Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.140/2013
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2013
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2013



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_140/2013

Urteil vom 25. April 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Chaix,
Gerichtsschreiber Härri.

Verfahrensbeteiligte
X.________, z.Zt. Regionalgefängnis Y.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Federico A. Pedrazzini,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen.

Gegenstand
Sicherheitshaft; Fluchtgefahr,

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom
5. März 2013.

Sachverhalt:

A.
Am 15./16. Mai 2012 erkannte das Kreisgericht Rorschach den türkischen
Staatsangehörigen X.________ (geb. 1978) schuldig der Vergewaltigung, der
sexuellen Belästigung, des mehrfachen Führens eines Motorfahrzeugs trotz
Entzugs des erforderlichen Ausweises, der mehrfachen Übertretung der Verordnung
über die Arbeits- und Ruhezeit der berufsmässigen Chauffeure sowie der
Verkehrsregelverletzung. Es widerrief den bedingten Vollzug zweier Vorstrafen
und auferlegte ihm eine Gesamtstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten sowie Fr.
2'500.-- Busse. Überdies untersagte es ihm für die Dauer von fünf Jahren, eine
berufliche Tätigkeit im Bereich des Personentransports mittels
Personenfahrzeugen auszuüben. Das Kreisgericht erachtete es als erwiesen, dass
X.________ als Taxichauffeur eine betrunkene Kundin sexuell belästigte, indem
er ihr die Bluse aufknöpfte, seine Hand unter ihren Büstenhalter schob und ihre
Brüste anfasste; ebenso, dass er eine andere stark alkoholisierte Kundin in
seinem Taxi vergewaltigte.

Auf Berufung von X.________ hin bestätigte das Kantonsgericht St. Gallen am 5.
Dezember 2012 die kreisgerichtlichen Schuldsprüche. Es verurteilte ihn zu einer
Freiheitsstrafe von 3 Jahren und einem Monat sowie zu einer Busse von Fr.
2'500.--.

Dagegen erhob X.________ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht. Dieses
Verfahren ist derzeit bei der Strafrechtlichen Abteilung hängig (6B_210/2013).

B.
Inzwischen führte die Staatsanwaltschaft St. Gallen ein weiteres Strafverfahren
gegen X.________; dies wegen des Verdachts der einfachen Körperverletzung, der
mehrfachen Drohung und der mehrfachen versuchten Nötigung. In jenem Verfahren
nahm ihn die Polizei am 25. September 2012 fest. Anschliessend wurde er in
Untersuchungshaft versetzt. Am 20. Dezember 2012 trat er in den vorzeitigen
Strafvollzug ein.

C.
Am 25. Februar 2013 beantragte die Staatsanwaltschaft dem Kantonsgericht im
Verfahren wegen Vergewaltigung etc., gegen X.________ für den Fall der
Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug Sicherheitshaft anzuordnen.
Am 5. März 2013 hiess das Kantonsgericht (Strafkammer) diesen Antrag bis zum
Strafantritt oder vorerst längstens bis zum 5. September 2013 gut. Es bejahte
den dringenden Tatverdacht und Fluchtgefahr. Mildere Ersatzmassnahmen anstelle
der Sicherheitshaft erachtete es als untauglich.

D.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Entscheid des
Kantonsgerichts vom 5. März 2013 sei aufzuheben; er sei aus der Sicherheitshaft
zu entlassen.

E.
Das Kantonsgericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Die Staatsanwaltschaft hat sich vernehmen lassen. Sie beantragt die Abweisung
der Beschwerde.

X.________ hat eine Replik eingereicht.

Erwägungen:

1.
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde
in Strafsachen gegeben.

Die Vorinstanz hat gestützt auf Art. 232 StPO entschieden; dies zulässigerweise
in Kammerbesetzung (BGE 138 IV 81 E. 2.1 S. 83). Mit der Einreichung der
Beschwerde in Strafsachen gegen ihr Urteil vom 5. Dezember 2012 ging die
Befugnis zur Haftanordnung nicht an das Bundesgericht über. Sie verblieb
vielmehr bei der Vorinstanz (Urteile 6B_135/2012 vom 18. April 2012 E. 1.6 f.;
1B_85/2009 vom 8. April 2009 E. 7). Gemäss Art. 232 Abs. 2 StPO ist der
vorinstanzliche Entscheid nicht anfechtbar. Somit steht kein Rechtsmittel nach
der Strafprozessordnung zur Verfügung (Art. 380 StPO). Die Beschwerde in
Strafsachen ist daher gemäss Art. 80 BGG zulässig.

Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur
Beschwerde befugt.

Da auch die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die
Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO ist Sicherheitshaft zulässig, wenn die
beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist
und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie: a. sich durch Flucht dem
Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (...).

Der Beschwerdeführer anerkennt den dringenden Tatverdacht. Er macht einzig
geltend, es fehle an der Fluchtgefahr.

2.2 Nach der Rechtsprechung genügt für die Annahme von Fluchtgefahr die Höhe
der dem Angeschuldigten drohenden Freiheitsstrafe für sich allein nicht.
Fluchtgefahr darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der drohenden Freiheitsstrafe kann immer nur neben
anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE 125 I 60
E. 3a mit Hinweisen).

2.3 Der Beschwerdeführer ist nicht in der Schweiz aufgewachsen. Er ist 2003,
also im Alter von 25 Jahren, hierher gekommen. Seine Eltern leben in der
Türkei. Wie sich aus dem über den Beschwerdeführer erstellten psychiatrischen
Gutachten vom 11. Oktober 2012 (S. 6) ergibt, hatte er vor seiner Festnahme zu
den Eltern regelmässigen Kontakt; dies normalerweise jeden zweiten Tag. Zudem
hat er in der Türkei 3 Brüder, zu denen er ein gutes Verhältnis pflegt.
Überdies hat er nach wie vor Kontakt zu ehemaligen Schulkameraden in der Türkei
(Gutachten a.a.O.). Nach seinen eigenen Angaben ist die Türkei für ihn seine
Heimat (Gutachten S. 7). Er hat damit nach wie vor eine enge Bindung zur
Türkei.

Die Ehefrau des Beschwerdeführers, welche türkischer Abstammung ist, ist in der
Schweiz aufgewachsen und Schweizer Bürgerin. Von ihr lebt er seit dem 15. Mai
2012 getrennt. Die Ehefrau hat das Scheidungsverfahren anhängig gemacht. Der
Beschwerdeführer gibt an, die Scheidung sei ihm gleich (Gutachten S. 22). Eine
tragfähige eheliche Beziehung besteht somit nicht mehr.

Der Beschwerdeführer hat mit seiner Ehefrau zwei gemeinsame Söhne im Alter von
5 und 7 Jahren. Wie sich aus dem dem Bundesgericht eingereichten Schreiben des
Amts für Justizvollzug des Kantons St. Gallen vom 15. April 2013 ergibt, hat
das Kreisgericht St. Gallen den Beschwerdeführer am 11. März 2013 insbesondere
wegen einfacher Körperverletzung zu 8 Monaten Freiheitsstrafe, abzüglich 86
Tage Untersuchungshaft, verurteilt. Das Kreisgericht erachtete es also als
erwiesen, dass der Beschwerdeführer die Ehefrau geschlagen hat. Er hat dieses
Urteil nach seinen eigenen Angaben nicht angefochten (Beschwerde S. 7 Ziff.
16). Das Gutachten geht davon aus, die Wahrscheinlichkeit, dass es zu weiteren
tätlichen Übergriffen des Beschwerdeführers auf die Ehefrau und gegebenenfalls
ihre Familie kommen könnte, sei erhöht (S. 24). Unter diesen Umständen ist
fraglich, ob der Beschwerdeführer ein ausgedehntes Besuchsrecht für die Kinder
erhalten wird.

Der Beschwerdeführer war bereits vor seiner Festnahme am 25. September 2012
arbeitslos (Beschwerde S. 5 oben). Seine beruflichen Aussichten in der Schweiz
sind somit beeinträchtigt, zumal er mit der Bestätigung des von den kantonalen
Gerichten ausgesprochenen Berufsverbots als Taxifahrer rechnen muss. Seine
finanzielle Lage ist schlecht. Er hat kein Einkommen, dagegen hohe Schulden
(vgl. Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege vom 16. April 2013 S. 2. ff.). Mit
einer Rückkehr in sein Heimaltland könnte er sich demnach nicht nur dem
drohenden Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen, sondern auch dem Zugriff der
Gläubiger.

Das Kantonsgericht hat eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und einem Monat
ausgesprochen. Der Beschwerdeführer muss daher mit einer empfindlichen Strafe
rechnen. Da er vor Bundesgericht die Feststellung des Sachverhalts nur rügen
kann, wenn sie offensichtlich unrichtig ist (Art. 97 Abs. 1 BGG), hat er
geringere Chancen, einen Freispruch vom Vorwurf der von ihm bestrittenen
sexuellen Belästigung und Vergewaltigung zu erlangen, als noch vor
Kantonsgericht, das den Sachverhalt frei prüfen konnte (Art. 398 Abs. 3 lit. b
StPO). Entsprechend hat sich die Fluchtgefahr vergrössert. Dies relativiert die
Bedeutung des Umstandes, dass der Beschwerdeführer nach der Verurteilung durch
das Kreisgericht Rorschach am 15./16. Mai 2012 bis zur Festnahme am 25.
September 2012 nicht geflohen ist.

Der Beschwerdeführer hat die Niederlassungsbewilligung. Gemäss Art. 63 Abs. 1
lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG (SR 142.20) kann eine solche widerrufen
werden, wenn der Ausländer zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt
wurde (vgl. zur amtlichen Publikation bestimmtes Urteil 2C_828/2011 vom 12.
Oktober 2012 E. 2.1 mit Hinweisen). Bei einer allfälligen Bestätigung der
kantonsgerichtlichen Verurteilung durch die Strafrechtliche Abteilung des
Bundesgerichts muss der Beschwerdeführer somit - was er anerkennt (Beschwerde
S. 7) - mit dem Widerruf der Niederlassungsbewilligung rechnen.

Würdigt man dies gesamthaft, besteht nicht nur die abstrakte Möglichkeit der
Flucht. Vielmehr sind dafür erhebliche Anhaltspunkte gegeben. Wenn die
Vorinstanz Fluchtgefahr bejaht hat, verletzt das daher kein Bundesrecht.

2.4 Die Vorinstanz nimmt an, mit Ersatzmassnahmen lasse sich die Fluchtgefahr
nicht hinreichend bannen. Dagegen bringt der Beschwerdeführer nichts vor. Eine
Bundesrechtsverletzung ist insoweit auch nicht ersichtlich. Auf auf Erwägungen
der Vorinstanz (S. 6 E. 6) kann verwiesen werden (Art. 109 Abs. 3 BGG).

3.
Die Beschwerde ist danach abzuweisen.

Der Beschwerdeführer ist mittellos. Da die Sicherheitshaft einen schweren
Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte er sich zur Beschwerde
veranlasst sehen. Die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art.
64 BGG wird daher bewilligt. Es werden keine Kosten erhoben und dem Anwalt des
Beschwerdeführers wird eine Entschädigung ausgerichtet.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Federico A. Pedrazzini, wird
aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons St.
Gallen und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. April 2013

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Fonjallaz

Der Gerichtsschreiber: Härri