Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.11/2013
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2013
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 2013



Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_11/2013

Urteil vom 11. März 2013
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Merkli, Chaix,
Gerichtsschreiber Uebersax.

Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwälte Prof. Dr. Urs Saxer und/oder Thomas Rieser,

gegen

1. Y.________, Gerichtspräsidentin Bremgarten II, Rathausplatz 1, 5620
Bremgarten,
2. Z.________, Gerichtsschreiberin des Bezirksgerichts Bremgarten, Rathausplatz
1, 5620 Bremgarten,
Beschwerdegegnerinnen,

Bezirksgericht Bremgarten, Rathausplatz 1, 5620 Bremgarten,
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, 5001 Aarau.

Gegenstand
Ausstandsbegehren,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 15. November 2012 des Obergerichts des
Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A.
A.a Gegen X.________ ist seit der Anklageerhebung vom 1. März 2010 beim
Bezirksgericht Bremgarten ein Strafverfahren wegen Verdachts auf mehrfache
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz durch widerrechtlichen Umgang
mit Betäubungsmitteln in der Eigenschaft als Medizinalperson sowie wegen
mehrfacher Widerhandlung gegen das Gesundheitsgesetz durch verbotene
Selbstdispensation hängig. Am 14. Juni 2010 fand vor der Gerichtspräsidentin II
des Bezirksgerichts Bremgarten die Hauptverhandlung statt. Der Verteidiger von
X.________ gab seine Plädoyernotizen vorweg ab. Nachdem er während der
Verhandlung ein Ausstandsgesuch gegen die Gerichtspräsidentin und die
Gerichtsschreiberin gestellt hatte, wurde die Verhandlung abgebrochen und der
Ausstandsantrag dem Obergericht des Kantons Aargau überwiesen, ohne dass es zum
Plädoyer kam.
A.b Am 9. März 2011 wies die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts
das Ausstandsbegehren ab, soweit sie darauf eintrat.
A.c Am 7. Juni 2011 ordnete die Gerichtspräsidentin II des Bezirksgerichts
Bremgarten ein medizinisches Gutachten an, das am 15. Februar 2012 erstattet
und gleichentags den Parteien zugestellt wurde. Am 28. März 2012 liess sich
X.________ dazu vernehmen.
A.d Mit Eingabe vom 22. Mai 2012 stellte X.________ ein zweites Ausstandsgesuch
gegen die Gerichtspräsidentin II des Bezirksgerichts Bremgarten, Y.________,
und die fragliche Gerichtsschreiberin, Z.________. Das Ausstandsbegehren wurde
im Wesentlichen damit begründet, das Gericht habe in unzulässiger und Treu und
Glauben verletzender Weise Unterlagen des Verteidigers, insbesondere die
Plädoyernotizen, zurückbehalten, diesen Vorgang im Protokoll falsch
festgehalten und die Unterlagen dem Gutachter weitergegeben, der sie für sein
Gutachten verwendet habe. Daraus ergebe sich der Anschein der Befangenheit.
A.e Am 5. Juni 2012 trat das Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer
in Strafsachen, auf das Ausstandsbegehren von X.________ nicht ein.
A.f Mit Urteil vom 21. September 2012 hiess das Bundesgericht eine Beschwerde
von X.________ aus formellen Gründen (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches
Gehör) gut, hob den Entscheid des Obergerichts vom 5. Juni 2012 auf und wies
die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurück (Verfahren 1B_407/2012).
A.g Nach ergänzendem Verfahren wies das Obergericht des Kantons Aargau,
Beschwerdekammer in Strafsachen, am 15. November 2012 das Ausstandsbegehren ab,
soweit es darauf eintrat.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 7. Januar 2013 an das Bundesgericht beantragt
X.________, den Entscheid des Obergerichts vom 15. November 2012 aufzuheben und
den Ausstand der Gerichtspräsidentin II Y.________ und der Gerichtsschreiberin
Z.________ anzuordnen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das
Obergericht zurückzuweisen.

C.
Die Oberstaatsanwaltschaft und das Obergericht, Beschwerdekammer in
Strafsachen, des Kantons Aargau haben auf Stellungnahmen verzichtet. Das
Bezirksgericht Bremgarten, Gerichtspräsidentin Y.________ und
Gerichtsschreiberin Z.________ haben sich innert Frist nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 78 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 80 und Art. 92 Abs. 1 BGG
steht gegen kantonal letztinstanzliche Entscheide über den Ausstand von
Magistratspersonen im Strafprozess und weiteren Beteiligten auf Behördenseite,
die in die Entscheidfindung einbezogen sind, wie namentlich Gerichtsschreiber
direkt die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offen. Die Person,
die den Ausstand beantragt und am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen hat,
ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt (vgl. das Urteil des
Bundesgerichts 1B_263/2012 vom 8. Juni 2012 E. 1). Der Beschwerdeführer erfüllt
diese Voraussetzungen. Auf die im Übrigen frist- und formgerecht erhobene
Beschwerde ist somit einzutreten.

1.2 Mit der Beschwerde an das Bundesgericht kann, von hier nicht
interessierenden Ausnahmen abgesehen, nur die Verletzung von Bundesrecht,
Völkerrecht und kantonalen verfassungsmässigen Rechten (vgl. Art. 95 lit. a-c
BGG) sowie die offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhaltes (vgl.
Art. 97 Abs. 1 BGG) gerügt werden. Das Bundesgericht prüft nur die vom
Beschwerdeführer erhobenen und begründeten Rügen (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG sowie
BGE 133 II 249 E. 1.4 S. 254 f.). Im vorliegenden Fall rügt der
Beschwerdeführer zulässigerweise die Verletzung von Bundesrecht und von
Völkerrecht, namentlich der Strafprozessordnung, der Bundesverfassung sowie der
Europäischen Menschenrechtskonvention.

2.
Art. 56 StPO zählt verschiedene Gründe auf, die zum Ausstand von in einer
Strafbehörde tätigen Personen führen. Nach Art. 56 lit. f StPO trifft dies
namentlich aus anderen (als den in lit. a-e der gleichen Bestimmung genannten)
Gründen zu, insbesondere wenn die in der Strafverfolgung tätige Person wegen
Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand
befangen sein könnte. Art. 56 StPO konkretisiert die Verfassungsbestimmung von
Art. 30 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Danach hat jede Person Anspruch
darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und
unbefangenen Richter unter Einschluss weiterer am Entscheid wesentlich
beteiligten Gerichtspersonen wie insbesondere Gerichtsschreiber ohne Einwirken
sachfremder Umstände entschieden wird. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen
korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im
Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Die Garantie
des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung
Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der
Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Solche Umstände können entweder in
einem bestimmten Verhalten der betreffenden Gerichtsperson oder in gewissen
äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein
(vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_814/2011 vom 30. August 2012, zur
Publikation vorgesehen; BGE 131 I 113 E. 3.4 S. 116; Urteil 1B_703/2011 vom 3.
Februar 2012 E. 2.3 und 2.4; analog für den Ausstand eines Staatsanwalts BGE
138 IV 142). Bei der Anwendung von Art. 56 lit. f StPO ist entscheidendes
Kriterium, ob bei objektiver Betrachtungsweise der Ausgang des Verfahrens noch
als offen erscheint (MARKUS BOOG, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler
Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 38 zu Art. 56 StPO).
Wird der Ausstandsgrund aus materiellen oder prozessualen Rechtsfehlern
abgeleitet, so sind diese nur wesentlich, wenn sie besonders krass sind und
wiederholt auftreten, sodass sie einer schweren Amtspflichtverletzung
gleichkommen und sich einseitig zulasten einer der Prozessparteien auswirken;
andernfalls begründen sie keinen hinreichenden Anschein der Befangenheit (BOOG,
a.a.O., N. 59 zu Art. 56 StPO; vgl. auch BGE 115 Ia 400 E. 3b S. 404; Urteil
des Bundesgerichts 1B_34/2011 vom 16. Februar 2011 E. 2.3.2). Nach Art. 58 Abs.
1 StPO ist das Ausstandsgesuch ohne Verzug zu stellen, sobald die betroffene
Partei vom Ausstandsgrund Kenntnis hat, wobei die den Ausstand begründenden
Tatsachen glaubhaft zu machen sind.

3.
Die Vorinstanz begründete ihren für den Beschwerdeführer negativen Entscheid
mit zwei Argumenten: Erstens erachtete sie sein Ausstandsgesuch als verspätet,
und zweitens verneinte sie, dass bei den beiden Gerichtspersonen, um deren
Ausstand der Beschwerdeführer ersucht, der Anschein von Befangenheit oder der
Voreingenommenheit besteht. Im Ergebnis wies das Obergericht daher die bei ihm
eingereichte Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. Der Beschwerdeführer
beanstandet dieses Dispositiv mit der Begründung, entweder sei wegen Verspätung
auf das Gesuch nicht einzutreten oder dann sei dieses mangels Ausstandsgrundes
in der Sache abzuweisen gewesen. Eine Kombination von beidem sei
ausgeschlossen, weshalb das angefochtene Urteil unklar bzw. fehlerhaft sei.
Indessen geht aus diesem mit genügender Klarheit hervor, dass die Vorinstanz
dem Ansinnen des Beschwerdeführers aus doppeltem Grund nicht Folge leistete. In
erster Linie erachtete sie das Gesuch als verspätet. Ergänzend beurteilte sie
dieses als unbegründet. Mit dem gewählten Dispositiv unterstrich das
Obergericht diese zweifache Begründung. Darin liegt kein Verstoss gegen
massgebliches Bundesrecht. Entgegen dem weiteren Einwand des Beschwerdeführers
prüfte das Obergericht sodann die inhaltliche Begründetheit des
Ausstandsgesuchs in genügendem Umfang und erweisen sich die entsprechenden
Ausführungen im angefochtenen Entscheid als ausreichend. Daraus geht nämlich in
nachvollziehbarer Weise hervor, weshalb dem Ausstandsbegehren keine Folge
geleistet wurde, was dem Beschwerdeführer durchaus ermöglichte, das Urteil des
Obergerichts angemessen anzufechten.

4.
4.1 Der angefochtene Entscheid erweist sich als rechtmässig, wenn einer der
zwei Gründe, die zur Ablehnung des Ausstandsbegehrens führten, vor Bundesrecht
standhält. Es rechtfertigt sich daher, die auf den ersten Blick kompliziertere
Frage der Rechtzeitigkeit der Gesuchseinreichung zumindest vorerst offen zu
lassen, und vorweg die inhaltliche Begründetheit des Ausstandsgesuchs zu
überprüfen.

4.2 Im Wesentlichen bringt der Beschwerdeführer zunächst vor, die mit seinem
Fall befasste Gerichtspräsidentin habe bereits im Jahre 2010 bei der Behandlung
seines ersten Ausstandsgesuchs die Befragung in sehr tendenziöser Art und Weise
vorgenommen. Bei der Verhandlung vom 14. Juni 2012 habe sie den
Beschwerdeführer sodann mit auf privaten Erkundigungen beruhenden Erkenntnissen
konfrontiert. Weiter habe er erst von der Vorinstanz im Rahmen eines
Wiedererwägungsgesuchs Einsicht in die Handprotokolle der Verhandlungen
erhalten. Hauptsächlich begründet der Beschwerdeführer sein Ausstandsbegehren
aber damit, dass die Gerichtspräsidentin und die beteiligte Gerichtsschreiberin
die von seinem Rechtsvertreter an der Verhandlung vom 14. Juni 2010
eingereichten Plädoyernotizen in Kopie bei den Akten behalten hätten, obwohl er
ihre vollständige Rückgabe verlangt hatte, was ihm zugesichert worden sei, und
die Notizen in der Folge mit den Akten zum Gutachter gelangten, der daraus
ausführlich zitiert habe. Insgesamt belege all dies die Voreingenommenheit bzw.
Befangenheit der Gerichtspräsidentin und der Gerichtsschreiberin ihm gegenüber.

4.3 Dass sich die fraglichen Gerichtspersonen dem Beschwerdeführer gegenüber
tendenziös verhalten hätten, ist durch nichts belegt. Auch er selbst vermag
seine entsprechende Behauptung durch keine konkreten Hinweise zu unterlegen.
Was eventuelle private Erkundigungen betrifft, so gilt dafür dasselbe wie für
eine allenfalls fragwürdige Ablage der Plädoyernotizen in den Verfahrensakten.
Wie das Obergericht dazu richtig festgehalten hat, könnte dies höchstens
allenfalls als fehlerhafte Verfahrenshandlung beurteilt werden. Ein Anschein
von Befangenheit oder Voreingenommenheit lässt sich daraus hingegen nicht
ableiten. Die Vorgänge sind protokolliert bzw. dokumentiert, auch dass die
Plädoyernotizen nicht verlesen wurden, und können im Strafverfahren beanstandet
werden. Worin eine Amtsgeheimnisverletzung bzw. ein eigentlicher Verstoss gegen
Amtspflichten liegen soll, vermag der Beschwerdeführer nicht darzutun. Soweit
ein prozessualer Fehler vorliegen sollte, begründet dies für sich noch nicht
den Anschein der Befangenheit oder Voreingenommenheit. Wie dargelegt (vgl. E.
2), bedürfte es dafür wiederholter besonders krasser Verfahrensfehler, die
einer schweren Amtspflichtverletzung gleichkommen und sich einseitig zulasten
einer der Prozessparteien auswirken. Das trifft bei den vom Beschwerdeführer
geltend gemachten Mängeln, selbst wenn es sich um Verfahrensfehler handeln
sollte, jedenfalls nicht zu.

4.4 Die Abweisung des Ausstandsgesuchs in der Sache verstösst demnach nicht
gegen Bundesrecht unter Einschluss der Bundesverfassung und der Europäischen
Menschenrechtskonvention. Unter diesen Umständen braucht nicht mehr geprüft zu
werden, ob die Vorinstanz überdies zu Recht davon ausging, der Beschwerdeführer
habe das Ausstandsbegehren zu spät gestellt.

5.
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen.
Bei diesem Verfahrensausgang wird der unterliegende Beschwerdeführer
kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1, Art. 65 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksgericht Bremgarten, der
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. März 2013
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Aemisegger

Der Gerichtsschreiber: Uebersax