Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.97/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_97/2013

Urteil vom 27. März 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,

gegen

Helen Leimbacher, Bezirksgericht Brugg, Untere Hofstatt 4, 5201 Brugg,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Strafverfahren; Ausstand,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 12. Februar 2013 des Obergerichts des
Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach erhob am 10. Dezember 2012 beim
Bezirksgericht Brugg Anklage gegen X.________ wegen Mord an seiner Ehefrau,
Gefährdung des Lebens und Widerhandlung gegen das Waffengesetz. Nachdem das
Bezirksgericht in der Vorladung für die Hauptverhandlung die vorgesehene
Besetzung des Gerichts bekannt gegeben hatte, verlangte X.________ gestützt auf
Art. 56 lit. b und f StPO den Ausstand von Vizepräsidentin Helen Leimbacher.
Zur Begründung brachte er vor, Helen Leimbacher habe mit seinen drei Kindern,
die damals 6, 11 und 17 Jahre alt gewesen seien, Anhörungen durchgeführt,
welche unter anderem der Wahl eines Pflegeplatzes gedient hätten. Nach den
emotional verlaufenen Befragungen müsse sie eine grosse Wut auf ihn haben und
könne deshalb nicht mehr unvoreingenommen urteilen.
Mit Entscheid vom 12. Februar 2013 wies die Beschwerdekammer in Strafsachen des
Obergerichts des Kantons Aargau das Gesuch ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 7. März 2013 beantragt
X.________, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und das
Ausstandsbegehren gutzuheissen.
Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Helen Leimbacher
beantragt die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hält in seiner
Replik dazu an seinen Anträgen und Rechtsauffassungen fest.

Erwägungen:

1.
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen selbständig eröffneten
Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren in einer Strafsache (Art. 78 Abs.
1 und Art. 92 Abs. 1 BGG). Das Obergericht hat als letzte und einzige kantonale
Instanz entschieden (Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1 StPO). Der
Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 1 BGG zur
Beschwerde befugt. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen
Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer macht im bundesgerichtlichen Verfahren keine
Verletzung von Art. 56 lit. b StPO mehr geltend. Das Obergericht hatte
dargelegt, dass sich diese Bestimmung nur auf Vorbefassungen in der gleichen
Sache bezieht, was bei zwei verschiedenen Verfahren (ein strafrechtliches und
ein kindesschutzrechtliches) nicht zutrifft (vgl. Urteil 6B_621/2011 vom 19.
Dezember 2011 E. 2.3.1 mit Hinweisen). Weiterhin beruft er sich indessen auf
Art. 56 lit. f StPO. Es verhalte sich vorliegend gleich wie bei einer Person,
die in einer Opferhilfestelle das Opfer eines Gewaltverbrechens beraten habe
und anschliessend über den Täter urteilen sollte. Helen Leimbacher sei in sehr
engen Kontakt mit drei Kindern getreten, deren Mutter durch den eigenen Vater
getötet worden sei. Bei den Anhörungen sei es um die Gefühle und Wünsche der
Kinder sowie um Überlegungen betreffend die Trauerarbeit gegangen. Helen
Leimbacher habe das Unverständnis, die Trauer und Hoffnungslosigkeit der Kinder
in sich aufgenommen. Dies genüge, um die Möglichkeit einer unbewussten
Parteilichkeit und damit einen Ausstandsgrund zu bejahen, insbesondere da die
Anklage auf Mord laute.

2.2 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch
darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und
unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Dies
soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des
Verfahrens beitragen und ein gerechtes Urteil ermöglichen (BGE 137 I 227 E. 2.1
S. 229 mit Hinweisen).
Die verfassungs- und konventionsrechtliche Garantie wird in Art. 56 StPO
konkretisiert (BGE 138 I 425 E. 4.2.1 S. 428 mit Hinweisen). Art. 56 StPO zählt
in lit. a-e einzelne Ausstandsgründe auf und schliesst in lit. f. mit der
Generalklausel, wonach eine in einer Strafbehörde tätige Person in den Ausstand
tritt, wenn sie aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder
Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte.
Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei
objektiver Betrachtung der Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der
Voreingenommenheit besteht. Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der
Rechtsprechung angenommen, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver
Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu
erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden
Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und
organisatorischer Natur begründet sein. Bei der Beurteilung solcher Umstände
ist nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen
in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in objektiver Weise begründet
erscheinen. Es müssen Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den
Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung
wird dagegen nicht verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist (BGE 137
I 227 E. 2.1 S. 229 mit Hinweisen).

2.3 Helen Leimbacher hörte die Kinder des Beschwerdeführers im Rahmen ihrer
beruflichen Tätigkeit als diplomierte Sozialpädagogin bei der Jugend- und
Familienberatung des Bezirks Brugg an. Die Vormundschaftsbehörde hatte über die
Pflegeplatzierung zu entscheiden und wollte diesbezüglich die Aussagen und
Wünsche der Kinder berücksichtigen. Sie ordnete deshalb neben einer Anhörung
der Kinder durch ihren Beistand eine weitere durch Helen Leimbacher an. Die am
8. Juni 2009 mit den drei Kindern einzeln durchgeführten Anhörungen dauerten
15, 20 und 25 Minuten. Eine zusätzliche fand mit dem jüngsten Kind am 22.
September 2011 im Rahmen einer Abklärung bezüglich einer Umplatzierung statt
und dauerte 45 Minuten. Aus den bei den Akten befindlichen Protokollen ergibt
sich, dass dabei jeweils weder die Tat noch die Beziehung zum Vater direkt
thematisiert wurde. Im Zentrum stand die Befindlichkeit der Kinder an ihrem
provisorischen Pflegeplatz und ihre Wünsche in Bezug auf eine definitive
Platzierung. Den Protokollen angefügt sind zudem Einschätzungen zur
Notwendigkeit einer psychologischen Unterstützung. Hinweise auf die Tat bzw.
den beschuldigten Vater bestehen nur am Rande. So erzählten die Kinder etwa,
"es" sei jetzt zwei Monate her, oder, sie würden sich wünschen, "das" sei nie
geschehen. Das jüngste der drei Geschwister wurde zudem auf die Besuche beim
Vater in der Strafanstalt angesprochen, worauf es abweisend reagiert und gesagt
haben soll, diese gefallen ihr nicht besonders.
Auch wenn sich Helen Leimbacher mit den Opfern der Straftat befasst hat, ging
es mithin bei den Anhörungen nicht um die Straftat selbst. Die vorliegende
Situation unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom Sachverhalt in BGE 115 Ia
172, wo der Ersatzrichter einer Kassationsinstanz als Journalist einen
Zeitungsartikel über die erstinstanzliche Verhandlung geschrieben hatte. Helen
Leimbacher hatte auch nicht die Funktion einer Betreuerin oder Beraterin oder
war sonstwie dazu berufen, die Interessen der Opfer zu vertreten (vgl. in
dieser Hinsicht die in BGE 138 I 406 zusammengefasste Rechtsprechung zur
Befangenheit nebenamtlicher Richter, welche als Anwalt in einem anderen
Verfahren eine der beiden Parteien oder deren dortige Gegenpartei vertreten).
Die Kontakte waren zudem zeitlich beschränkt.
Der blosse Umstand, dass ein Richter indirekt mit dem zu beurteilenden
Sachverhalt in Kontakt gekommen ist, reicht für sich allein nicht aus, um einen
Anschein der Befangenheit zu wecken (vgl. BGE 115 Ia 34 E. 2c/bb S. 39).
Weitere Umstände, welche einen Ausstandsgrund schaffen könnten, sind nicht
ersichtlich und werden auch nicht geltend gemacht. So wird von keiner Seite
behauptet, dass sich Helen Leimbacher je in einer Form zur Strafsache geäussert
hätte, welche deren Ausgang nicht mehr als offen erscheinen liesse (vgl. BGE
134 I 238 E. 2.4 S. 242 ff. mit Hinweisen). Schliesslich ist auch das vom
Beschwerdeführer angeführte Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) in der Sache Hanif und Kahn gegen das Vereinigte
Königreich nicht mit dem vorliegenden Fall vergleichbar. Damals hielt der EGMR
einen als Jurymitglied amtierenden Polizisten für befangen, weil dieser im
betreffenden Fall über die Glaubhaftigkeit der Aussage eines Berufskollegen
hatte entscheiden müssen (Urteil Hanif und Kahn gegen das Vereinigte Königreich
vom 20. Dezember 2011, Beschwerde-Nrn. 52999/08 und 61779/08, §§ 138 ff.,
insbesondere § 148). Eine derartige Konstellation liegt hier nicht vor.
Insgesamt ergibt sich somit, dass die Rüge des Beschwerdeführers unbegründet
ist.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen.
Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann
dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Franz Hollinger wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'000.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, und dem Bezirksgericht Brugg schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 27. März 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Aemisegger

Der Gerichtsschreiber: Dold