Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.191/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_191/2013

Urteil vom 12. Juni 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Karlen,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Ernst Reber,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland, Hodlerstrasse 7,
3011 Bern,
Regionalgericht Bern-Mittelland, Strafabteilung, Hodlerstrasse 7, 3011 Bern,
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, Postfach 6250,
3001 Bern.

Gegenstand
Anordnung von Sicherheitshaft,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 16. April 2013 des Obergerichts des Kantons
Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Das Regionalgericht Bern-Mittelland verurteilte X.________ am 22. März 2013
wegen mehrfacher schwerer Körperverletzung im Sinn von Art. 122 StGB und
mehrfachen Verbreitens menschlicher Krankheiten im Sinn von Art. 231 Ziff. 1
Satz 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren und 9 Monaten. Es hält für
erwiesen, dass X.________ zwischen 2001 und 2005 16 Personen mit HIV
infizierte. Zudem versetzte es X.________ in Sicherheitshaft.

 X.________ hat gegen dieses Urteil Berufung angemeldet. Gegen die Anordnung
von Sicherheitshaft erhob er zudem Beschwerde ans Obergericht des Kantons Bern.

 Das Obergericht wies die Beschwerde gegen die Anordnung von Sicherheitshaft am
16. April 2013 ab.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, diesen obergerichtlichen
Entscheid aufzuheben und ihn - eventuell unter Anordnung von geeigneten
Ersatzmassnahmen - aus der Haft zu entlassen oder eventuell die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung.

C.
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. Das Regionalgericht
Bern-Mittelland stellt eine in der Beschwerdeschrift vorgebrachte Behauptung
richtig und verzichtet im Übrigen auf Vernehmlassung. Der stellvertretende
Generalstaatsanwalt beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Denselben Antrag
stellt der Staatsanwalt.

 In seiner Replik hält X.________ an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid des Obergerichts.
Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der
Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist
zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer ist durch die Anordnung von
Haft in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur
Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht
geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde eingetreten werden kann.

2.

2.1. Der Beschwerdeführer rügt, das Regionalgericht Bern-Mittelland habe seinen
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, da es Sicherheitshaft gegen ihn
verhängt habe, ohne dass er sich habe äussern können. Das Obergericht hat dazu
erwogen, eine allfällige Gehörsverletzung könne als im Beschwerdeverfahren
geheilt gelten, da er sich darin umfassend habe äussern können, die
Beschwerdeinstanz über volle Kognition verfüge und eine Rückweisung wegen der
damit verbundenen Verfahrensverzögerung nicht in seinem Interesse liege. Der
Beschwerdeführer hält dem entgegen, im Beschwerdeverfahren habe nur sein
Verteidiger Stellung nehmen können. Eine Heilung sei ausgeschlossen, weil er
persönlich sich zur Anordnung von Sicherheitshaft nie habe äussern können.

2.2. Es trifft zu, dass das Regionalgericht Bern-Mittelland dem
Beschwerdeführer vor der Anordnung von Sicherheitshaft nach Art. 231 Abs. 1
StPO hätte Gelegenheit geben müssen, sich dazu zu äussern. Indem es dies
unterliess, hat es seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts kann eine Gehörsverletzung indessen
ausnahmsweise geheilt werden, sofern die Kognition der Rechtsmittelinstanz
nicht eingeschränkt ist, dem Beschwerdeführer kein Nachteil erwächst und seine
Parteirechte nicht in besonders schwer wiegender Weise verletzt wurden (BGE 135
I 279 E. 2.6.1; 134 I 140 E. 5.5 L 126 I 68 E. 2). Diese Voraussetzungen sind
vorliegend, wie das Obergericht zu Recht dargelegt hat, erfüllt. Der Einwand
des Beschwerdeführers, im Beschwerdeverfahren habe nur sein Verteidiger, aber
nicht er selbst Stellung nehmen können, geht fehl. Es wäre dem Verteidiger
unbenommen gewesen, eine persönliche Eingabe des Beschwerdeführers ins Recht zu
legen, oder der Beschwerdeführer hätte dies unabhängig von seinem Verteidiger
auch selber tun können. Im Übrigen ist dem Beschwerdeführer durch die seinen
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Anordnung von Sicherheitshaft durch
das Regionalgericht Bern-Mittelland ohnehin kein Nachteil erwachsen, da das
Kantonale Zwangsmassnahmengericht am 18. März 2013 in einem anderen Verfahren
wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte gegen den Beschwerdeführer
Untersuchungshaft bis zum 14. Juni 2013 angeordnet hatte. Er hätte
dementsprechend nach der Hauptverhandlung auch unabhängig von der mit einem
formellen Fehler behafteten Haftanordnung des Regionalgerichts Bern-Mittelland
in Haft bleiben müssen.

3.
Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender
Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Flucht-,
Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Das
Obergericht ist zum Schluss gekommen, dass der allgemeine Haftgrund des
dringenden Tatverdachts gegeben ist und Fluchtgefahr besteht.

3.1. Mit der Verurteilung des Beschwerdeführers vom 22. März 2013 ist der
allgemeine Haftgrund des dringenden Tatverdachts gegeben.

3.2. Für die Annahme von Fluchtgefahr genügt nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein
nicht. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur
neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE
125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6).

3.2.1. Der Beschwerdeführer hat für den Fall, dass seine erstinstanzliche
Verurteilung im Berufungsverfahren im Wesentlichen bestätigt wird, mit einer
empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen, auch wenn nach der neuesten
Rechtsprechung des Bundesgerichts (zur Publikation bestimmtes Urteil 6B_337/
2012 vom 19. März 2013 E. 3) die HIV-Infektion als solche dank des
medizinischen Fortschritts nicht mehr als lebensgefährlich im Sinn von Art. 122
Abs. 1 StGB gilt und die rechtliche Beurteilung der dem Beschwerdeführer
vorgeworfenen Taten daher im Berufungsverfahren möglicherweise günstiger
ausfallen könnte. Die in Aussicht stehende lange Freiheitsstrafe bildet damit
jedenfalls einen starken Fluchtanreiz.

3.2.2. Der Beschwerdeführer ist schweizerisch-italienischer Doppelbürger. Er
ist in Italien geboren worden und dort auch jedenfalls bis zum Abschluss der
sechsjährigen Grundschule aufgewachsen. Er lebt zwar nunmehr seit Jahrzehnten
in der Schweiz und hat sich hier eine Existenz - er betreibt eine Musikschule
im eigenen Mehrfamilienhaus - aufgebaut. Allerdings dürfte der Weiterbetrieb
der Schule durch das Strafverfahren bzw. die umfangreiche Berichterstattung der
Medien darüber stark gefährdet sein, hat er doch nach den unbestrittenen
Ausführungen der Staatsanwaltschaft in ihrer Eingabe vom 5. April 2013 ans
Obergericht praktisch alle Schüler verloren. Es erscheint zudem zweifelhaft, ob
er das Haus in Anbetracht der anstehenden Forderungen - im erstinstanzlichen
Urteil wurden ihm Verfahrenskosten von knapp einer halben Million Franken
auferlegt und den Geschädigten zu seinen Lasten allein an Genugtuungen weit
über eine Million Franken zugesprochen - wird halten können. Tragfähige
familiäre Beziehungen zur Schweiz sind offenkundig nicht mehr vorhanden,
nachdem seine Ehe mit Y.________ gescheitert ist und die gemeinsame Tochter bei
ihrer Mutter lebt. Der Beschwerdeführer steht somit in gesellschaftlicher,
familiärer und wirtschaftlicher Hinsicht vor einem Scherbenhaufen; es ist nicht
ersichtlich, was ihn zuverlässig an die Schweiz binden würde. Dazu kommt, dass
seine Cousine und Verlobte jedenfalls bis vor kurzem in Italien lebte.
Insgesamt ist ernsthaft zu befürchten, der Beschwerdeführer könnte in Freiheit
versuchen, sich der weiteren Strafverfolgung in der Schweiz durch eine Flucht
nach Italien zu entziehen, wo er (auch zusammen mit seiner Verlobten)
allenfalls bei ihrer (teilweise gemeinsamen) Verwandtschaft Unterschlupf finden
könnte. Das Obergericht hat zu Recht Fluchtgefahr bejaht.

3.3. Eine Ersatzmassnahme, die geeignet wäre, die Fluchtgefahr zuverlässig zu
bannen, und dementsprechend nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip anstelle von
Sicherheitshaft ergriffen werden könnte, steht nicht zur Verfügung.
Insbesondere könnte eine sogenannte "elektronische Fussfessel" den
Beschwerdeführer nicht daran hindern, sich ins Ausland abzusetzen. Die Flucht
würde bloss früher entdeckt als ohne Fessel. Auch in zeitlicher Hinsicht ist
die Fortführung der Sicherheitshaft verhältnismässig. Der Beschwerdeführer war
72 Tage in Untersuchungshaft und ist seit dem 22. März 2013 in Sicherheitshaft,
womit sich die bisher erstandene Haft auf rund 5 ½ Monate beläuft. Deren
Fortführung erweckt daher auch unter diesem Gesichtspunkt zur Zeit keine
Bedenken.

4.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen
ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches
gutzuheissen ist, da seine finanzielle Situation desolat scheint und die
Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:

2.1. Es werden keine Kosten erhoben.

2.2. Rechtsanwalt Ernst Reber, wird für das bundesgerichtliche Verfahren als
amtlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der
Bundesgerichtskasse entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Bern, dem Regionalgericht Bern-Mittelland, der Generalstaatsanwaltschaft des
Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in
Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 12. Juni 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Störi

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