Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.216/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_216/2013

Urteil vom 18. Dezember 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Karlen,
Gerichtsschreiber Forster.

Verfahrensbeteiligte
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Beschwerdeführerin, vertreten durch die
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern,

gegen

X.________, Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Marbacher.

Gegenstand
Entsiegelung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 21. Mai 2013
des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Luzern, Einzelrichterin.

Sachverhalt:

A. 
Mit rechtskräftigem Entscheid vom 4. Juni 2012 verfügte das Obergericht des
Kantons Luzern (auf dem Beschwerdeweg), X.________ habe als Beschuldigter in
einer Strafuntersuchung wegen Ehrverletzung, Missbrauch einer Fernmeldeanlage,
Drohung und Nötigung unter der Strafandrohung von Art. 292 StGB sämtliche
elektronischen Kopien einer Daten-CD sowie alle Ausdrucke davon der
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Abteilung 3, Sursee, zu übergeben. Am 6.
September 2012 forderte die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten auf, dem
Entscheid des Obergerichtes bis spätestens am 17. September 2012 Folge zu
leisten. Im Rahmen der anschliessend eröffneten separaten Strafuntersuchung
wegen Ungehorsams gegen den obergerichtlichen Entscheid vollzog die
Staatsanwaltschaft am 8. März 2013 beim Beschuldigten eine Hausdurchsuchung,
bei der diverse Aufzeichnungen und Gegenstände sichergestellt und versiegelt
wurden. Das von der Staatsanwaltschaft am 14. März 2013 gestellte
Entsiegelungsgesuch wies das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Luzern,
Einzelrichterin, mit Verfügung vom 21. Mai 2013 ab.

B. 
Gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichtes gelangte die
Staatsanwaltschaft, vertreten durch die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons
Luzern, mit Beschwerde vom 19. Juni 2013 an das Bundesgericht. Sie beantragt,
der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das Zwangsmassnahmengericht und der Beschuldigte beantragen mit Stellungnahmen
vom 1. Juli bzw. 12. August 2013 je die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten ist.

Erwägungen:

1. 
Es stellt sich die Frage, ob hier die Sachurteilsvoraussetzung des nicht wieder
gutzumachenden Rechtsnachteils (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) erfüllt ist. Das
Bundesgericht hat die Möglichkeit eines solchen Nachteils auch in Fällen der
Abweisung von Entsiegelungsgesuchen der untersuchungsleitenden
Staatsanwaltschaft grundsätzlich bejaht (vgl. Urteil 1B_517/2012 vom 27.
Februar 2013 E. 4). Die beschwerdeführende Staatsanwaltschaft legt dar, dass im
vorliegenden Fall eine Beweisvereitelung drohe. In dieser Konstellation ist
auch die Beschwerdelegitimation (Art. 81 lit. a und lit. b Ziff. 3 BGG) der
Staatsanwaltschaft (und der sie vertretenden Oberstaatsanwaltschaft) zu bejahen
(vgl. BGE 139 IV 25 E. 1 S. 27; 137 IV 22 E. 1.2-1.4 S. 23-25; 87 E. 3 S.
89-92; 230 E. 1 S. 232; 237 E. 1.2 S. 240; 340 E. 2.3 S. 344-346).

Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 78 ff. BGG sind ebenfalls
erfüllt.

2. 
Die Staatsanwaltschaft macht geltend, es bestehe ein hinreichender Tatverdacht
des Ungehorsams gegen den Entscheid des Obergerichtes vom 4. Juni 2012, indem
der Beschuldigte (noch nach dem 17. September 2012) elektronische Kopien der
fraglichen Daten-CD bzw. Ausdrucke davon besessen und damit die rechtskräftige
strafbewehrte Verfügung des Obergerichtes missachtet habe. Im angefochtenen
Entscheid werde dieser Tatverdacht zwar ausdrücklich bestätigt. Das
Zwangsmassnahmengericht stelle sich jedoch auf den (nach Ansicht der
Staatsanwaltschaft unzutreffenden) Standpunkt, die versiegelten Aufzeichnungen
und Gegenstände seien für die Untersuchung nicht relevant. Die übrigen
Entsiegelungsvoraussetzungen, insbesondere die Verhältnismässigkeit der
Massnahme, habe das Zwangsmassnahmengericht nicht geprüft. Die Vorinstanz habe
dies nachzuholen. Der angefochtene Entscheid verletze Bundesrecht (Art. 246,
248 und 263 Abs. 1 lit. a StPO).

3.

3.1. Zwangsmassnahmen setzen voraus, dass ein hinreichender Tatverdacht
vorliegt und die streitige Untersuchungshandlung verhältnismässig erscheint
(Art. 197 Abs. 1 lit. b-d und Abs. 2 StPO). Offensichtlich nicht
untersuchungsrelevante sichergestellte Aufzeichnungen und Gegenstände hat der
Entsiegelungsrichter auszusondern (BGE 138 IV 225 E. 7.1 S. 229 mit Hinweisen).
Gesetzliche Entsiegelungshindernisse können sich auch aus einem
geheimnisgeschützten Vertrauensverhältnis zwischen Anwälten und ihrer
Klientschaft ergeben (Art. 264 Abs. 1 lit. a und c sowie Abs. 4 i.V.m. Art. 171
Abs. 1 StPO; vgl. BGE 138 IV 225 E. 6.1 S. 227 f.).

3.2. Die Vorinstanz bejaht ausdrücklich den dringenden Tatverdacht des
Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung (vgl. angefochtener Entscheid, S. 11
f., E. 7.2). In ihren Erwägungen (S. 9 f., E. 6.1-6.3) verwirft sie auch die
Vorbringen des Beschuldigten, der Entscheid des Obergerichtes vom 4. Juni 2012
sei nichtig und der Hausdurchsuchungsbefehl unzureichend begründet. Die
fehlende Deliktskonnexität begründet das Zwangsmassnahmengericht damit, dass
die Anwälte des Beschuldigten (zulässigerweise) im Besitz von analogen
elektronischen Kopien einer Daten-CD (sowie von Ausdrucken davon) gewesen
seien. Das allfällige Auffinden solcher Gegenstände anlässlich der
Hausdurchsuchung vom 8. März 2013 sage daher "nichts darüber aus", ob der
Beschuldigte gegen die obergerichtliche Verfügung verstiess (angefochtener
Entscheid, S. 12, E. 7.3).

3.3. Im Rahmen der Strafuntersuchung wegen Ungehorsams gegen eine
rechtskräftige Verfügung des Obergerichtes vom 4. Juni 2012 möchte die
Staatsanwaltschaft abklären, ob der Beschuldigte (noch nach dem 17. September
2012) im Besitze von elektronischen Kopien einer Daten-CD (sowie von Ausdrucken
davon) blieb und insofern die rechtskräftige Verfügung missachtete. Im
angefochtenen Entscheid wird der Aufassung der Staatsanwaltschaft zugestimmt,
es bestehe ein hinreichender Tatverdacht, dass der Beschuldigte im fraglichen
Zeitraum solche Gegenstände besass bzw. verwendete und gegen die Verfügung
verstiess. Die bei ihm sichergestellten und versiegelten Aufzeichnungen und
Gegenstände weisen damit Untersuchungsrelevanz im Sinne der bundesgerichtlichen
Praxis auf (vgl. BGE 138 IV 225 E. 7.1 S. 229 mit Hinweisen). Sie kommen als
Beweismittel im Sinne von Art. 263 Abs. 1 lit. a StPO (i.V.m. Art. 246 und 248
StPO) in Frage. Die Argumentation der Vorinstanz bzw. des privaten
Beschwerdegegners, analoge Aufzeichnungen und Gegenstände hätten sich
(zulässigerweise) auch noch bei Rechtsvertretern des Beschuldigten befunden,
die nicht von der Verfügung betroffen gewesen seien und mit ihm entsprechende
Unterlagen hätten austauschen dürfen, lässt die Deliktskonnexität nicht zum
Vornherein dahinfallen.

3.4. Die Vorinstanz hat die Verhältnismässigkeit der beantragten
Zwangsmassnahme (Entsiegelung und Durchsuchung der sichergestellten
Aufzeichnungen und Gegenstände) nicht weiter geprüft. Ebenso wenig hat sie
abgeklärt, inwiefern das (schon im Entsiegelungsverfahren als verletzt
angerufene) Anwaltsgeheimnis ein Entsiegelungshindernis bilden könnte.
Insbesondere ist nicht geklärt, ob einschlägige sichergestellte Unterlagen von
Anwälten stammen.

3.5. Im Gegensatz zu anderen Zwangsmassnahmen (wie z.B. Untersuchungshaft oder
Telefonüberwachungen) beschränkt die StPO die Hausdurchsuchung, die vorläufige
Sicherstellung von Aufzeichnungen und Gegenständen sowie deren Entsiegelung
(und Freigabe zur Durchsuchung seitens der Staatsanwaltschaft) nicht auf die
Untersuchung von Vergehen oder Verbrechen (vgl. Art. 197 Abs. 1 lit. b i.V.m.
Art. 244, 246, 248 und 263 StPO). In begründeten Fällen und im Rahmen des
Verhältnismässigkeitsgrundsatzes (Art. 197 Abs. 1 lit. c-d und Abs. 2 StPO)
kann eine Entsiegelung daher grundsätzlich auch zur Untersuchung von
Übertretungen zulässig erscheinen (vgl. Niklaus Schmid, Praxiskommentar StPO,
2. Aufl., Zürich 2013, Art. 197 N. 2 und 7). Die Staatsanwaltschaft macht
geltend, bei Art. 292 StGB handle es sich um eine Straftat gegen die
öffentliche Gewalt. Der Zweck der Strafnorm sei es, dass behördliche
Verfügungen wirksam durchgesetzt würden. Dies setze voraus, dass Beweismittel
für die Untersuchung von Ungehorsamshandlungen nötigenfalls auch zwangsweise
sichergestellt werden können. An der Durchsetzung hoheitlicher Anordnungen
bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse, das den Grundrechtseingriff
beim Betroffenen überwiege. Die Zwangsmassnahme richtet sich hier im Übrigen
gegen den Beschuldigten selbst und nicht gegen eine Drittperson (vgl. Art. 197
Abs. 2 StPO).

3.6. Wie es sich damit verhält, braucht hier nicht weiter vertieft zu werden.
Wie dargelegt, hat die Vorinstanz die Deliktskonnexität der sichergestellten
Aufzeichnungen und Gegenstände zu Unrecht verneint. Neben der Frage der
Verhältnismässigkeit wird sie auch abzuklären haben, ob und inwieweit das im
Entsiegelungsverfahren ausdrücklich angerufene Anwaltsgeheimnis einer
Entsiegelung entgegen stehen könnte (Art. 264 Abs. 1 lit. a und c sowie Abs. 4
i.V.m. Art. 171 Abs. 1 StPO). In diesem Sinne ist das Verfahren, wie von der
beschwerdeführenden Staatsanwaltschaft beantragt, zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

4. 
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung im Sinne der obigen Erwägungen an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der private Beschwerdegegner die Kosten
(Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die angefochtene Verfügung vom 21. Mai 2013
des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Luzern, Einzelrichterin, aufgehoben
und die Entsiegelungssache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem privaten Beschwerdegegner
auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Zwangsmassnahmengericht
des Kantons Luzern, Einzelrichterin, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. Dezember 2013

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Forster

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