Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.170/2013
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_170/2013

Urteil vom 30. Mai 2013

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Karlen,
Gerichtsschreiber Forster.

Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Pasquino
Bevilacqua,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Bern,
Region Emmental-Oberaargau, Dunantstrasse 11, 3400 Burgdorf.

Gegenstand
Strafverfahren; amtliche Verteidigung,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 13. März 2013 des Obergerichts des Kantons
Bern,
Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Emmental-Oberaargau, führt eine
Strafuntersuchung gegen Y.________ (nachfolgend: Hauptbeschuldigter) wegen
sexuellen Handlungen mit einem Kind, mehrfach begangen (im Sommer/Herbst 2012)
zum Nachteil seiner (damals vier- bis fünfjährigen) Stief-Urenkelin durch
wiederholte absichtliche Berührungen des bekleideten Intimbereichs des
Opfers. Gleichzeitig eröffnete die Staatsanwaltschaft eine Strafuntersuchung
gegen die Mutter, X.________, und den Vater des betroffenen Kindes sowie gegen
dessen Grossmutter mütterlicherseits wegen Verletzung der Fürsorge- oder
Erziehungspflicht. Letzteren drei Personen wird vorgeworfen, sie hätten in
Kenntnis einer einschlägigen Vorstrafe und der betreffenden Neigungen des
Hauptbeschuldigten nicht verhindert, dass dieser das Kind erneut sexuell
missbrauchte.

B.
Ein Gesuch der beschuldigten Mutter vom 2. November 2012 um Bewilligung der
amtlichen Verteidigung entschied die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 6.
November 2012 abschlägig. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht
des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, mit Beschluss vom 13. März
2013 ab, soweit es darauf eintrat.

C.
Gegen den Entscheid des Obergerichtes gelangte X.________ mit Beschwerde vom 3.
Mai 2013 an das Bundesgericht. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen
Entscheides. Die kantonalen Instanzen haben je auf Vernehmlassungen verzichtet.

Erwägungen:

1.
Die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 78 ff. BGG sind erfüllt und geben zu
keinen Bemerkungen Anlass.

2.
Im angefochtenen Entscheid wird erwogen, selbst im Falle einer Verurteilung der
Beschwerdeführerin wegen eventualvorsätzlicher Vernachlässigung ihrer Fürsorge-
oder Erziehungspflicht werde die in Art. 132 Abs. 3 StPO "vorgesehene
Sanktionsgrenze nicht erreicht". Auch die übrigen Besonderheiten des Falles
liessen eine amtliche Verteidigung nicht als sachlich geboten erscheinen. Dies
gelte namentlich für den Umstand, dass sowohl der (wegen Sexualdelikten)
Hauptbeschuldigte als auch das mutmassliche Opfer amtlich (und eine weitere
mitbeschuldigte Person privat) durch Rechtsvertreter verbeiständet sind. Es
liege hier ein "Bagatellfall" im Sinne von Art. 132 StPO und der einschlägigen
bundesgerichtlichen Rechtsprechung vor.

3.
Die Beschwerdeführerin rügt, die Verweigerung der amtlichen Verteidigung
verletze Art. 132 StPO.

4.

4.1. Gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. a StPO ordnet die Verfahrensleitung
eine amtliche Verteidigung an, wenn bei notwendiger Verteidigung nach Art. 130
StPO die beschuldigte Person trotz Aufforderung der Verfahrensleitung keine
Wahlverteidigung bestimmt oder der Wahlverteidigung das Mandat entzogen wurde
oder sie es niedergelegt hat und die beschuldigte Person nicht innert Frist
eine neue Wahlverteidigung bestimmt. Ein Fall notwendiger Verteidigung liegt
insbesondere vor, wenn der beschuldigten Person eine Freiheitsstrafe von mehr
als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme droht (Art. 130 lit. b
StPO).

4.2. Nach Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ordnet die Verfahrensleitung über die
Fälle der notwendigen Verteidigung hinaus dann eine amtliche Verteidigung an,
wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und
die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist (vgl. auch zur
amtlichen Publikation bestimmtes Bundesgerichtsurteil 1B_387/2012 vom 24.
Januar 2013 E. 4.1). Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist
die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall
handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht
Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen
wäre (Art. 132 Abs. 2 StPO). Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr
vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten, eine Geldstrafe von mehr
als 120 Tagessätzen oder gemeinnützige Arbeit von mehr als 480 Stunden zu
erwarten ist (Art. 132 Abs. 3 StPO).

4.3. Mit den gesetzlichen Bestimmungen von Art. 132 StPO wurde die bisherige
bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV und A rt. 6 Ziff. 3 lit.
c EMRK kodifiziert (zur amtlichen Publikation bestimmtes Bundesgerichtsurteil
1B_387/2012 vom 24. Januar 2013 E. 4.3; Urteil 1B_448/2012 vom 17. Oktober 2012
E. 2.2; je mit Hinweisen). Wie sich aus dem Gesetzeswortlaut ("jedenfalls dann
nicht") deutlich ergibt, sind die Nicht-Bagatellfälle (welche in der
Bundesgerichtspraxis auch als "relativ schwer" bezeichnet werden) nicht auf die
in Art. 132 Abs. 3 StPO beispielhaft genannten Fälle beschränkt. Bei der
Prüfung, ob eine amtliche Verteidigung sachlich geboten ist, sind die konkreten
Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung kommt es bei der Frage, welche Sanktion der beschuldigten Person
droht, nicht auf die abstrakte Strafobergrenze an, sondern auf die konkrete
Sanktion, mit der die beschuldigte Person im Falle einer Anklageerhebung und
Verurteilung zu rechnen hat (BGE 124 I 185 E. 2c S. 188; 120 Ia 43 E. 2b S. 45
f. mit Hinweisen). Eine bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind
und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet,
die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen (BGE 128 I 225 E.
2.5.2 S. 233; 122 I 49 E. 2c/bb S. 51; 275 E. 3a S. 276; 120 Ia 43 E. 2a S. 44
f.; je mit Hinweisen). Falls das in Frage stehende Verfahren besonders stark in
die Rechtsposition der betroffenen Person eingreift, ist die Bestellung eines
unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten. Droht zwar ein
erheblicher, nicht aber ein besonders schwerer Eingriff, müssen zur relativen
Schwere des Eingriffs besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten
hinzukommen, denen die betroffene Person - auf sich allein gestellt - nicht
gewachsen wäre. Als besondere Schwierigkeiten, die eine Verbeiständung
rechtfertigen können, fallen auch in der betroffenen Person liegende Gründe in
Betracht, insbesondere deren Unfähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (
BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 233; 122 I 49 E. 2c/bb S. 51 f.; 275 E. 3a S. 276; je
mit Hinweisen; Urteil 1B_448/2012 vom 17. Oktober 2012 E. 2.3). Auch familiäre
Interessenkonflikte oder mangelnde Schulbildung können tatsächliche oder
rechtliche Schwierigkeiten begründen, welche, insgesamt betrachtet, für die
sachliche Notwendigkeit einer amtlichen Verteidigung sprechen (BGE 138 IV 35 E.
6.3-6.4 S. 38 f. mit Hinweisen). Bei offensichtlichen Bagatelldelikten, bei
denen nur eine Busse oder eine geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, hat
die Bundesgerichtspraxis einen unmittelbaren verfassungsmässigen Anspruch auf
unentgeltliche Rechtsverbeiständung verneint (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 233;
122 I 49 E. 2c/bb S. 51; 120 Ia 43 E. 2a S. 45; je mit Hinweisen).

4.4. Gemäss Art. 219 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
Geldstrafe bestraft, wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer
unmündigen Person verletzt oder vernachlässigt und sie dadurch in ihrer
körperlichen oder seelischen Entwicklung gefährdet (Abs. 1). Handelt die
Täterschaft fahrlässig, so kann statt auf Freiheitsstrafe oder Geldstrafe auf
Busse erkannt werden (Abs. 2). Zwar machen die kantonalen Instanzen geltend,
selbst bei einer Verurteilung wegen eventualvorsätzlicher Tatbegehung (Art. 219
Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 2 Satz 2 StGB) würde voraussichtlich die in Art. 132
Abs. 3 StPO genannte Sanktionsgrenze nicht erreicht. Wie bereits dargelegt
(oben, E. 4.3), regelt jedoch diese Gesetzesbestimmung die einschlägigen
Nicht-Bagatellfälle (bzw. Fälle von sogenannter relativer Schwere) nicht
abschliessend. Neben der drohenden Sanktion (bei einer Verurteilung) ist hier
den weiteren Besonderheiten des Falles ausreichend Rechnung zu tragen:

4.5. Die Staatsanwaltschaft untersucht neben mehrfachen sexuellen Handlungen
zum Nachteil eines Kindes, inwiefern das Verhalten von drei
Erziehungsberechtigten und Betreuungspersonen, darunter die Beschwerdeführerin,
den Tatbestand von Art. 219 StGB erfüllt. Mutmassliches Opfer ist das eigene
(heute sechsjährige) Kind der Beschwerdeführerin. Beim Hauptbeschuldigten
(betreffend Sexualdelikte) handelt es sich um ihren Stief-Grossvater. Ausserdem
sind neben der Beschwerdeführerin auch noch ihr Ehemann (Vater des Kindes) und
ihre Mutter (Grossmutter des Kindes und Stieftochter des Hauptbeschuldigten)
wegen Vernachlässigung ihrer Fürsorge- oder Erziehungspflichten mitbeschuldigt.
Nach Darlegung der kantonalen Instanzen werden die betroffenen
Familienmitglieder zu ihren jeweiligen Verantwortlichkeiten und Tatbeiträgen zu
befragen sein. In dieser Konstellation liegt die Gefahr von (mehrfachen)
Interessenkollisionen bzw. familiären Loyalitätskonflikten auf der Hand. Dies
umso mehr, als zwei der Beschuldigten (nämlich die Mutter der
Beschwerdeführerin sowie der Hauptbeschuldigte) auch noch im selben Haus
wohnen. Zudem führt die Strafuntersuchung, die delikate Bereiche des
Familienfriedens und der Privatsphäre tangiert, zwangsläufig zu grossen
psychischen Belastungen für die betroffenen Familienangehörigen. In
prozessualer Hinsicht kommt schliesslich noch Folgendes hinzu: Sowohl das
mutmassliche Opfer, das sich als Privatklägerin hat statuieren lassen und über
eine amtliche Prozessbeistandschaft verfügt, als auch der Hauptbeschuldigte
sind je durch Rechtsvertreter amtlich verbeiständet. Darüber hinaus ist auch
die mitbeschuldigte Mutter der Beschwerdeführerin (privat) anwaltlich
vertreten. Weitere prozessuale Komplikationen ergeben sich im Übrigen aus dem
Umstand, dass hier ein Opfer im Kindesalter über Handlungen gegen seine
sexuelle Integrität zu befragen ist (vgl. Art. 152-154 StPO).

4.6. Bei gesamthafter Betrachtung kann die fragliche Untersuchung nicht als
Bagatellfall (i.S.v. Art. 132 Abs. 2-3 StPO) eingestuft werden. Die Beschwerde
ist insofern gutzuheissen. Die kantonalen Instanzen haben die finanzielle
Bedürftigkeit der Gesuchstellerin (als zusätzliche gesetzliche
Anspruchsvoraussetzung) noch nicht geprüft (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). Es
ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, dies als erste Instanz abzuklären. Die
Sache ist daher an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen, welche das Gesuch der
Beschwerdeführerin um amtliche Verteidigung im Lichte der bundesgerichtlichen
Erwägungen neu zu prüfen haben wird (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_448/2012
vom 17. Oktober 2012 E. 2.3).

5.
Die Beschwerde ist gutzuheissen, der angefochtene Entscheid des Obergerichts
aufzuheben und die Sache an die Staatsanwaltschaft zu neuer Entscheidung
zurückzuweisen.

Gerichtskosten sind nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der anwaltlich
vertretenen Beschwerdeführerin ist eine angemessene Parteientschädigung
zuzusprechen (Art. 68 BGG). Bei diesem Verfahrensausgang wird ihr Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege hinfällig.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Beschluss vom 13. März 2013
des Obergerichts des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, aufgehoben
und die Sache zu neuer Entscheidung an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Bern hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr.
2'500.-- (pauschal, inkl. MWST) zu entrichten.

4.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Obergericht des Kantons
Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 30. Mai 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Forster

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