Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.288/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_288/2013

Urteil vom 12. September 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied, Bundesrichter Merkli, Chaix,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Fricker,

gegen

Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau,
Bahnhofstrasse 4, 5600 Lenzburg 2.

Gegenstand
Verlängerung der Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 31. Juli 2013
des Obergerichts des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A. 
X.________ wurde am 18. März 2013 von der Kantonspolizei Aargau verhaftet und
am 22. März 2013 vom Zwangsmassnahmengericht des Kantons Aargau in
Untersuchungshaft versetzt. Der Haftrichter hielt ihn für dringend verdächtig,
seine Ehefrau A.________ über Jahre hinweg regelmässig geschlagen, vergewaltigt
und sexuell genötigt, ihr heimlich ein Abtreibungsmittel ins Essen gemischt,
seine Kinder geschlagen und einen Einbruchdiebstahl vorgetäuscht zu haben. Er
ging zudem davon aus, dass Wiederholungsgefahr und Kollusionsgefahr bestehe.

Am 24. Juni 2013 verlängerte das Zwangsmassnahmengericht die Untersuchungshaft
gegen X.________ auf Antrag der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau um weitere
drei Monate bis zum 18. September 2013.

Am 31. Juli 2013 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Beschwerde von
X.________ gegen diesen Haftrichterentscheid ab.

B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen Entscheid des
Obergerichts aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Untersuchungshaft -
eventuell unter Anordnung geeigneter Ersatzmassnahmen (Sicherheitsleistung,
Schriftensperre, Rayon- und Kontaktverbote, Verbot, Waffen zu besitzen) - zu
entlassen. Subeventuell sei die Sache ans Obergericht zu neuem Entscheid
zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

C. 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des Obergerichts.
Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der
Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist
zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer ist durch die Anordnung von
Haft in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur
Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht
geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde eingetreten werden kann.

2. 
Untersuchungshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender
Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Flucht-,
Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Das
Obergericht ist zum Schluss gekommen, dass der allgemeine Haftgrund des
dringenden Tatverdachts gegeben ist und Fluchtgefahr besteht.

2.1. Der Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer beruht im Wesentlichen auf den
Aussagen seiner Ehefrau (vom 27. März, 17. April und vom 6. Juni 2013), die
durch die Aussagen ihrer Stieftöchter B.________ (vom 20. Februar und vom 30.
April 2013) und C.________ (vom 30. April 2013) in verschiedenen Punkten
gestützt werden. Nach dieser Darstellung soll der Beschwerdeführer seine
Ehefrau seit Jahren unterdrückt haben, indem er sie weitgehend von der
Aussenwelt isolierte, ihr sämtliche Ausweispapiere abnahm und verbot, Deutsch
zu lernen, das Haus alleine zu verlassen und Kontakt zu Nachbarn aufzunehmen.
Gehorchte sie nicht, soll er sie geschlagen haben. Erfüllte sie seine sexuellen
Wünsche nicht, soll er sie vergewaltigt und zu Oral- und Analverkehr gezwungen
haben. Als sie schwanger war, soll er ihre Mahlzeiten und Getränke verschiedene
Male mit Medikamenten versetzt haben, um den Fötus abzutreiben; sie erlitt eine
Fehlgeburt. Seine beiden Töchter aus erster Ehe B.________ und C.________ soll
er ebenfalls regelmässig geschlagen haben, etwa wenn die Schulnoten oder ihr
Verhalten seinen Erwartungen nicht entsprachen.

Die Aussagen der Ehefrau sind jedenfalls zum Kerngeschehen der sexuellen und
tätlichen Übergriffe konstant und nachvollziehbar. Die sexuellen Übergriffe
kann zwar niemand bestätigen, da sie im Elternschlafzimmer stattgefunden haben
sollen; ihre Schilderungen durch die Ehefrau wirken aber lebensnah und
jedenfalls nicht von vornherein unglaubhaft. Der Beschwerdeführer macht zwar
geltend, die Aussagen seiner Ehefrau seien mehrfach widersprüchlich. So habe
sie sich in der Frage, ob sie die Wohnung auch alleine verlassen habe, gleich
mehrfach widersprochen, und zur Frage, ob die Nachbarn über das gewalttätige
Auftreten des Beschwerdeführers Bescheid gewusst hätten, habe sie ebenfalls
unterschiedliche Aussagen gemacht. Selbst wenn sich aber die Ehefrau in diesen
Nebenpunkten tatsächlich in Widersprüche verstrickt haben sollte und es sich
dabei nicht um Missverständnisse handelt, wie sie bei Übersetzungen immer
wieder vorkommen, wären diese nicht geeignet, die Glaubhaftigkeit ihrer
Aussagen zum strafrechtlich relevanten Kerngeschehen von vornherein nachhaltig
zu erschüttern; das Obergericht hat daher auch seine verfassungsrechtliche
Begründungspflicht nicht verletzt, indem es sich mit diesem Einwand nicht
auseinandersetzte. Die Töchter haben die tätlichen Übergriffe auf ihre
Stiefmutter bestätigt und zudem anschaulich geschildert, wie ihr Vater ihr
heimlich Medikamente verabreichte bzw. verabreichen liess, um eine Fehlgeburt
herbeizuführen, und ihnen verbot, mit ihrer Stiefmutter darüber zu sprechen.
Der Beschwerdeführer macht zwar geltend, er sei Opfer eines von seiner Ex-Frau
und seiner Ehefrau geschmiedeten Komplotts, in das die beiden Kinder
eingebunden worden seien. In einer SMS vom 19. Februar 2013 habe seine Ex-Frau
seiner Tochter B.________ mitgeteilt, seine Ehefrau erhalte 50 Pakete
Zigaretten, wenn sie ihr helfe. Am nächsten Tag habe ihn dann B.________
angezeigt mit der Behauptung, sie am Vorabend tätlich angegriffen zu haben.
Dieser Ablauf zeige, dass er Opfer eines Komplotts seiner Ex-Frau, seiner
Ehefrau und seiner beiden Töchter geworden sei. Das sind allerdings bloss
Vermutungen. Wenn die SMS, was keineswegs feststeht, überhaupt einen Bezug zur
Einleitung des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer hat, so könnte sie
allenfalls darauf hindeuten, dass die Ex-Frau versuchte, die Ehefrau dazu zu
bringen, ihr Schweigen zu brechen, gegen den Beschwerdeführer auszusagen und
dadurch auch ihre Stieftöchter in ihrem Bestreben, sich dem gewalttätigen Vater
zu entziehen, zu unterstützen. Die SMS bildet somit keinen Hinweis darauf und
schon gar keinen Beweis dafür, dass die Anschuldigungen der Ehefrau und der
Töchter gegen den Beschwerdeführer unwahr sind.
Unbehelflich ist auch sein Einwand, der Verdacht gegen ihn wegen strafbaren
Schwangerschaftsabbruchs sei ausgeräumt, nachdem im Kaffeepulver der Wirkstoff
Ketoprofen nachgewiesen worden sei, mit dem eine Abtreibung nach dem Gutachten
des IRM medizinisch nicht möglich sei. Damit steht indessen keineswegs fest,
dass der Beschwerdeführer seiner schwangeren Ehefrau nicht noch andere,
möglicherweise effektiv abtreibende Medikamente verabreichte bzw. verabreichen
liess. Sollte sich aber ein Zusammenhang zwischen den unwissentlich
eingenommenen Medikamenten und der Fehlgeburt nicht nachweisen lassen - weil
den Medikamenten entgegen der Annahme des Beschwerdeführers eine abtreibende
Wirkung fehlte oder weil sie von der Ehefrau nach den Warnungen ihrer
Stieftöchter nicht in ausreichend hoher Dosis eingenommen w urden - wäre der
Beschwerdeführer immer noch des (strafbaren) Versuchs verdächtig (Art. 22 Abs.
1 StGB).

Zusammenfassend ergibt sich, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzte,
indem sie den dringenden Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer bejahte. Dieser
bezieht sich u.a. auf Verbrechen (Art. 118 Abs. 2, Art. 189 Abs. 1 und Art. 190
Abs. 1 StGB i.V.m. Art. 10 Abs. 2 StGB) und Vergehen (Art. 123 Ziff. 1 i.V.m.
Art. 10 Abs. 3 StGB) und vermag damit die Anordnung von Untersuchungshaft zu
rechtfertigen.

2.2. Für die Annahme von Fluchtgefahr genügt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein
nicht. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur
neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE
125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6).

Dem Beschwerdeführer droht für den Fall einer Verurteilung eine empfindliche,
möglicherweise mehrjährige Freiheitsstrafe. Er ist in der Türkei aufgewachsen
und besucht sie regelmässig. Er könnte somit ohne grössere Schwierigkeiten bei
seiner dortigen Verwandtschaft unterkommen; das ergibt sich im Übrigen auch
daraus, dass er seinen Töchtern nach deren Aussagen schon angedroht hat, sie
(für immer) in die Türkei zu bringen. Er verfügt zwar über die Niederlassung C,
spricht aber nur schlecht Deutsch und verkehrt privat offenbar im Wesentlichen
mit seiner hier lebenden Verwandtschaft. Im Falle einer Verurteilung wäre sein
Bleiberecht in der Schweiz zudem ohnehin in Frage gestellt. Es ist damit nicht
ersichtlich, was den Beschwerdeführer davon abhalten könnte, sich der weiteren
Strafverfolgung in der Schweiz durch eine Flucht in seine Heimat zu entziehen.
Die Vorinstanz hat Fluchtgefahr zu Recht bejaht.

2.3. In zeitlicher Hinsicht ist die Fortführung der seit rund einem halben Jahr
andauernden Untersuchungshaft unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit
zurzeit nicht zu beanstanden. Ersatzmassnahmen, die den Beschwerdeführer an
einer Flucht hindern könnten, sind nicht ersichtlich. Eine Schriftensperre wäre
ungenügend. Das Verlassen der Schweiz ohne gültige Ausweispapiere ist
problemlos möglich, und es könnte nicht verhindert werden, dass sich der
Beschwerdeführer neue türkische Ausweispapiere beschafft.

2.4. Besteht somit neben dem allgemeinen Haftgrund des Tatverdachts
Fluchtgefahr, kann offen bleiben, ob weitere besondere Haftgründe wie
Kollusions- oder Wiederholungsgefahr vorliegen.

3. 
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat zwar ein Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt. Seine Bedürftigkeit
ist indessen nicht ausgewiesen, nachdem er zusätzlich zum ihm bestellten
amtlichen einen privaten Verteidiger beschäftigt, den er selbst finanzieren
muss. Das Gesuch ist damit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau
und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. September 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Aemisegger

Der Gerichtsschreiber: Störi

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