Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.50/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_50/2013

Urteil vom 25. Februar 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Eusebio, Chaix,
Gerichtsschreiber Mattle.

Verfahrensbeteiligte
X.________, zzt. Regionalgefängnis,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecher Mark Schibler,

gegen

Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Haftverlängerung,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 3. Januar 2013 des Obergerichts des Kantons
Bern, Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Die Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland führt gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen sexueller Handlungen mit Kindern, sexueller Nötigung
sowie Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz. X.________ befindet
sich seit dem 1. Juni 2012 in Untersuchungshaft. Eine von X.________ gegen eine
erste Verlängerung der Untersuchungshaft bis zum 30. November 2012 erhobene
Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Bern am 17. September 2012 ab. Am
8. November 2012 bewilligte die Staatsanwaltschaft ein Gesuch von X.________ um
vorzeitigen Massnahmeantritt. Am 4. Dezember 2012 verlängerte das Kantonale
Zwangsmassnahmengericht die Untersuchungshaft von X.________ bis zum 28.
Februar 2013.

B.
Eine von X.________ gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 4.
Dezember 2012 erhobene Beschwerde wies das Obergericht am 3. Januar 2013 ab.

C.
Gegen den Entscheid des Obergerichts vom 3. Januar 2013 hat X.________ am 4.
Februar 2013 Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht erhoben. Er beantragt,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und er, allenfalls unter Anordnung
geeigneter Ersatzmassnahmen, aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Die
Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Zwischenentscheid in einer
Strafsache, gegen den gemäss Art. 78 ff. i.V.m. Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG die
Beschwerde in Strafsachen offen steht. Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81
Abs. 1 BGG beschwerdebefugt, zumal er sich nach wie vor in Haft bzw. im
vorzeitigen Massnahmenvollzug befindet und deshalb ein aktuelles Interesse an
der Behandlung der Beschwerde hat. Da auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.
Der angefochtene Entscheid betrifft die Verlängerung der Untersuchungshaft bzw.
die Fortsetzung des vorzeitigen Massnahmenvollzugs und damit eine
Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 196 ff. StPO (SR 312.0). Strafprozessuale
Zwangsmassnahmen sind Verfahrenshandlungen der Strafbehörden, die in die
Grundrechte der Betroffenen eingreifen und dazu dienen, Beweise zu sichern, die
Anwesenheit von Personen im Verfahren sicherzustellen oder die Vollstreckung
des Endentscheids zu gewährleisten (Art. 196 lit. a-c StPO). Die Auslegung und
die Anwendung der im Bundesrecht geregelten Voraussetzungen für die
Grundrechtsbeschränkungen prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (Art. 95
lit. a BGG; vgl. BGE 128 II 259 E. 3.3 S. 269). Mit dem Entscheid über
strafprozessuale Zwangsmassnahmen wird über die Grundrechtsbeschränkung
definitiv entschieden. Somit stellen diese Zwangsmassnahmen keine vorsorglichen
Massnahmen im Sinne von Art. 98 BGG dar. Die nach dieser Bestimmung
vorgeschriebene Beschränkung der Rügegründe ist demnach nicht anwendbar (vgl.
Urteil 1B_277/2011 vom 28. Juni 2011 E. 1.2 mit Hinweisen).

3.
Der vorzeitige Straf- oder Massnahmeantritt (Art. 236 StPO) stellt seiner Natur
nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen
Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er soll ermöglichen, dass der
beschuldigten Person bereits vor einer rechtskräftigen Urteilsfällung
verbesserte Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Straf- oder
Massnahmenvollzugs geboten werden können (BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 277). Für
eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des vorzeitigen
Straf- oder Massnahmenvollzugs müssen weiterhin Haftgründe gegeben sein (BGE
126 I 172 E. 3a S. 174). In Anwendung von Art. 221 StPO ist vorzeitiger Straf-
oder Massnahmenvollzug wie Untersuchungs- und Sicherheitshaft zulässig, wenn
die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig
ist und ausserdem Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr vorliegt (Abs.
1) oder wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein
schweres Verbrechen auszuführen, wahr machen (Abs. 2). Das zuständige Gericht
ordnet an Stelle der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft eine oder mehrere
mildere Massnahmen an, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art.
237 Abs. 1 StPO).

4.
Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Er rügt
jedoch, die Vorinstanz habe den Haftgrund Wiederholungsgefahr zu Unrecht
bejaht.

4.1 Der besondere Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist gegeben, wenn ernsthaft
zu befürchten ist, dass die beschuldigte Person durch Verbrechen oder schwere
Vergehen (vgl. dazu BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85 f.) die Sicherheit anderer
erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt
hat (Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO). Nach der Praxis des Bundesgerichts kann die
Anordnung bzw. Fortsetzung von strafprozessualer Haft wegen Wiederholungsgefahr
dem Verfahrensziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich
der Strafprozess durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht.
Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer schwerwiegender
Delikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5
Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte an der
Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als
Haftgrund (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85 mit Hinweis).

4.2 Bei den in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO verlangten Vortaten muss es sich um
Verbrechen oder schwere Vergehen gegen gleiche oder gleichartige Rechtsgüter
gehandelt haben, wie sie im hängigen Untersuchungsverfahren massgeblich sind.
Die früher begangenen Straftaten können sich aus rechtskräftig abgeschlossenen
Strafverfahren ergeben. Sie können jedoch auch Gegenstand eines noch hängigen
Strafverfahrens bilden, in dem sich die Frage der Untersuchungs- und
Sicherheitshaft stellt, sofern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
feststeht, dass die beschuldigte Person solche Straftaten begangen hat. Der
Nachweis, dass die beschuldigte Person eine Straftat verübt hat, gilt bei einem
glaubhaften Geständnis oder einer erdrückenden Beweislage als erbracht (BGE 137
IV 84 E. 3.2 S. 86 mit Hinweisen). Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr kann
unter Umständen auch schon gegeben sein, wenn die beschuldigte Person früher
nur eine gleichartige Straftat verübt hat (Urteil 1B_133/2011 vom 12. April
2011 E. 4.7). Bei akut drohenden Schwerverbrechen kann nach der Praxis des
Bundesgerichtes unter bestimmten Voraussetzungen sogar ausnahmsweise auf das
Vortatenerfordernis ganz verzichtet werden (vgl. BGE 137 IV 13 E. 3 f. S. 18
ff.).
4.2.1 In tatsächlicher Hinsicht hat die Vorinstanz festgehalten, dass der
Beschwerdeführer vorbestraft ist, unter anderem wegen verbotener Pornografie
(Art. 197 StGB), welche sich auf Knaben unter 16 Jahren bezog. Der
Beschwerdeführer wurde ausserdem im Jahr 1996 wegen mehrfacher sexueller
Handlungen mit einem Kind verurteilt, wobei das entsprechende Urteil nach der
gesetzlich vorgesehenen Frist aus dem Strafregister entfernt worden ist. In der
laufenden Strafuntersuchung werden dem Beschwerdeführer sexuelle Handlungen mit
Knaben unter 16 Jahren vorgeworfen. In zwei Bestandteil der laufenden
Strafuntersuchung bildenden Fällen ist unbestritten, dass der objektive
Tatbestand der sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 StGB) erfüllt
ist. In einem dieser beiden Fälle stellt sich der Beschwerdeführer sinngemäss
auf den Standpunkt, es stehe nicht mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit fest, dass er verurteilt werde, weil er Gründe für die
Annahme gehabt habe, dass das Kind über 16 Jahre alt gewesen sei. Dagegen
anerkennt er im anderen der beiden Fälle, dass von einer Verurteilung
ausgegangen werden müsse.
4.2.2 In einem Gegenstand der laufenden Strafuntersuchung bildenden Fall ist
somit unbestritten, dass sich der Beschwerdeführer der sexuellen Handlungen mit
einem Kind strafbar gemacht hat. In demjenigen Fall, in dem der
Beschwerdeführer vorbringt, er habe Gründe für die Annahme gehabt, dass das
Kind über 16 Jahre alt gewesen sei, steht sodann mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit fest, dass der Beschwerdeführer zumindest nach Art. 187
Ziff. 4 StGB zu verurteilen sein wird, wonach sich auch strafbar macht, wer in
der irrigen Vorstellung gehandelt hat, das Kind sei mindestens 16 Jahre alt,
wenn er bei pflichtgemässer Vorsicht den Irrtum hätte vermeiden können (vgl.
dazu Urteil 6B_256/2010 vom 3. Juni 2010 E. 2). Bei den genannten Taten handelt
es sich wie bei den im Falle einer Haftentlassung zu befürchtenden Delikten um
schwere Straftaten gegen die sexuelle Integrität. Unter diesen Umständen ist
das für die Annahme von Wiederholungsgefahr im Sinne der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung zu Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO vorausgesetzte
Vortatenerfordernis erfüllt, auch wenn man - wie dies die Vorinstanz getan hat
- die Verurteilung des Beschwerdeführers im Jahr 1996 wegen mehrfacher
sexueller Handlungen mit einem Kind und die Vorstrafe wegen Pornografie ausser
Acht lässt.

4.3 Die Begehung der in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO genannten Delikte muss
ernsthaft zu befürchten sein. Erforderlich ist eine sehr ungünstige
Rückfallprognose. Dabei sind insbesondere die Häufigkeit und Intensität der
untersuchten Delikte sowie die einschlägigen Vorstrafen zu berücksichtigen (BGE
137 IV 84 E. 3.2 S. 86). Bei Sexualdelikten sind - wie bei schweren
Gewaltdelikten - aus Gründen des Opferschutzes keine allzu hohen Anforderungen
an die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu stellen (Urteil 1B_384/2010 vom 9.
Dezember 2010 E. 4.4 mit Hinweisen).
4.3.1 Die Vorinstanz bejahte eine sehr ungünstige Rückfallprognose und stützte
sich dabei unter anderem auf ein psychiatrisches Gutachten vom 12. September
2012, welches dem Beschwerdeführer eine Störung der Sexualpräferenz bezogen auf
pubertierende Knaben und mindestens akzentuierte narzisstische sowie dissoziale
Persönlichkeitszüge attestiert. Unter anderem aus dem Verhalten des
Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der Verurteilung wegen mehrfacher
sexueller Handlungen mit einem Kind im Jahre 1996 sowie der Vorstrafe wegen
Pornografie bezogen auf Knaben unter 16 Jahren schloss die Gutachterin auf ein
stabiles sexuelles Interesse des Beschwerdeführers für pubertierende Jungen. In
der Gesamtschau der einzelnen Risikofaktoren stufte sie die Wahrscheinlichkeit
zukünftiger Sexualdelikte als hoch ein.
Der Beschwerdeführer bestreitet sinngemäss das Vorliegen einer Störung der
Sexualpräferenz bezogen auf pubertierende Knaben. Für die Bejahung der stabilen
Neigung für pubertierende Jungen im Gutachten sei gemäss Gutachterin sein
Verhalten im Zusammenhang mit der Verurteilung im Jahre 1996 hoch relevant. Im
Gegensatz zur Gutachterin im medizinischen Gutachten dürften sich die
Strafbehörden für die gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO vorzunehmende
Legalprognose indessen nicht auf aus dem Strafregister entfernte Straftaten und
damit auf die Umstände, die zu seiner Verurteilung im Jahr 1996 geführt haben,
stützen.
4.3.2 Auch wenn man die Umstände, die zur Verurteilung des Beschwerdeführers
wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem Kind im Jahr 1996 geführt
haben, unberücksichtigt lässt, erweist sich die Rückfallprognose für ihn unter
den gegebenen Umständen als sehr ungünstig, sodass ernsthaft zu befürchten ist,
dass er im Falle einer Haftentlassung erneut schwere, die Sicherheit anderer
erheblich gefährdende Straftaten im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO
begehen würde. Dies zumal der Beschwerdeführer sich trotz einschlägiger
Vorstrafe wegen Pornografie, welche sich auf Knaben unter 16 Jahren bezog,
nicht von sexuellen Handlungen mit Kindern abhalten liess und sich auch die
psychiatrische Gutachterin bei der Beurteilung der Rückfallgefahr nicht nur auf
die Umstände stützte, die zur Verurteilung im Jahr 1996 geführt haben.
Unabhängig von der Verurteilung im Jahr 1996 muss deshalb davon ausgegangen
werden, dass der Beschwerdeführer ein sexuelles Interesse an Knaben hat, die
noch nicht 16 Jahre alt sind. Der Einwand des Beschwerdeführers, er sei nicht
pädophil, da er keine sexuelle Präferenz für Kinder habe, die sich in der
Vorpubertät (bis ca. 11 Jahre) oder in einem frühen Stadium der Pubertät
(zwischen ca. 10 und 13 Jahren) befänden, vermag an der sehr ungünstigen
Rückfallprognose nichts zu ändern, zumal der Straftatbestand sexueller
Handlungen mit Kindern Kinder bis zu einem Alter von 16 Jahren einschliesst.

4.4 Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass sich die Wiederholungsgefahr nicht
durch mildere Massnahmen als die Fortsetzung der Haft abwenden lasse.
Insbesondere erachtete sie eine Auflage, sich einer ärztlichen Behandlung oder
Kontrolle zu unterziehen, als nicht ausreichend, um der Gefahr weiterer
Straftaten zu begegnen. Diese Einschätzung der Vorinstanz ist nicht zu
beanstanden. Inwiefern der Beschwerdeführer in geeigneter Weise mit einer
milderen Massnahme als mit der Fortsetzung der Untersuchungshaft von weiterem
Delinquieren abgehalten werden könnte, ist weder dargetan noch ersichtlich.

5.
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens wird der Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (vgl. Art.
66 Abs. 1 BGG). Er ersucht indes um unentgeltliche Rechtspflege. Da die
Voraussetzungen von Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG erfüllt sind, kann dem Gesuch
entsprochen werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Fürsprecher Mark Schibler wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern,
Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Februar 2013

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Mattle