 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB), Gefährdung des Lebens (Art. 129
StGB) und mehrfacher Widerhandlung gegen das Waffengesetz zu 10 Jahren
Freiheitsstrafe und Fr. 1'000.-- Busse. Mit separatem Beschluss vom gleichen
Tag ordnete es an, X.________ habe bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen
Urteils zur Sicherung des Strafvollzugs nach Art. 231 Abs. 1 StPO in
Sicherheitshaft zu bleiben.
Gegen dieses Urteil, das erst im Dispositiv vorliegt, meldeten X.________, die
Staatsanwaltschaft sowie die Geschädigte Y.________ Berufung an.
X.________ reichte zudem beim Obergericht des Kantons Uri eine Beschwerde gegen
die Fortsetzung der Sicherheitshaft ein mit dem Antrag, ihn unverzüglich aus
der Haft zu entlassen.
Das Obergericht hiess die Beschwerde am 6. Dezember 2012 teilweise gut und
ordnete an, X.________ habe wegen Flucht- und Wiederholungsgefahr zur Sicherung
des Strafvollzuges und im Hinblick auf das Berufungsverfahren bis zum 24. April
2013 in Sicherheitshaft zu bleiben.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, die vorinstanzliche
Haftanordnung aufzuheben und ihn - eventuell unter Anordnung von
Ersatzmassnahmen - aus der Haft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C.
Obergericht, Landgericht und Staatsanwaltschaft verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des Obergerichts.
Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der
Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist
zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung
der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und
damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von
Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde eingetreten werden kann.

2.
Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender
Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Flucht-,
Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Das
Obergericht ist zum Schluss gekommen, dass der allgemeine Haftgrund des
dringenden Tatverdachts gegeben ist und Flucht- sowie Wiederholungsgefahr
besteht.

2.1 Mit der Verurteilung des Beschwerdeführers vom 24. Oktober 2012 ist der
allgemeine Haftgrund des dringenden Tatverdachts unbestreitbar gegeben. Wie der
Beschwerdeführer selber bemerkt, hat das Bundesgericht im vorliegenden
Verfahren nicht materiell zu prüfen, ob er zu Recht oder Unrecht verurteilt
wurde. Seine hypothetische Kritik an den noch nicht schriftlich vorliegenden
Urteilsgründen, die darauf abzielt, seine Verurteilung als Ergebnis einer
völlig unhaltbaren Beweiswürdigung des Landgerichts abzutun, geht daher an der
Sache vorbei.

2.2 Für die Annahme von Fluchtgefahr genügt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein
nicht. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur
neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE
125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6).
2.3
2.3.1 Das Landgericht verurteilte den Beschwerdeführer unter Anrechnung von 715
Tagen erstandener Untersuchungs- und Sicherheitshaft zu einer Freiheitsstrafe
von 10 Jahren. Der nicht geständige Beschwerdeführer kann zwar darauf hoffen,
im Berufungsverfahren freigesprochen zu werden. Er muss aber anderseits auch
damit rechnen, dass das erstinstanzliche Urteil geschützt und das Strafmass
bestätigt oder gar, entsprechend dem Antrag des Staatsanwaltes, der eine
Freiheitsstrafe von 15 Jahren forderte, massiv erhöht wird. Dieser Strafantrag
erscheint jedenfalls keineswegs als von vornherein überrissen. Zieht man in
Betracht, dass der untere Strafrahmen für Mord bei 10 Jahren liegt (Art. 112
StGB) und sowohl ein fakultativer Strafmilderungsgrund (Versuch, Art. 22 Abs. 1
StGB) als auch ein Strafschärfungsgrund (Realkonkurrenz mit Gefährdung des
Lebens, Art. 49 Abs. 1 i.V.m. Art. 129 StGB) zu berücksichtigen sind, besteht
im Fall einer Bestätigung der Verurteilung im Strafpunkt die reale Möglichkeit,
dass die Berufungsinstanz das Strafmass erhöht. Die für den Fall einer
Verurteilung zu erwartende hohe Freiheitsstrafe bildet somit einen starken
Fluchtanreiz.
2.3.2 Der Beschwerdeführer hat den grössten Teil seines Lebens in seiner
engeren Heimat im Kanton Uri bzw. in Erstfeld verbracht und auch seine
geschäftlichen Tätigkeiten als Cabaret-Betreiber und Vermittler von Tänzerinnen
von dort aus betrieben. Es erscheint daher durchaus glaubhaft, dass er vor den
Vorfällen, die zu seiner Verurteilung durch das Landgericht führten, keinerlei
Absichten hatte, wegzuziehen. Das bedeutet indessen keineswegs, dass er nicht
versuchen würde, sich einer drohenden langjährigen Freiheitsstrafe durch Flucht
zu entziehen. Die Geschäfte der U.________ GmbH, deren alleinige
Geschäftsführerin nach dem Ausscheiden des Beschwerdeführers seine Freundin
Z.________ ist und die den "V.________" betreibt, hat nach den Angaben des
Beschwerdeführers (Beschwerde S. 20) existenzielle finanzielle Schwierigkeiten.
Die W.________ GmbH, über die der Beschwerdeführer Tänzerinnen vermittelte,
befindet sich in Liquidation. Die Aussichten, seine bisherigen Geschäfte in
Erstfeld mit Erfolg weiterzuführen, sind mithin erheblich getrübt. Er würde
daher nicht viel verlieren, wenn er sie durch eine Flucht freiwillig aufgeben
würde. Der Beschwerdeführer ist (noch) mit einer Ukrainerin verheiratet; seine
jetzige Freundin, mit der er ein Kind hat, ist Russin. Durch seine Tätigkeit
als Cabaret-Betreiber und Vermittler von Tänzerinnen hatte er auch beruflich
jahrelang mit Frauen aus u.a. diesen Ländern zu tun und damit wohl zwangsläufig
auch direkte oder indirekte Kontakte zu den dortigen Milieus bzw. den darin
tätigen kriminellen Organisationen. Es ist durchaus denkbar, dass er mit Blick
auf diese Beziehungen - mit seiner Freundin und dem gemeinsamen Kind -
untertauchen könnte. Immerhin ist es ihm nach der Überzeugung des Landgerichts
auch gelungen, einen Mord in Auftrag zu geben. Der Beschwerdeführer macht zwar
geltend, mittellos zu sein. Es steht aber keineswegs fest und liegt bei seinen
Geschäftstätigkeiten im Milieu auch nicht nahe, dass er eine vollständige und
wahrheitsgetreue Buchhaltung führte, aus der sich seine finanzielle Situation
transparent ergeben würde. Es ist daher möglich, dass es ihm gelang, "schwarze
Kassen" zu verbergen und er entgegen dem von ihm erweckten Anschein über
ausreichende Mittel verfügt, um ein Untertauchen zu finanzieren.
2.3.3 Zusammenfassend ist somit ernsthaft zu befürchten, der Beschwerdeführer
würde sich in Freiheit der für den Fall einer Verurteilung drohenden
langjährigen Freiheitsstrafe durch Flucht entziehen, die entsprechenden
Einschätzungen von Landgericht und Obergericht sind nicht zu beanstanden. Es
besteht somit Fluchtgefahr. Diese kann durch Ersatzmassnahmen im Sinn von Art.
237 Abs. 2 StPO nicht ausreichend gebannt werden. Eine Fluchtkaution fällt
ausser Betracht, da der Beschwerdeführer behauptet, mittellos zu sein, und eine
Schriftensperre wäre unzulänglich. Offensichtlich nicht zu beanstanden ist der
angefochtene Entscheid unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit, ist
die bisher erstandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft doch noch weit
entfernt von der für den Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe und sind
keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Verfahren nicht mit der
gebotenen Beschleunigung vorangetrieben wird.

3.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, ohne dass geprüft werden müsste, ob
weitere Haftgründe bestehen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen
ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches
gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war und
trotz der in E. 2.3.2 angeführten Vorbehalte davon ausgegangen werden muss,
dass der Beschwerdeführer bedürftig ist (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Linus Jäggi, Zürich, wird für das bundesgerichtliche Verfahren
als amtlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der
Bundesgerichtskasse entschädigt,

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Uri, dem Landgericht Uri, Strafrechtliche Abteilung, und dem Obergericht des
Kantons Uri, Strafprozessuale Beschwerdeinstanz, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 24. Januar 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi