Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.30/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_30/2013

Urteil vom 3. April 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied, Bundesrichter Karlen,
Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Remo Gilomen,

gegen

Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland, Hodlerstrasse 7, 3011 Bern,
Jugendanwaltschaft, Dienststelle Bern-Mittelland, Amthaus, Hodlerstrasse 7,
3011 Bern.

Gegenstand
innerkantonale Zuständigkeit über Verfahrensleitung,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 7. Januar 2013 der Generalstaatsanwaltschaft
des Kantons Bern.

Sachverhalt:

A.
Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Bern führen gegen den Algerier
X.________ eine Strafuntersuchung wegen Körperverletzung, evtl. versuchter
vorsätzlicher Tötung. Sie verdächtigen ihn, am 4. Dezember 2012 an der
Genfergasse in Bern den Libyer Y.________ mit einem Sackmesser verletzt zu
haben. Aufgrund des N-Ausweises von X.________ gingen sie davon aus, dass er
volljährig sei, weshalb die Untersuchung zunächst von der für erwachsene
Beschuldigte zuständigen regionalen Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland geführt
wurde.
An der staatsanwaltschaftlichen Einvernahme vom 5. Dezember 2012 behauptete
X.________, am 15. Dezember 1994 geboren worden und damit noch minderjährig zu
sein. Das Verfahren wurde daraufhin der Jugendanwaltschaft, Dienststelle
Bern-Mittelland, überwiesen. Das Gutachten zur Altersschätzung des Instituts
für Rechtsmedizin der Universität Zürich (IRMZ) vom 18. Dezember 2012 kam zum
Schluss, es sei zwar nicht gänzlich auszuschliessen, dass X.________ im
Zeitpunkt der Tat 17 Jahre und 11 Monate alt gewesen sei; mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit sei er aber über 18 Jahre alt gewesen.
Mit Verfügung vom 21. Dezember 2012 übernahm die regionale Staatsanwaltschaft
Bern-Mittelland das Verfahren erneut.
Mit Beschwerde an die Generalstaatsanwaltschaft beantragte X.________, diese
Verfügung aufzuheben und die Jugendanwaltschaft, Dienststelle Bern-Mittelland,
zu verpflichten, das Verfahren gegen ihn zu führen.
Der stellvertretende Generalstaatsanwalt wies die Beschwerde am 7. Januar 2013
ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Entscheid der
Generalstaatsanwaltschaft aufzuheben und die Jugendanwaltschaft zu
verpflichten, das Verfahren zu übernehmen. Ausserdem ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege.
Die Staatsanwaltschaft und die Jugendanwaltschaft verzichten auf
Vernehmlassung. Letztere wies im Zusammenhang mit der örtlichen Zuständigkeit
lediglich daraufhin, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt von X.________ im
Sinn von Art. 10 Abs. 1 der Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung in
A.________/FR (Centre B.________) befinde. Der stellvertretende
Generalstaatsanwalt beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei.
X.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1.
Mit dem angefochtenen Entscheid hat die Generalstaatsanwaltschaft im Sinn von
Art. 40 Abs. 1 StPO kantonal letztinstanzlich entschieden, dass für das
Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer die Staatsanwaltschaft
Bern-Mittelland, nicht die Jugendstaatsanwaltschaft zuständig ist. Dagegen ist
die Beschwerde in Strafsachen zulässig, und der Beschwerdeführer ist befugt,
sie zu erheben (BGE 138 IV 214 E. 1). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.
2.1 Die Generalstaatsanwaltschaft hat erwogen, die Angaben des
Beschwerdeführers zu seinem Alter seien widersprüchlich und unglaubhaft,
weshalb darauf nicht abgestellt werden könne. Gestützt auf das Gutachten des
IRMZ sei zurzeit davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt
volljährig gewesen. Darauf sei - unter Vorbehalt neuer Erkenntnisse - für die
Bestimmung des innerkantonalen Gerichtsstands abzustellen.

2.2 Der Beschwerdeführer rügt, die Generalstaatsanwaltschaft habe den Grundsatz
"in dubio pro reo" verletzt, weil sie trotz vorhandenen Zweifeln bei der
Altersbestimmung nicht von der für ihn günstigsten Annahme ausgegangen sei,
nämlich dass er zum Zeitpunkt der Tat noch nicht 18 Jahre alt gewesen sei.
Nach der aus Art. 32 Abs. 1 BV fliessenden und in Art. 6 Ziff. 2 EMRK
verankerten Maxime "in dubio pro reo" ist bis zum gesetzlichen Nachweis seiner
Schuld zu vermuten, dass der einer strafbaren Handlung Beschuldigte unschuldig
ist. Der Grundsatz "in dubio pro reo" bezieht sich als Beweiswürdigungs- und
Beweislastregel allein auf die Beurteilung der Schuldfrage durch den
Strafrichter (BGE 128 I 81 E. 2; 124 IV 86 E. 2a; 120 Ia 31 E. 2b, c). Für
Streitfragen, die das Verfahren betreffen, lässt sich daraus nichts ableiten
(Urteil des Bundesgerichts 1P.109/2000 vom 26. April 2000 E. 1d).
Vorliegend ist einzig umstritten, ob das Verfahren gegen den Beschwerdeführer
nach den Bestimmungen der für Erwachsene geltenden Schweizerischen
Strafprozessordnung (vom 5. Oktober 2007; SR 312.0; StPO) oder der für
Jugendliche geltenden Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung (vom 20. März
2000; SR 312.1; JStPO) und damit von der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland
oder der Jugendanwaltschaft, Dienststelle Bern-Mittelland, zu führen ist. Für
die Beurteilung dieser rein verfahrensrechtlichen Streitfrage ist der Grundsatz
"in dubio pro reo" nicht anwendbar. Die Rüge, die Generalstaatsanwaltschaft
habe ihn verletzt, ist damit unbegründet.

2.3 Der Beschwerdeführer wirft der Generalstaatsanwaltschaft eine
offensichtlich unrichtige Tatsachenfeststellung im Sinn von Art. 97 Abs. 1 BGG
vor. Davon kann indessen keine Rede sein. Der Beschwerdeführer hat gegenüber
den Einwanderungs- und Strafverfolgungsbehörden sowie den Gutachtern des IRMZ
bereits verschiedenste Geburtsdaten genannt und erklärt die Widersprüche wenig
überzeugend mit angeblich unzureichenden Kenntnissen im Schreiben und Rechnen
sowie Verständigungsschwierigkeiten mit den jeweiligen Dolmetschern. Auch das
Gutachten zur Altersschätzung des IRMZ kommt nicht zu einem eindeutigen
Ergebnis; danach ist zwar nicht gänzlich auszuschliessen, dass der
Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Tat knapp nicht volljährig war. Die Gutachter
halten aber dafür, dass die Gesamtschau der Befunde eher auf ein Alter von 19
Jahren hinweist. Es ist unter diesen Umständen keineswegs willkürlich, für die
Bestimmung der zuständigen Strafverfolgungsbehörde vorläufig - bis zum
allfälligen Eintritt neuer Erkenntnisse - davon auszugehen, dass der
Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Tat volljährig war.
Eine ganz andere, materiellrechtliche und unter Beachtung der Maxime "in dubio
pro reo" zu beurteilende Frage ist, ob die Beweislage auch ausreichen würde,
den Beschuldigten nach den Bestimmungen des für Erwachsene geltenden
Strafrechts zu beurteilen oder nicht. Dieser dem Strafrichter vorbehaltene
Entscheid wird durch das vorliegende Verfahren in keiner Weise präjudiziert.

3.
Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da seine Bedürftigkeit
ausgewiesen scheint und die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Remo Gilomen wird für das bundesgerichtliche Verfahren als
amtlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 2'000.-- aus der
Bundesgerichtskasse entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft
Bern-Mittelland, der Jugendanwaltschaft, Dienststelle Bern-Mittelland, und der
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. April 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Aemisegger

Der Gerichtsschreiber: Störi