Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.250/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_250/2013

Urteil vom 20. August 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Sarah Schläppi,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Bern,
Region Emmental-Oberaargau, Dunantstrasse 11,
3400 Burgdorf,
Regionales Zwangsmassnahmengericht
Emmental-Oberaargau, Dunantstrasse 3,
3400 Burgdorf.

Gegenstand
Haftverlängerung,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 19. Juni 2013 des Obergerichts des Kantons
Bern, Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Die Regionale Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau führt gegen X.________ ein
Strafverfahren wegen schwerer Körperverletzung, eventuell Versuchs dazu,
einfacher Körperverletzung, wiederholten Tätlichkeiten, Verletzung der
Fürsorge- und Erziehungspflicht sowie Vergehen gegen das Heilmittelgesetz (vom
15. Dezember 2000; SR 812.21; HMG). Sie verdächtigt ihn, seinen am 28. März
2012 geborenen Sohn Y.________ mehrfach massiv misshandelt und dadurch
Knochenbrüche (Schienbein, Mittelfuss, Rippen, Schädel) und
Weichteilschwellungen verursacht sowie ihm mehrfach in gefährlich überhöhten
Dosen nicht für das Kind bestimmte Medikamente (Valium, Temesta) verabreicht zu
haben. X.________ wurde am 24. August 2012 verhaftet und am 27. August 2012 in
Untersuchungshaft versetzt.

Am 24. Mai 2013 verlängerte das Zwangsmassnahmengericht Emmental-Oberaargau die
Untersuchungshaft gegen X.________ um drei Monate bis zum 23. August 2013.

Am 19. Juni 2013 wies das Obergericht des Kantons Bern die Beschwerde von
X.________ gegen die Haftverlängerung ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen
Obergerichtsentscheid aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Untersuchungshaft
zu entlassen, eventualiter unter Anordnung folgender Ersatzmassnahmen: er sei
zu verpflichten, sich bei einem vom Gericht zu bestimmenden Psychiater einmal
wöchentlich bzw. in einem nach richterlichem Ermessen zu bestimmenden Rhythmus
ambulant therapieren zu lassen und es sei ihm zu verbieten, ohne Aufsicht mit
seiner Ehefrau und seinen Kindern Kontakt zu pflegen oder sich in der Wohnung
seiner Ehefrau und seiner Tochter aufzuhalten. Ausserdem ersucht X.________ um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C.
Das Obergericht und das Zwangsmassnahmengericht verzichten auf Vernehmlassung.
Die Regionale Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.
In seiner Replik hält X.________ an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des Obergerichts.
Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der
Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist
zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer ist durch die Anordnung von
Haft in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur
Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht
geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde eingetreten werden kann.

2.
Untersuchungshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender
Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Wiederholungsgefahr
besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO).

2.1. Das Obergericht hat im angefochtenen Entscheid die Verlängerung der
Untersuchungshaft geschützt, da es den Beschwerdeführer der ihm vorgeworfenen
Verbrechen und Vergehen für dringend verdächtig hält und seiner Auffassung nach
zudem Wiederholungsgefahr besteht. Der Beschwerdeführer ist zwar nicht
geständig, bestreitet aber nicht, dass er der ihm vorgeworfenen Taten dringend
verdächtig ist. Der Tatverdacht bezieht sich teilweise auf Verbrechen (Art. 122
i.V.m. Art. 10 Abs. 2 StGB) und Vergehen (Art. 123 Ziff. 2 StGB, Art. 219 Abs.
1 StGB und Art. 86 HMG i.V.m. Art. 10 Abs. 3 StGB), womit der allgemeine
Haftgrund ohne Weiteres erfüllt ist. Strittig hingegen ist, ob
Wiederholungsgefahr besteht.

2.2. Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO liegt vor,
"wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend
verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere
Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem
sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat". Nach der Rechtsprechung
kann sich Wiederholungsgefahr ausnahmsweise auch aus Vortaten ergeben, die dem
Beschuldigten im hängigen Strafverfahren erst vorgeworfen werden, wenn die
Freilassung des Ersttäters mit erheblichen konkreten Risiken für die
öffentliche Sicherheit verbunden wäre. Erweisen sich die Risiken als untragbar
hoch, kann vom Vortatenerfordernis sogar ganz abgesehen werden. So hat es das
Bundesgericht unter diesem Titel abgelehnt, einen eines Tötungsdelikts dringend
Verdächtigen aus der Untersuchungshaft zu entlassen, nachdem ein
psychiatrisches Gutachten zum Schluss gekommen war, er leide an einer
psychischen Störung, weise eine stark dissoziale Persönlichkeitsstruktur auf
und sei ohne langfristige Psychotherapie - der er sich widersetze - stark
rückfallgefährdet. Aufgrund einer systematisch-teleologischen Auslegung von
Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO kam es zum Schluss, es habe nicht in der Absicht
des Gesetzgebers gelegen, mögliche Opfer von schweren Gewaltdelikten einem
derart hohen Rückfallrisiko auszusetzen (BGE 137 IV 13 E. 2-4; Urteil 1B_103/
2013 vom 27. März 2013 E. 6.3 und 6.4). Die Verhütung weiterer schwerwiegender
Delikte ist ein verfassungs- und grundrechtskonformer Massnahmenzweck. Art. 5
Ziff. 1 lit. c EMRK anerkennt ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte im
Sinne einer Spezialprävention an der Begehung schwerer strafbarer Handlungen zu
hindern (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85; 135 I 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen).
Erforderlich ist allerdings eine sehr ungünstige Rückfallprognose. Der
Haftgrund der Wiederholungsgefahr ist restriktiv zu handhaben (BGE 137 IV 84 E.
3.2 S. 85 f.; 135 I 71 E. 2.3 S. 73; je mit Hinweisen); seine Anwendung über
den gesetzlichen Wortlaut hinaus auf Ersttäter muss auf Ausnahmefälle
beschränkt bleiben.

3.

3.1. Der Beschwerdeführer soll mit der Betreuung seines häufig schreienden
Sohnes Y.________ überfordert gewesen sein und wiederholt versucht haben, das
Kleinkind mit Gewalt und/oder durch Verabreichen von nicht für Kinder
bestimmten Medikamenten zum Schweigen zu bringen bzw. ruhig zu stellen. Diese
wiederholten Übergriffe sollen sich einzig gegen Y.________ gerichtet haben; es
gibt keine konkreten Hinweise, dass der Beschwerdeführer auch gegen seine rund
15 Monate ältere Tochter Z.________ oder seine Ehefrau gewalttätig geworden
wäre.

Das Gutachten des Forensisch-psychiatrischen Dienstes der Universität Bern
(FPD) vom 28. Januar 2013 kommt zum Schluss, beim Beschwerdeführer habe im
Tatzeitraum eine persönlichkeitsbezogene Neigung zu impulsiven Affektreaktionen
im Sinne einer emotional-instabilen (impulsiven) Persönlichkeitsakzentuierung
nach ICD-10 F61.1 bestanden, die in der konkreten innerfamiliären
Belastungssituation mit einer Überforderung in der Elternrolle die Schwere
einer erheblichen psychischen Störung angenommen habe, auch wenn nicht alle
Kriterien für eine schwere Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 erfüllt würden
(Gutachten S. 82). Es bestehe eine "deutlich erhöhte" Wiederholungsgefahr für
den Fall, dass der Beschwerdeführer in die gleiche Familienstruktur
zurückkehre; diesfalls seien impulsive Aggressionsdelikte zu erwarten wie
diejenigen, die ihm von den Untersuchungsbehörden bereits angelastet würden.
Die Rückfallgefahr beschränke sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den
innerfamiliären Kontext (Gutachten S. 83). Ein unbeaufsichtigter Kontakt mit
seinen beiden Kindern sei auf jeden Fall zu verhindern (Gutachten S. 81). Der
Beschwerdeführer sei grundsätzlich therapiewillig und -fähig; erforderlich sei
eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB, die bei entsprechenden
Fortschritten in einem ambulanten Setting fortgeführt werden könne, sobald ein
(derzeit nicht vorhandener) ausreichend sicherer sozialer Empfangsraum
etabliert und erprobt worden sei (Gutachten S. 84). Insbesondere gestützt auf
dieses Gutachten hat das Obergericht Wiederholungsgefahr bejaht.

3.2. Sohn Y.________ wurde in der Zwischenzeit bei Pflegeeltern fremdplatziert
und der Obhut der leiblichen Eltern entzogen; er darf von diesen nur nach
Anweisung des Beistands besucht werden. Damit kann ausgeschlossen werden, dass
der Beschwerdeführer in Freiheit erneut in die Situation kommen könnte, seinen
Sohn betreuen zu müssen, ohne dieser Aufgabe gewachsen zu sein, was bei ihm
nach dem Gutachten gegen das Kind gerichtete Gewaltausbrüche auslösen könnte.

Nicht völlig auszuschliessen ist, dass der Beschwerdeführer nach einer
allfälligen Wiederaufnahme des Familienlebens - seine Ehefrau wäre dazu
offenbar bereit - wiederum in eine Überforderungssituation gerät, was ihn zu
Gewalttätigkeiten gegen seine Frau und seine Tochter veranlassen könnte. Diese
Gefahr liegt allerdings nicht besonders nahe, da sich der Beschwerdeführer
bisher gegen diese beiden Familienmitglieder nichts zu Schulden kommen liess.
Es fragt sich daher, ob unter diesen Umständen ausnahmsweise vom
Vortatenerfordernis abgesehen werden und Wiederholungsgefahr angenommen werden
darf. Das braucht indessen nicht abschliessend entschieden zu werden, da sie
ohnehin durch mildere Ersatzmassnahmen ausreichend gebannt werden kann. In
Betracht fällt etwa ein Rayonverbot um den Wohnsitz von Ehefrau und Tochter
sowie um denjenigen der Pflegeeltern von Y.________, das allenfalls, wie vom
FPD in seiner Vorabstellungnahme vom 26. September 2012 vorgeschlagen, durch
Electronic Monitoring überwacht werden könnte, verbunden mit der Auflage, seine
Familienmitglieder nicht unbegleitet zu treffen. Kann aber der Schutz der
potenziell gefährdeten Familienmitglieder dadurch ausreichend gewährleistet
werden, vermag auch der Umstand eine Fortführung der Untersuchungshaft nicht zu
rechtfertigen, dass der Beschwerdeführer nach der vom Obergericht übernommenen
Auffassung des FPD nur stationär erfolgreich therapiert werden kann. Dies umso
weniger, als eine derartige Therapie noch gar nicht in Angriff genommen wurde,
obwohl das beim sich im vorzeitigen Strafvollzug befindenden Beschwerdeführer
möglich sein müsste.

3.3. Ohnehin wäre die Fortsetzung der bereits seit rund einem Jahr andauernden
Haft unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten auch in zeitlicher Hinsicht
problematisch. Es ist zwar nicht bekannt, was für eine Strafe die
Staatsanwaltschaft beantragen will und es ist auch nicht Sache des
Bundesgerichts, in diesem Verfahren dem Strafrichter mit Überlegungen zum
Strafmass vorzugreifen. Allein aus dem Umstand, dass der obere Strafrahmen bei
15 Jahren Freiheitsstrafe liegt, ergibt sich entgegen der Auffassung des
Obergerichts jedenfalls nicht, dass die Fortführung der Haft mit dem
Beschleunigungsgebot ohne Weiteres vereinbar wäre.

3.4. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob das vom Beschwerdeführer neu
eingereichte Parteigutachten in diesem Verfahren ein unzulässiges Novum
darstellt und ob es überhaupt geeignet wäre, das Gutachten des FPD derart zu
erschüttern, dass darauf im Haftprüfungsverfahren nicht abgestellt werden
könnte. Die abschliessende Beurteilung der Gutachten bleibt dem Strafrichter
vorbehalten.

4.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben
und die Sache an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen mit der Anweisung, im
Sinne der bundesgerichtlichen Erwägungen die ihr gutscheinenden
Ersatzmassnahmen anzuordnen bzw. zu organisieren und den Beschwerdeführer
alsdann innert kurzer Frist aus der Haft zu entlassen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Hingegen hat der Kanton Bern dem Beschwerdeführer für das
obergerichtliche und das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1, 2 und 5 BGG); dadurch kann auf
eine Rückweisung ans Obergericht zur Neuregelung der Entschädigungsfrage
verzichtet werden. Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verteidigung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid des Obergerichts
des Kantons Bern vom 19. Juni 2013 aufgehoben und die Sache an die Regionale
Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau zurückgewiesen mit der Anweisung, im
Sinne der bundesgerichtlichen Erwägungen die ihr gutscheinenden
Ersatzmassnahmen anzuordnen bzw. zu organisieren und den Beschwerdeführer
alsdann innert kurzer Frist aus der Haft zu entlassen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern bezahlt dem Beschwerdeführer für das obergerichtliche und das
bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von insgesamt Fr.
3'500.--.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Bern, dem Regionalen Zwangsmassnahmengericht Emmental-Oberaargau und dem
Obergericht des Kantons Bern, Strafabteilung, Beschwerdekammer in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 20. August 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi

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