Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.345/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_345/2013

Urteil vom 28. Oktober 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Chaix,
Gerichtsschreiber Mattle.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic,

gegen

Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau, Seetalplatz, Bahnhofstrasse 4, 5600 Lenzburg
2,
Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau, Metzgplatz, 5600 Lenzburg.

Gegenstand
Verlängerung der Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 30. September 2013 des Obergerichts des
Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau (bis zum 3. September 2013 die
Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten) führt gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen mehrfacher Drohung sowie Widerhandlungen gegen das
Waffengesetz. Am 3. Juni 2013 ordnete das Zwangsmassnahmengericht des Kantons
Aargau an, X.________ sei wegen Ausführungsgefahr in Haft zu nehmen. Mit
Verfügung vom 26. August 2013 verlängerte das Zwangsmassnahmengericht die Haft
bis zum 26. November 2013. Eine von X.________ gegen die Haftverlängerung
erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau am 30. September
2013 ab. Gegen den Entscheid des Obergerichts vom 30. September 2013 hat
X.________ am 2. Oktober 2013 Beschwerde ans Bundesgericht erhoben. Er
beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und er aus der
Untersuchungshaft zu entlassen, eventualiter unter Androhung von geeigneten
Ersatzmassnahmen. Das Zwangsmassnahmengericht und die Vorinstanz haben auf eine
Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der
Beschwerde.

Erwägungen:

1. 
Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Zwischenentscheid in einer
Strafsache, gegen den nach Art. 78 ff. BGG die Beschwerde in Strafsachen offen
steht, zumal die Fortführung der Untersuchungshaft einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann.
Da die Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde
einzutreten.

2. 
Der Beschwerdeführer hat am 8. Oktober 2013 Akten eingereicht, die der
Vorinstanz im Zeitpunkt ihres Entscheids nicht zur Verfügung standen. Bei
diesen Akten handelt es sich um neue Beweismittel, zu denen nicht erst der
Entscheid der Vorinstanz Anlass gegeben hat. Nach Art. 99 Abs. 1 BGG kann das
Bundesgericht diese Akten für seinen Entscheid nicht berücksichtigen.

3. 
Der angefochtene Entscheid betrifft Zwangsmassnahmen im Sinne von Art. 196 ff.
StPO (SR 312.0). Die Auslegung und die Anwendung der in der StPO geregelten
Voraussetzungen für Grundrechtsbeschränkungen prüft das Bundesgericht mit
freier Kognition (Art. 95 lit. a BGG). Die nach Art. 98 BGG vorgeschriebene
Beschränkung der Rügegründe und das über die Begründungspflicht nach Art. 42
Abs. 2 BGG hinausgehende Rügeprinzip im Sinne von Art. 106 Abs. 2 BGG sind auf
strafprozessuale Zwangsmassnahmen nicht anwendbar (Urteil 1B_277/2011 vom 28.
Juni 2011 E. 1.2 mit Hinweisen).

4. 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 221 Abs. 2 StPO, wonach Haft
wegen Ausführungsgefahr zulässig ist, wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine
Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahr machen
(Art. 221 Abs. 2 StPO). Er bestreitet nicht, damit gedroht zu haben, schwere
Verbrechen auszuführen. Er macht aber geltend, die Drohungen seien in
unmittelbarem Zusammenhang mit der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses
gestanden und zeitnah dazu erfolgt. Sie seien im Affekt geschehen. Inzwischen
habe er sich mit der Kündigung abgefunden. Er bedauere die ausgesprochenen
Drohungen. Er habe sie ausserdem nie ernst gemeint. Einer allfälligen Gefahr
könne im Übrigen auch mit einer Ersatzmassnahme im Sinne von Art. 237 StPO in
Form eines Rayon- und Kontaktverbots begegnet werden.

4.1. Die Haft wegen Ausführungsgefahr als freiheitsentziehende Zwangsmassnahme
muss verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 3 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 BV). Die rein
hypothetische Möglichkeit der Verübung von Delikten sowie die
Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen
nicht aus, um Haft wegen Ausführungsgefahr zu begründen. Bei der Annahme, dass
eine Person ein schweres Verbrechen begehen könnte, ist Zurückhaltung geboten.
Erforderlich ist eine sehr ungünstige Prognose. Nicht Voraussetzung ist
hingegen, dass die verdächtige Person bereits konkrete Anstalten getroffen hat,
um die befürchtete Tat zu vollenden. Vielmehr genügt es, wenn die
Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer Gesamtbewertung der
persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint. Besonders
bei drohenden schweren Gewaltverbrechen ist dabei auch dem psychischen Zustand
der verdächtigen Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität
Rechnung zu tragen (BGE 137 IV 122 E. 5.2 S. 129 f. mit Hinweisen). Je schwerer
die angedrohte Straftat ist, desto eher rechtfertigt sich eine Inhaftierung,
wenn die vorhandenen Fakten keine genaue Risikoeinschätzung erlauben ( MARKUS
HUG, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung, 2010, N. 44 zu Art. 221).

4.2. In tatsächlicher Hinsicht hat die Vorinstanz festgestellt, der
Beschwerdeführer habe nach der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses mehreren
Personen gegenüber mit dem Tod bzw. mit einem Amoklauf gedroht. Anlässlich
einer Hausdurchsuchung hätten bei ihm diverse Waffen (Pistolen inklusive
Munition, Schrotflinte, Schmetterlingsmesser und andere Stichwaffen)
sichergestellt werden können. Am 3. Juni 2013 sei es im Bezirksgefängnis zu
einem Vorfall gekommen, welcher die vorübergehende Verlegung des
Beschwerdeführers in eine psychiatrische Klinik zur Folge gehabt habe. Den
Akten ist zu entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft bei den Psychiatrischen
Diensten Aargau ein Kurzgutachten in Auftrag gegeben hat, welches sich unter
anderem zur Ausführungsgefahr äussern soll. Die Vorinstanz rechnete im
angefochtenen Entscheid damit, dass es bis Mitte Oktober vorliegen werde.

4.3. Dass der Beschwerdeführer während der Haft erneut Drohungen ausgesprochen
oder sonst klar zu erkennen gegeben hätte, er wolle an der Ausführung der
angedrohten schweren Verbrechen festhalten, ist zwar nicht aktenkundig. Dafür,
dass er die angedrohten Taten (auch noch im heutigen Zeitpunkt) wahr machen
könnte, spricht aber, dass er mehrmals, gegenüber verschiedenen Personen und
konkret gedroht hat, dass bei ihm diverse Waffen sichergestellt wurden und dass
er psychisch nicht stabil zu sein scheint. Sobald das psychiatrische Gutachten
vorliegt, werden die zuständigen Behörden dieses für die Überprüfung der
Ausführungsgefahr beizuziehen haben (vgl. Urteile 1B_41/2013 vom 27. Februar
2013 E. 3.2 sowie 1B_705/2012 vom 10. Dezember 2012 E. 2.11). Bis dahin ist
eine genaue Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer die
angedrohten schweren Verbrechen wahr machen könnte, zwar schwierig. Unter
Berücksichtigung sämtlicher Umstände ist aber nicht zu beanstanden, dass die
Vorinstanz einstweilen eine sehr ungünstige Kriminalprognose gestellt hat.
Angesichts der besonderen Schwere der angedrohten Verbrechen widerspricht die
Fortsetzung der Haft wegen Ausführungsgefahr vorderhand Art. 221 Abs. 2 StPO
nicht.

4.4. Nach Art. 237 Abs. 1 StPO ordnet das zuständige Gericht an Stelle der
Untersuchungshaft eine oder mehrere mildere Massnahmen an, wenn sie den
gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (vgl. auch Art. 212 Abs. 2 lit. c StPO).
Dass ein Rayon- und Kontaktverbot (Art. 237 Abs. 2 lit. c und g StPO) geeignet
wären, die Ausführungsgefahr auszuschliessen bzw. erheblich zu verringern, ist
nicht ersichtlich. Auch sonst ist nicht zu erkennen, inwiefern der
Beschwerdeführer in geeigneter Weise mit einer milderen Massnahme als mit der
Fortsetzung der Haft davon abgehalten werden könnte, die ausgesprochenen
Drohungen wahr zu machen.

5. 
Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht die
Gefahr der Überhaft verneint und damit Art. 212 Abs. 3 StPO verletzt.

5.1. Untersuchungs- und Sicherheitshaft dürfen nicht länger dauern als die zu
erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 3 StPO). Die Einhaltung des Verbots
der Überhaft ist aufgrund der konkreten Verhältnisse des Einzelfalls zu prüfen.
Die Haftdauer darf nicht in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe
rücken, um diese nicht zu präjudizieren (BGE 133 I 168 E. 4.1 S. 170 f.; 132 I
21 E. 4.1 S. 27 f.; je mit Hinweisen). Neben der zu erwartenden Freiheitsstrafe
ist auch die Möglichkeit einer freiheitsentziehenden Massnahme zu
berücksichtigen (Urteile 1B_585/2012 vom 30. Oktober 2012 E. 2.4 sowie 1B_524/
2011 vom 13. Oktober 2011 E. 3.1).

5.2. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, Art. 212 Abs. 3 StPO sei auch auf
Haft wegen Ausführungsgefahr nach Art. 221 Abs. 2 StPO anwendbar. Geht man
allerdings davon aus, Haft wegen Ausführungsgefahr setze nicht zwingend ein
laufendes Strafverfahren voraus (so NIKLAUS SCHMID, Schweizerische
Strafprozessordnung Praxiskommentar, 2. Auflage, 2013, N. 14 zu Art. 221,
MARKUS HUG, a.a.O., N. 41 zu Art. 221 sowie PIQUEREZ/MACALUSO, Procédure pénale
suisse, 3ème éd. 2011, n. 1206), ist die mutmasslich zu erwartende
Freiheitsstrafe jedenfalls dann kein geeignetes Kriterium zur Begrenzung der
Haftdauer, wenn Haft wegen Ausführungsgefahr angeordnet wird, ohne dass
gleichzeitig ein Strafverfahren läuft. Nach der Auffassung von MARKUS HUG lässt
sich aus dem Verbot der Überhaft die Höchstdauer für Haft wegen
Ausführungsgefahr wohl immerhin dann ableiten, wenn gegen die verhaftete Person
wegen der Drohung ein Strafverfahren läuft (a.a.O., N. 45 zu Art. 221; offen
gelassen in Urteil 1B_585/2012 vom 30. Oktober 2012 E. 2.4).
Ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Art. 212 Abs. 3 StPO die Dauer der Haft
wegen Ausführungsgefahr begrenzt, wenn wegen der ausgesprochenen Drohung gegen
die verhaftete Person - wie im hier zu beurteilenden Fall gegen den
Beschwerdeführer -ein Strafverfahren läuft, kann vorliegend offen bleiben, weil
Überhaft im Sinne dieser Bestimmung angesichts der aktuellen Dauer der
Untersuchungshaft ohnehin zu verneinen wäre. Aufgrund der besonderen Schwere
der Drohungen, welche der Beschwerdeführer unbestrittenerweise gegenüber
verschiedenen Personen ausgesprochen hat, ist für ihn nämlich eine längere
Freiheitsstrafe oder unter Umständen eine längere stationäre therapeutische
Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB zu erwarten. Dies zumal das Strafmass wegen
schwerer Drohung bis zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren reicht (Art. 180
Abs. 1 StGB).

6. 
Der Beschwerdeführer rügt schliesslich eine Verletzung des
Beschleunigungsgebots. Seit dem 15. Juli 2013 seien keine
Untersuchungshandlungen mehr durchgeführt worden. Auch sei das in Auftrag
gegebene Gutachten noch nicht erstellt worden.
Die Strafbehörden nehmen die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und
bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss (Art. 5 Abs. 1 StPO).
Befindet sich eine beschuldigte Person in Haft, so wird ihr Verfahren
vordringlich durchgeführt (Art. 5 Abs. 2 StPO; vgl. auch Art. 31 Abs. 4 BV).
Die Gesamtdauer des laufenden Strafverfahrens erscheint im heutigen Zeitpunkt
nicht übermässig lang. Man kann sich aber fragen, ob die Strafbehörden den die
Beurteilung der Ausführungsgefahr beeinflussenden psychischen Zustand des
Beschwerdeführers mit der gebotenen Raschheit abgeklärt haben. Die Entscheide
des Zwangsmassnahmengerichts bzw. der Vorinstanz, die Haft des
Beschwerdeführers sei bis zum 26. November 2013 zu verlängern, ergingen mehr
als zweieinhalb bzw. dreieinhalb Monate nach der Anordnung der
Untersuchungshaft. Dass das psychiatrische Gutachten im Zeitpunkt dieser
Entscheide noch nicht vorlag, ist unter den gegebenen Umständen mit dem
Beschleunigungsgebot in Haftsachen zwar gerade noch vereinbar. Falls aber das
Gutachten in der Zwischenzeit immer noch nicht erstellt werden konnte, drängt
es sich auf, dass die kantonalen Behörden beim beauftragten Sachverständigen
einen Zwischenbericht bzw. eine Vorabstellungnahme zur Frage der
Ausführungsgefahr unverzüglich anfordern (vgl. Urteile 1B_41/2013 vom 27.
Februar 2013 E. 3.2 sowie 1B_705/2012 vom 10. Dezember 2012 E. 2.11 mit
Hinweisen).

7. 
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde abzuweisen. Mit der Abweisung der
Beschwerde wird der Antrag des Beschwerdeführers, er sei superprovisorisch aus
der Haft zu entlassen, gegenstandslos. Das Gesuch des Beschwerdeführers um
unentgeltliche Rechtspflege inklusive Verbeiständung ist gutzuheissen (vgl.
Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

2.1. Es werden keine Kosten erhoben.

2.2. Rechtsanwalt Kenad Melunovic wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung
von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau,
dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. Oktober 2013

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Mattle

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