Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.297/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_297/2013

Urteil vom 11. Oktober 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Chaix,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Adriano Marti,

gegen

Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Oberrichter P. Marti,
Oberrichterin C. von Moos, Ersatzoberrichter E. Leuenberger,
Gerichtsschreiberin Dr. M. Michael, Hirschengraben 13/15, Postfach 2401, 8021
Zürich,
Beschwerdegegner,

Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich.

Gegenstand
Ausstandsbegehren,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 21. Juni 2013 des Obergerichts des Kantons
Zürich, II. Strafkammer.

Sachverhalt:

A. 
Am 16. Mai 2013 fand vor dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer,
die Berufungsverhandlung im Verfahren gegen X.________ betreffend mehrfache
Nötigung zum Nachteil der Privatkläger Y.________ statt. Im Anschluss an die
Befragung der Beschuldigten stellte ihr Verteidiger die Anträge, es sei eine
Konfrontationseinvernahme mit den Privatklägern durchzuführen und ein neues
Gutachten einzuholen; eventualiter sei das bestehende Gutachten zu ergänzen
bzw. ein Privatgutachten zuzulassen. Das Gericht wies die Beweisanträge ab. Zur
Begründung führte es aus, die Durchführung einer neuen
Konfrontationseinvernahme erübrige sich, da eine solche bereits stattgefunden
habe und die Aussagen verwertbar seien. Weiterungen in Bezug auf das Gutachten
seien ebenfalls nicht erforderlich, da bereits ein Ergänzungsgutachten
vorliege. Die Beschuldigte stellte daraufhin gegen die Richter (Oberrichter
Marti, Oberrichterin von Moos, Ersatzoberrichter Leuenberger) und die
Gerichtsschreiberin (Dr. Michael) ein Ausstandsbegehren. Sie machte geltend,
die genannten Personen erschienen befangen, da sie nicht gewillt seien, die
Fehler und Versäumnisse der Staatsanwaltschaft und des Bezirksgerichts
einzugestehen und die zeitlichen und finanziellen Konsequenzen zu tragen.

 Das Ausstandsgesuch wurde in der Folge zur Beurteilung an die II. Strafkammer
des Obergerichts überwiesen. Diese wies das Gesuch mit Beschluss vom 21. Juni
2013 ab (Ziff. 1 des Dispositivs), auferlegte der Beschuldigten jedoch keine
Verfahrenskosten (Ziff. 2 und 3 des Dispositivs).

B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 3. September 2013 beantragt
X.________, Ziff. 1 des Beschlusses der II. Strafkammer des Obergerichts sei
aufzuheben und das Ausstandsgesuch gutzuheissen.

 Die I. Strafkammer des Obergerichts hat sich vernehmen lassen, ohne einen
förmlichen Antrag zu stellen. Die II. Strafkammer und die Staatsanwaltschaft
haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Beschwerdeführerin hält in ihrer
Replik an ihrem Standpunkt fest.

Erwägungen:

1. 
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen selbständig eröffneten
Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren in einer Strafsache (Art. 78 Abs.
1 und Art. 92 Abs. 1 BGG). Die II. Strafkammer des Obergerichts hat als letzte
und einzige kantonale Instanz entschieden (Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1
StPO). Die Beschwerdeführerin ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff.
1 BGG zur Beschwerde befugt. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu
keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

2.1. Die Beschwerdeführerin bringt vor, die beiden Privatkläger seien am 13.
Februar 2012 von der Staatsanwaltschaft einvernommen worden. Die
Staatsanwaltschaft habe es aber unterlassen, diese mit ihrer Darstellung des
Sachverhalts zu konfrontieren. Das wäre aber notwendig gewesen, zumal sie
selbst die Vorwürfe von Anfang an glaubwürdig und konsequent von sich gewiesen
habe. Auch im Gerichtsverfahren sei die Konfrontation nicht nachgeholt worden.
Die Abweisung ihres Beweisantrags verletze unter diesen Umständen Art. 9 BV und
Art. 389 StPO. Auch der Antrag auf ein weiteres Gutachten hätte gutgeheissen
werden müssen. Das bestehende Gutachten sei zu einem Zeitpunkt erstellt worden,
als noch kein konkretisierter Tatvorwurf vorlag. Indem der Gutachter unter
diesen Umständen und mit minimaler Begründung zum Schluss gekommen sei, sie
leide an einer schweren paranoiden Schizophrenie, habe er gegen grundlegende
ärztliche Sorgfaltspflichten verstossen. Der verantwortliche Oberarzt der
Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, der einen umfassenden Einblick in ihr
Leben und Verhalten gewinnen konnte, habe in seinem Verlaufsbericht vom 26.
April 2013 denn auch festgehalten, dass sich in seiner Klinik zu keinem
Zeitpunkt die typischen Symptome einer paranoiden Schizophrenie gezeigt hätten.
Auch insofern sei die Beweisgrundlage somit unvollständig.

 Die Beschwerdeführerin macht weiter eine Verletzung der Begründungspflicht
geltend. Die Vorinstanz sei nicht auf ihre Argumente eingegangen, sondern habe
pauschal auf die Verwertbarkeit der Einvernahme vom 13. Februar 2012 bzw. auf
den Umstand verwiesen, es liege bereits eine Fülle aktueller medizinischer
Unterlagen vor.

2.2. Art. 56 StPO zählt verschiedene Gründe auf, die zum Ausstand von in einer
Strafbehörde tätigen Personen führen. Nach Art. 56 lit. f StPO trifft dies
namentlich aus anderen (als den in lit. a-e der gleichen Bestimmung genannten)
Gründen zu, insbesondere wenn die in der Strafverfolgung tätige Person wegen
Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand
befangen sein könnte. Art. 56 StPO konkretisiert die Verfassungsbestimmung von
Art. 30 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Danach hat jede Person Anspruch
darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und
unbefangenen Richter unter Einschluss weiterer am Entscheid wesentlich
beteiligter Gerichtspersonen (insbesondere Gerichtsschreibern) ohne Einwirken
sachfremder Umstände entschieden wird. Die Garantie des verfassungsmässigen
Richters soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen
Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil
ermöglichen. Sie wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten
vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der
Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Solche Umstände können entweder in
einem bestimmten Verhalten der betreffenden Gerichtsperson oder in gewissen
äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein
(BGE 137 I 227 E. 2.1 S. 229 mit Hinweisen). Bei der Anwendung von Art. 56 lit.
f StPO ist entscheidendes Kriterium, ob bei objektiver Betrachtungsweise der
Ausgang des Verfahrens noch als offen erscheint (Urteil 1B_11/2013 vom 11. März
2013 E. 2 mit Hinweis). Wird der Ausstandsgrund aus materiellen oder
prozessualen Rechtsfehlern abgeleitet, so sind diese nur wesentlich, wenn sie
besonders krass sind und wiederholt auftreten, sodass sie einer schweren
Amtspflichtverletzung gleichkommen und sich einseitig zulasten einer der
Prozessparteien auswirken; andernfalls begründen sie objektiv keinen Anschein
der Befangenheit (Urteil 1B_11/2013 vom 11. März 2013 E. 2; BGE 115 Ia 400 E.
3b S. 404; je mit Hinweisen).

2.3. Die Vorinstanz hat dargelegt, es gebe keine Anzeichen der Befangenheit. Es
könne keine Rede davon sein, dass Beweisanträge offensichtlich zu Unrecht
abgewiesen worden seien. Einerseits seien die beiden Privatkläger in der
Untersuchung in Anwesenheit der Beschuldigten und ihrer damaligen Anwältin
formell als Auskunftspersonen befragt worden, wobei die Beschuldigte jeweils
Gelegenheit gehabt habe, Ergänzungsfragen zu stellen. Andererseits lägen ein
28-seitiges psychiatrisches Gutachten vom 20. Februar 2012, zwei
Verlaufsberichte der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen vom 14. Juni 2012 und
vom 26. April 2013 sowie eine aktuelle Einschätzung des Gutachters vom 16. Mai
2013 bei den Akten. Damit bestehe eine ganze Fülle aktueller medizinischer
Unterlagen, wobei insbesondere aufgrund der jüngsten Ausführungen des
Gutachters das Einholen weiterer Berichte bzw. Gutachten nicht angezeigt
erscheine.

2.4. Nach dem Gesagten geht es im vorliegenden Verfahren nicht darum, die
Zweckmässigkeit richterlicher Beweismassnahmen zu prüfen. Mögliche Verletzungen
der Strafprozessordnung sind nur insoweit von Bedeutung, als sie besonders
krass sind und wiederholt auftreten, sodass sie einer schweren
Amtspflichtverletzung gleichkommen und sich einseitig zulasten einer der
Prozessparteien auswirken. Dies ist im vorliegenden Fall zu verneinen. Nach den
Ausführungen der Vorinstanz hatte die Beschwerdeführerin Gelegenheit, an die
Privatkläger Ergänzungsfragen zu stellen und konnte mithin direkt auf
allfällige Unstimmigkeiten aufmerksam machen. Sie selbst weist zudem darauf
hin, dass sie anlässlich der Berufungsverhandlung vom 16. Mai 2013 Gelegenheit
hatte, die Darstellung der Privatkläger zu bestreiten. Inwiefern unter diesen
Voraussetzungen ihre Verteidigungsrechte beschnitten worden sein sollten, weil
eine zusätzliche Konfrontationseinvernahme abgelehnt wurde, ist nicht
ersichtlich. Dasselbe gilt für den Antrag auf ein zusätzliches psychiatrisches
Gutachten. Allein der Umstand, dass das Gutachten vom 20. Februar 2012 vor
Abschluss der Untersuchung erstellt wurde und mithin spätere
Untersuchungsergebnisse nicht berücksichtigen konnte, stellt seine Qualität
nicht in Frage. Zudem geht aus dem Gutachten hervor, dass der Gutachter die
Tatvorwürfe als solche verstand und nicht etwa bereits als bewiesen annahm.
Sein Befund ist auf mehreren Seiten einlässlich begründet. Schliesslich
befindet sich der Verlaufsbericht der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen vom
26. April 2013, auf den sich die Beschwerdeführerin beruft, ebenfalls bei den
Akten. Beide Aktenstücke unterliegen der freien richterlichen Beweiswürdigung
(Art. 10 Abs. 2 StPO). Ob die II. Strafkammer des Obergerichts unter Würdigung
all dieser Umstände nach Art. 389 Abs. 3 StPO trotzdem gehalten gewesen wäre,
ein weiteres Gutachten anzufordern, ist hier nicht abschliessend zu
entscheiden. Jedenfalls sind keine schweren und wiederholten Verfahrensfehler
ersichtlich, welche sich einseitig zu Lasten der Beschwerdeführerin ausgewirkt
hätten. Die Rüge der Verletzung der Ausstandspflicht ist somit unbegründet.

2.5. Ungerechtfertigt ist auch der Vorwurf der Verletzung des rechtlichen
Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV). Die Vorinstanz hat ihren Entscheid hinreichend
begründet. Sie hat dargelegt, weshalb sie davon ausging, dass die
Beschwerdeführerin ihre Verteidigungsrechte auch ohne eine weitere
Konfrontationseinvernahme wahren konnte und weshalb angesichts ausreichender
Unterlagen zu ihrem Gesundheitszustand vom Einholen eines zusätzlichen
Gutachtens abgesehen werden konnte. Das rechtliche Gehör verlangt nicht, dass
sich die Behörde mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und
jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr kann sie sich auf
die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Die Beschwerdeführerin
war offensichtlich in der Lage, sich über die Tragweite des vorinstanzlichen
Entscheids Rechenschaft zu geben und ihn in voller Kenntnis der Sache
weiterzuziehen (vgl. BGE 136 I 229 E. 5.2 S. 236 mit Hinweisen).

3. 
Die Beschwerde ist aus den genannten Gründen abzuweisen.

Die Beschwerdeführerin ersucht um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsverbeiständung. Trotz geringer Erfolgsaussichten der Beschwerde ist es
gerechtfertigt, dem Gesuch zu entsprechen (Art. 64 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2. Rechtsanwalt Adriano Marti wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt
und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr.
1'500.-- entschädigt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und dem
Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Oktober 2013

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Dold

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