Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 993/2012
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_993/2012

Urteil vom 16. April 2013
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.

Verfahrensbeteiligte
R.________,
vertreten durch Rechtsanwalt und Notar Claude Wyssmann,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 29.
Oktober 2012.

Sachverhalt:

A.
A.a Der 1957 geborene R.________ meldete sich wegen "Berufskrankheit,
Erkrankung Lunge und Atmungsorgane" im November 2007 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte eine Rente. Mit Vorbescheid vom 8.
Januar 2009 stellte die IV-Stelle Bern u.a. gestützt auf das Gutachten des
Centre X.________, vom 3. Dezember 2008 die Abweisung des Leistungsbegehrens in
Aussicht. Dagegen erhob der Versicherte am 26. Januar 2009 Einwand. Am 16.
Februar 2009 erliess die IV-Stelle eine im Sinne des Vorbescheids lautende
Verfügung.
A.b Im Dezember 2009 meldete sich R.________ erneut bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Rücksprache mit dem
regionalen ärztlichen Dienst veranlasste die IV-Stelle eine medizinische
Abklärung (Expertise des ABI [Ärztliches Begutachtungsinstitut,] vom 20.
Dezember 2010). Mit Vorbescheid vom 24. Januar 2011 teilte die IV-Stelle dem
Versicherten mit, mangels eines Gesundheitsschadens mit invalidisierender
Wirkung bestehe kein Rentenanspruch. Dagegen liess R.________ durch
Rechtsanwalt Claude Wyssmann Einwand erheben, wobei er unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung für das Vorbescheidverfahren beantragte.
Mit Verfügung vom 7. Juni 2011 wies die IV-Stelle das Gesuch um unentgeltliche
Verbeiständung im Verwaltungsverfahren ab.

B.
Die Beschwerde des R.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 29. Oktober 2012 ab.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt R.________,
der Entscheid vom 29. Oktober 2012 sei aufzuheben und ihm für das
Vorbescheidverfahren die unentgeltliche Rechtsverbeiständung zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen,
unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche
Verfahren.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale
Verwaltungsgericht verzichtet auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.
Der Rechtsvertreter von R.________ hat sich in einer weiteren Eingabe zur Sache
geäussert.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid bestätigt die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtsverbeiständung für das (laufende) Vorbescheidverfahren durch die
IV-Stelle. Dabei handelt es sich um einen Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG
(vgl. SVR 2009 IV Nr. 5 S. 9, 8C_48/2007; vgl. auch Urteil 9C_878/2012 vom 26.
November 2012).

2.
Im vorinstanzlichen Entscheid werden die allgemein gültigen Voraussetzungen für
den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung (Bedürftigkeit,
Nichtaussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit der
Vertretung) und deren Konkretisierung im Verwaltungsverfahren vor der IV-Stelle
(Art. 37 Abs. 4 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG)
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen (vgl. etwa BGE 132 V 200 E. 4.1 S.
200 f. und SVR 2009 IV Nr. 3 S. 4, I 415/06 E. 4.2).

3.
Nach Auffassung der Vorinstanz ist eine anwaltliche Vertretung im
Vorbescheidverfahren sachlich nicht geboten. Strittig sei einzig, ob der
Beschwerdeführer an einem invalidisierenden Gesundheitsschaden leide, was die
IV-Stelle mit der Begründung verneint habe, die festgestellten Befunde (im
ABI-Gutachten vom 20. Dezember 2010) seien zu gering, um eine Invalidität zu
bewirken. Es gehe somit nicht um einen Ausnahmefall mit besonders schwierigen
rechtlichen und tatsächlichen Fragen, sondern vielmehr um einen Fall von eher
unterdurchschnittlicher Komplexität. Entsprechend habe sich der Rechtsvertreter
im Wesentlichen darauf beschränkt, im Einwandverfahren auf von der IV-Stelle
abweichende Einschätzungen in den Akten zu verweisen und Bestätigungen der
behandelnden Ärzte einzureichen. Dass der Beschwerdeführer dies nicht auch ohne
anwaltliche Vertretung hätte tun können, sei zu verneinen, habe er doch
dasselbe bei vergleichbarer Ausgangslage eigenständig im Einwandverfahren gegen
den Vorbescheid vom 8. Januar 2009 getan. Damit habe er bewiesen, dass er auch
in sprachlicher Hinsicht (bei damals unstrittig noch guten Deutschkenntnissen)
durchaus in der Lage sei, sich im IV-Verfahren auch ohne anwaltliche
Verbeiständung selbständig zurechtzufinden. Eine seither allenfalls verstärkte
depressive Symptomatik lasse bei einem für die Zeit ab 2006 als im Wesentlichen
unverändert geklagten Beschwerdebild nicht auf eine zwischenzeitliche
Erforderlichkeit einer Verbeiständung schliessen. Die gegenteilige Auffassung
liefe darauf hinaus, dass in praktisch allen oder den meisten
Vorbescheidverfahren der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung
bejaht werden müsste, was indessen der gesetzlichen Konzeption widerspräche.

4.
4.1 Im (laufenden) Vorbescheidverfahren geht es zunächst um den Beweiswert des
ABI-Gutachtens vom 20. Dezember 2010, insbesondere um den Schweregrad der
diagnostizierten rezidivierenden depressiven Störung. Schwachstellen einer
fachärztlichen Expertise aufgrund der diesbezüglich massgebenden Rechtsprechung
(vgl. BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) und deren rechtliche Relevanz zu erkennen,
erfordert in der Regel gewisse medizinische Kenntnisse und juristischen
Sachverstand. Es ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer über beides
nicht verfügt. Trotzdem kann insoweit nicht von einer komplexen Fragestellung
gesprochen werden, die eine anwaltliche Vertretung geböte. Die gegenteilige
Auffassung liefe darauf hinaus, dass der Anspruch auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung in praktisch allen Vorbescheidverfahren bejaht werden
müsste, in denen ein medizinisches Gutachten zur Diskussion steht, was der
Konzeption von Art. 37 Abs. 4 ATSG als einer Ausnahmeregelung widerspräche
(Urteile 8C_717/2012 vom 8. November 2012 E. 3.5, 8C_370/2010 vom 7. Februar
2011 E. 7.1, 9C_315/2009 vom 18. September 2009 E. 2.1 und Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 631/06 vom 16. Oktober 2006 E. 3; Urteil 9C_676/2012
vom 21. November 2012 E. 3.2.1). Es bedarf mithin weiterer Umstände, welche die
Sache als nicht (mehr) einfach und eine anwaltliche Vertretung als notwendig
erscheinen lassen (Urteil 9C_908/2012 vom 22. Februar 2013 E. 5.2 in fine).
4.2
4.2.1 Nach Auffassung des Beschwerdeführers geht es um mehr als nur den
Beweiswert eines medizinischen Gutachtens: Gemäss der Expertise des ABI
bestehen neben der rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leichte bis
mittelgradige Episode (ICD-10 F33.0, F33.1) auch eine Somatisierungsstörung
(ICD-10 F45.0) und ein chronisches zerviko- und lumbovertebrales
Schmerzsyndrom. Bei einem solchen Krankheitsbild wird eine Arbeitsunfähigkeit
aus medizinisch-psychiatrischer Sicht nur ausnahmsweise als invalidisierend
auch im rechtlichen Sinne (Art. 4 Abs. 1 IVG sowie Art. 3 Abs. 1 und Art. 6
ATSG) anerkannt (Urteil 9C_673/2012 vom 28. November 2012 E. 3.1). Es gilt die
Vermutung der Überwindbarkeit der Schmerzstörung (SVR 2005 IV Nr. 6 S. 21, I
457/02 E. 7.3 [nicht publ. in: BGE 130 V 396]; Urteil 9C_148/2012 vom 13.
August 2012 E. 2.1). Diese Vermutung kann umgestossen werden. Ob das gelingt,
beurteilt sich nach der in der Beschwerde mit "Überwindungspraxis" bezeichneten
Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 und seitherige Urteile (vgl. etwa BGE 136 V
279 E. 3.2.3 S. 283 und Urteil 9C_736/2011 vom 7. Februar 2012 E. 1.1). Dass
deren Anwendung im Einzelfall nicht einfach sei, wie in der Beschwerde
vorgebracht wird, genügt nach der gesetzlichen Konzeption (vorne E. 4.1) nicht,
um die Notwendigkeit einer (unentgeltlichen) Rechtsverbeiständung zu
rechtfertigen.
4.2.2 Es bestehen keine erschwerenden (den Komplexitätsgrad erhöhende)
Umstände, die zu einer anderen Beurteilung Anlass geben könnten. Vorab wurde im
Vorbescheid vom 24. Januar 2011 die angewendete Rechtsprechung in den
massgebenden Grundzügen (statt vieler Urteil 9C_266/2012 vom 29. August 2012 E.
4.2.1) wiedergegeben. Die beabsichtigte Abweisung des Leistungsbegehrens wurde
wie folgt begründet: "Insgesamt kann aufgrund der schlüssigen und
beweiskräftigen medizinischen Aktenlage davon ausgegangen werden, dass keine
invalidisierende psychische Komorbidität vorliegt. Zudem sind die weiteren zu
beachtenden Kriterien einer ausnahmsweisen Unzumutbarkeit der Überwindung des
Beschwerdebildes nicht gehäuft und in erheblicher Ausprägung vorhanden.
Gesamthaft ist damit ein invalidisierender Gesundheitsschaden zu verneinen."
Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers machte im Einwand gegen den
Vorbescheid geltend, die Diagnose einer depressiven Störung, gegenwärtig
leichte bis mittelgradige Episode, sei nicht schlüssig. Dabei wies er auf
abweichende fachärztliche Beurteilungen hin, u.a. im Bericht des Inselspitals
Bern vom 18. März 2010, wo die Diagnose einer rezidivierenden depressiven
Störung, gegenwärtig schwere Episode (ICD-10 F33.2) gestellt worden war. Dies
hätte indessen grundsätzlich auch der Versicherte selber tun können. Die mit
den Einwendungen gegen den Vorbescheid erreichte Vornahme zusätzlicher
Abklärungen durch die IV-Stelle ist in erster Linie ein (gewichtiges) Indiz für
die - grundsätzlich prospektiv aufgrund der Verhältnisse im Zeitpunkt des
Gesuchs zu beurteilende (BGE 128 I 225 E. 2.5.3 S. 236; 129 I 129 E. 2.3.1 S.
136) - Nichtaussichtslosigkeit der Intervention.

4.3 Nach dem Gesagten verletzt die vorinstanzlich bestätigte Verweigerung der
unentgeltlichen Rechtsverbeiständung für das (laufende) Vorbescheidverfahren
mangels sachlicher Gebotenheit einer anwaltlichen Vertretung kein Bundesrecht.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat grundsätzlich der Beschwerdeführer
die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren kann indessen
entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird jedoch
ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der Gerichtskasse
Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren
wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt Claude Wyssman
als Rechtsbeistand beigegeben.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Claude Wyssman wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. April 2013

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Kernen

Der Gerichtsschreiber: Fessler