Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.224/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_224/2013

Urteil vom 27. August 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Uebersax.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Bernard,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat
(neu: Staatsanwaltschaft IV), Molkenstrasse 15/17, Postfach, 8026 Zürich,

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich,
Büro für amtliche Mandate, Florhofgasse 2, Postfach, 8090 Zürich.

Gegenstand
Strafverfahren; amtliche Verteidigung,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 7. Juni 2013 des Obergerichts des Kantons
Zürich, III. Strafkammer.

Sachverhalt:

A.

A.a. Gegen X.________ läuft eine Strafuntersuchung wegen Stalkings.
Insbesondere soll er seiner ehemaligen Partnerin gegen deren ausdrücklichen
Wunsch unzählige SMS und Briefe mit teilweise sexuellem Inhalt geschrieben und
sich an deren Arbeitsort telefonisch nach ihr erkundigt haben. Sie fühlte sich
auch durch den im gleichen Haus wohnhaften Beschuldigten beobachtet und
kontrolliert.

A.b. Am 13. März 2013 wies das Büro für amtliche Mandate der
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich ein Gesuch von X.________ um
Bestellung eines amtlichen Verteidigers ab. Mit Beschluss vom 7. Juni 2013 wies
das Obergericht des Kantons Zürich eine dagegen erhobene Beschwerde ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 26. Juni 2013 an das Bundesgericht beantragt
X.________, den Beschluss des Obergerichts aufzuheben und seinen
Rechtsvertreter als amtlichen Verteidiger für das Strafverfahren zu bestellen.
Zur Begründung wird im Wesentlichen ein Verstoss gegen Art. 132 StPO geltend
gemacht. In prozessualer Hinsicht wird um Erteilung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung ersucht.

C.
Die das Verfahren inzwischen leitende Staatsanwaltschaft IV, die für die
Beiordnung der amtlichen Verteidigung zuständige Oberstaatsanwaltschaft sowie
das Obergericht des Kantons Zürich haben alle auf eine Stellungnahme
verzichtet.

Erwägungen:

1.
Gegen den angefochtenen Entscheid steht die Beschwerde in Strafsachen nach Art.
78 ff. BGG offen. Zwar handelt es sich um einen Zwischenentscheid; da er aber
einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann, ist die Beschwerde
gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist als
direkter Adressat und vom Entscheid in seinen Rechten unmittelbar Betroffener
zur Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 1 BGG).

2.

2.1. Nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ordnet die Verfahrensleitung über die
Fälle der notwendigen Verteidigung hinaus dann eine amtliche Verteidigung an,
wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und
die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist (vgl. BGE 139 IV 113
E. 4.1). Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die
Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall
handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht
Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen
wäre (Art. 132 Abs. 2 StPO). Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr
vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten, eine Geldstrafe von mehr
als 120 Tagessätzen oder gemeinnützige Arbeit von mehr als 480 Stunden zu
erwarten ist (Art. 132 Abs. 3 StPO).

2.2. Mit den gesetzlichen Bestimmungen von Art. 132 StPO wurde die bisherige
bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit.
c EMRK kodifiziert (BGE 139 IV 113 E. 4.3; Urteil des Bundesgerichts 1B_448/
2012 vom 17. Oktober 2012 E. 2.2; je mit Hinweisen). Wie sich aus dem
Gesetzeswortlaut ("jedenfalls dann nicht") deutlich ergibt, sind die
Nicht-Bagatellfälle (welche in der Bundesgerichtspraxis auch als "relativ
schwer" bezeichnet werden) nicht auf die in Art. 132 Abs. 3 StPO beispielhaft
genannten Fälle beschränkt. Bei der Prüfung, ob eine amtliche Verteidigung
sachlich geboten ist, sind die konkreten Umstände des Einzelfalls zu
berücksichtigen. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kommt es bei der
Frage, welche Sanktion der beschuldigten Person droht, nicht auf die abstrakte
Strafobergrenze an, sondern auf die konkrete Sanktion, mit der die beschuldigte
Person im Falle einer Anklageerhebung und Verurteilung zu rechnen hat. Eine
bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre
Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug
eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Falls das in Frage stehende
Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person
eingreift, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters
grundsätzlich geboten. Droht zwar ein erheblicher, nicht aber ein besonders
schwerer Eingriff, müssen zur relativen Schwere des Eingriffs besondere
tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die betroffene
Person - auf sich allein gestellt - nicht gewachsen wäre. Als besondere
Schwierigkeiten, die eine Verbeiständung rechtfertigen können, fallen auch in
der betroffenen Person liegende Gründe in Betracht, insbesondere deren
Unfähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden. Auch familiäre
Interessenkonflikte oder mangelnde Schulbildung können massgebliche
tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten begründen (Urteil des
Bundesgerichts 1B_170/2013 vom 30. Mai 2013 E. 4.3 mit vielen Hinweisen).

2.3. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann überdies das Prinzip
der Waffengleichheit die Beiordnung eines amtlichen Verteidigers erfordern.
Dieser Grundsatz ist als formales Prinzip schon dann verletzt, wenn eine Partei
bevorteilt wird; es ist nicht notwendig, dass die Gegenpartei dadurch
tatsächlich einen Nachteil erleidet. Das Bundesgericht leitet daraus etwa ab,
dass ein Angeklagter jedenfalls dann Anspruch auf amtliche Verteidigung hat,
wenn auch der geschädigten Person im Strafverfahren ein amtlicher
Rechtsvertreter beigeordnet wird (Urteil des Bundesgerichts 1P.14/2005 vom 28.
Februar 2005 E. 3.4, publ. in: Pra 2006 Nr. 2 S. 9; VIKTOR LIEBER, in: Donatsch
/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung
[StPO], 2010, N. 15 zu Art. 132 StPO). Die Lehre fordert in einem allgemeineren
Sinne, dass die Waffengleichheit eine amtliche Verteidigung des Beschuldigten
gebiete, wenn andere Verfahrensbeteiligte verbeiständet sind ( HARARI/ALIBERTI,
in: Kuhn/Jeanneret [Hrsg.], Commentaire romand, Code de procédure pénale
suisse, 2011, N. 64 zu Art. 132 StPO; NIKLAUS RUCKSTUHL, in: Niggli/Heer/
Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung,
2011, N. 36 zu Art. 132 StPO; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische
Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, N. 7 zu Art. 132 StPO).

3.

3.1. Die Vorinstanz beurteilte den vorliegenden Fall weder als einen solchen
der notwendigen Verteidigung noch als Bagatellfall, womit alle
Verfahrensbeteiligten übereinstimmen. Es gibt keinen Anlass, von dieser
Einschätzung abzuweichen. In tatsächlicher Hinsicht ist der Sachverhalt
weitgehend erstellt und der Beschwerdeführer geständig. Er sieht darin
allerdings offenbar kaum eine strafrechtliche Relevanz. In rechtlicher Hinsicht
erscheint der vorliegende Fall denn auch nicht ohne Weiteres eindeutig. Im
angefochtenen Entscheid wird jedenfalls nicht konkret ausgeführt, unter welche
Strafnormen die Staatsanwaltschaft das Verhalten des Beschwerdeführers
subsumiert. Angesichts der dafür bestehenden Möglichkeiten muss dieser aber
ohnehin mit einer nicht unbedeutenden Strafe rechnen. Ob das für sich allein
bereits für eine amtliche Verbeiständung genügen würde, kann offen bleiben.
Hinzu kommt nämlich, dass die als Geschädigte am Strafverfahren beteiligte
ehemalige Partnerin anwaltlich vertreten ist. Der nicht fachkundige und
offenbar aus eher einfachen Verhältnissen stammende Beschwerdeführer steht
daher nicht nur der fachlich ausgewiesenen Staatsanwaltschaft, sondern auch
einer anwaltlich vertretenen Privatpartei gegenüber. Angesichts der bestehenden
rechtlichen Unklarheiten erweist sich daher die Beiordnung eines amtlichen
Anwalts aus Gründen der Waffengleichheit als geboten.

3.2. Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf amtliche Verteidigung, sofern er
nicht über genügend Mittel verfügt, seine Verteidigung selber zu finanzieren
(Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). Obwohl das Obergericht im Kostenpunkt von
bescheidenen finanziellen Verhältnissen aufseiten des Beschwerdeführers
ausging, haben die Vorinstanzen dies nicht abschliessend abgeklärt. Es ist
nicht Aufgabe des Bundesgerichts, das als erste Instanz zu tun. Die Sache ist
daher an die Oberstaatsanwaltschaft zurückzuweisen, die das Gesuch des
Beschwerdeführers um amtliche Verteidigung unter Berücksichtigung der
bundesgerichtlichen Erwägungen neu zu prüfen haben wird.

4.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, der angefochtene Entscheid des
Obergerichts aufzuheben und die Sache an die Oberstaatsanwaltschaft zu neuem
Entscheid zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten
zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Hingegen hat der Kanton Zürich dem
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 BGG). Damit wird das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Beschluss des Obergerichts
des Kantons Zürich vom 7. Juni 2013 aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid
an die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV, der
Oberstaatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Zürich, III.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. August 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Uebersax

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